58

KENNA

Ein Schrei reißt mich aus dem Schlaf – laut und lang anhaltend. Mikki!

Hastig befreie ich mich aus meinem Schlafsack, stürze aus dem Zelt und stoße geradewegs mit Sky zusammen. »Tut mir leid!«, stammle ich.

Sky hat eine Taschenlampe in der Hand; mit der anderen nestelt sie am Eingang von Mikkis Zelt herum. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass sie das Zelt nicht öffnet, sondern zuhält.

Mikki holt Luft und schreit erneut.

»Was machst du da?«, frage ich.

»Angsttherapie.« Sky hält ein Stück Schnur fest, das sie durch den Reißer des Zeltverschlusses gefädelt hat. Um ihren Hals hängt eine Stoppuhr. Hinter ihr in der Dunkelheit stehen Clemente und Victor. Jack ist vermutlich drinnen bei Mikki; Ryan muss noch in seinem Zelt sein.

Wieder ein langer Schrei. Ich bin noch ganz schlaftrunken und habe Mühe zu verstehen, was hier vor sich geht.

Dann kommt Jacks Stimme aus dem Innern des Zelts: »Atme! Du machst das gut.«

Drei spitze Schreie in Folge. Jetzt arbeitet mein Gehirn wieder. Es gibt nur eins, was Mikki zu solchen Schreien veranlassen kann: Motten. Hat Sky etwa Motten in ihrem Zelt freigelassen?

»Lass mich raus!« Mikki schlägt gegen den Zeltausgang.

»Sie hat genug«, sage ich.

Sky wirft einen Blick auf ihre Stoppuhr. »Noch nicht.«

Mikki schreit und schreit. Ich ziehe Sky am Arm. »Lass sie raus!«

Doch Sky rührt sich nicht vom Fleck. Ich versuche, sie dazu zu bringen, den Reißverschluss loszulassen. Im nächsten Moment schlingen sich Arme um meine Taille. Victor hebt mich hoch und trägt mich wild zappelnd auf die andere Seite der Lichtung. Kaum hat er mich abgestellt, versuche ich erneut, zu Mikkis Zelt zu gelangen, doch er versperrt mir den Weg.

»Ihr könnt doch nicht ernsthaft glauben, dass ihr das hilft!«, rufe ich.

»Sie sitzt auf mir!«, kreischt Mikki.

Ich appelliere an Clemente. »Sie ist außer sich vor Angst!«

Ich sehe ihm an, dass ihm die Situation nahegeht, dennoch macht er keine Anstalten, einzuschreiten.

Mikki hört gar nicht mehr auf zu schreien.

Ich halte es nicht länger aus. »Sie hat Todesangst. Jetzt hilf ihr doch!«

Endlich kommt Leben in Clemente. »Okay. Das reicht jetzt.«

Ich schlage einen Haken um Victor und stürze mich auf Sky. Clemente erreicht sie zur selben Zeit, und gemeinsam gelingt es uns, sie vom Zelteingang wegzuziehen; der Reißverschluss geht auf, und Mikki krabbelt panisch ins Freie.

Sie kratzt sich so heftig am Handgelenk, dass es blutet.

Als ich zu ihr eile, um sie zu trösten, rudert sie wie von Sinnen mit den Armen und trifft mich am Ohr. Bestürzt weiche ich zurück. Sie hat mich gekratzt. Clemente kommt mir zu Hilfe und hält ihre Hände fest. Ich ziehe sie an mich. »Alles ist gut.« Sie schluchzt an meiner Brust. Ihre Arme sind noch immer in Bewegung, als hätte sie keine Kontrolle mehr über ihre Gliedmaßen.

Jack kommt aus ihrem Zelt gekrochen.

Sofort fahre ich ihn an. »Was stimmt eigentlich nicht mit dir? Warum machst du bei so was mit?«

Jack schaut betreten. »Wir machen das jeden Monat. Mikki findet es hilfreich.«

Blut tropft von Mikkis Arm. Ihre Fingernägel haben das Tattoo fast weggekratzt.

»Gibt es hier Pflaster?«, frage ich.

»Ich hole eins.« Jack treibt irgendwo einen Erste-Hilfe-Kasten auf.

»Legt sie in mein Zelt«, befehle ich, nachdem er ihr ein Pflaster aufs Handgelenk geklebt hat.

Ich halte den Fliegenschutz auf, und Jack hilft Mikki hinein. Sie rollt sich in der Ecke zu einer kleinen Kugel zusammen.

»Hier drin sind keine Motten«, sage ich. »Siehst du? Leuchte mit der Taschenlampe.«

Clemente kommt herein und leuchtet mit einer Minitaschenlampe das Zelt aus, doch Mikki weint immer noch hemmungslos.

»Bleib bei ihr«, weise ich Jack an. »Ich hole eure Schlafsäcke.«

In Mikkis Zelt ist es zu dunkel, um zu sehen, ob die Motten noch da sind. Ich schüttle ihre Schlafsäcke aus und gebe sie Jack.

»Und wo schläfst du?«, fragt er.

»Bei euch.« Die Motte muss noch irgendwo in ihrem Zelt sein – nicht gerade ein angenehmer Gedanke, aber Motten zählen zu den wenigen Insekten, vor denen ich mich nicht fürchte – meines Wissens beißen und stechen sie nicht –, also werde ich schon irgendwie mit der Situation klarkommen.

Ich trage immer noch meine Shorts. Ich hatte zu viel Angst, dass der Reisepass verlorengehen könnte, deshalb habe ich sie nicht ausgezogen. Als ich den Schlafsack aus meinem Zelt hole, ins Freie krieche und hinter mir den Reißverschluss zumache, bohrt sich eine Ecke in meine Seite.

Dann stelle ich Sky zur Rede. »Sieh nur, was du mit ihr gemacht hast!«

Sky verschränkt die Arme vor der Brust. »Die Übungen, die wir machen – denkst du, wir trainieren bloß, um besser zu surfen? Nein. Wir trainieren, um furchtlos zu werden, weil uns das in allem besser macht, nicht nur im Surfen. Und wer will nicht besser sein?«

»Ich würde das nicht als besser bezeichnen, du etwa?«

In meinem Zelt ist es still, offenbar ist es Jack gelungen, Mikki zu beruhigen. Fake-Hochzeit hin oder her, es ist klar, dass er sie gernhat.

»Es ist deine freie Entscheidung, ob du hier sein willst oder nicht, Kenna. Wenn es dir nicht gefällt …« Sky deutet mit einer Kopfbewegung zu den Fahrzeugen. Aber genau das ist das Problem. Ich sitze hier fest, denn Mikki braucht mich mehr denn je.

»Angst ist Treibstoff«, sagt Sky. »Wir sollten sie jeden Tag spüren. Die Wellen hier sind meistens klein, deshalb müssen wir die Angst woanders suchen.«

»Mit anderen Worten: Du willst den Leuten Angst machen?«

Sky sieht mich kalt an. »Du mischst dich in etwas ein, was du nicht verstehst.«

Ich lasse ihre Worte im Kopf Revue passieren. Sie klingen irgendwie gestelzt. Zum ersten Mal geht mir auf, dass Englisch nicht ihre Muttersprache ist. »Du bist gar keine Australierin, stimmt’s?«

»Das habe ich auch nie behauptet.« Auf einmal klingt ihr Tonfall verhaltener. Sie fühlt sich ertappt.

Ich frage mich, warum es mir nicht schon früher aufgefallen ist: ihre ungewöhnliche Aussprache bei einigen Wörtern, der seltsame Klang mancher Vokale. Aber ich hatte wichtigere Dinge im Kopf. Mein Herz klopft schneller, während ich darüber nachdenke, was das bedeuten könnte.

Clemente und Victor stehen ein Stück entfernt und schauen zu. Ausnahmsweise ist Sky mir gegenüber in der Defensive. Ich ergreife die Gelegenheit beim Schopf, um ihr ein paar Antworten zu entlocken. »Wo kommst du her?«

Sie zuckt die Achseln. »Schweden.«

Mir ist aufgefallen, dass Skandinavier oft sehr gut Englisch sprechen. In der Praxis gegenüber arbeitet ein schwedischer Masseur, dessen Akzent man kaum wahrnimmt. »Hast du einen permanenten Aufenthaltsstatus?«

Sky hält meinen Blick fest, wie um mir zu sagen, dass sie nichts zu verbergen hat, doch mir fällt auf, dass sich ihre Augen ein klein wenig geweitet haben. »Ja, durch meine Arbeit.«

Jetzt wird mir klar, wie wenig ich über sie weiß. Komisch. Die anderen haben alle aus ihrem Leben und ihrer Vergangenheit erzählt, Sky jedoch hat das irgendwie immer vermieden. »Was machst du denn?«

»Ich bin klinische Psychologin.«

Alle Luft wird mir aus den Lungen gepresst. Kein Wunder, dass sie so gut in unsere Köpfe schauen kann. Ich hätte vermutet, dass sie irgendetwas mit Sport macht. Von Mikki weiß ich, dass es nicht leicht ist, in Australien eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Eine Möglichkeit ist durch Heirat, eine andere durch Arbeit. In Australien fehlen bestimmte Fachkräfte, und wenn der eigene Beruf gefragt ist, kann man sich um ein Visum bewerben, doch soweit ich es verstanden habe, ist das ein zeitaufwändiger und langwieriger Prozess.

»Hast du einen australischen Pass?« Ich weiß selbst nicht genau, weshalb ich das frage. Es ist ein Schuss ins Blaue, während ich blindlings nach etwas suche, womit ich sie attackieren kann.

Sie blinzelt. »Ja.« Ihr leichtes Zögern verrät sie.

»Wie lange bist du schon hier?«

»Zwei oder drei Jahre?« Wieder ein winziges Zögern. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Clemente und Victor sind still und angespannt. Was wissen sie, was ich nicht weiß?

Ich wende mich wieder an Sky. Was immer es ist, freiwillig wird sie es sicher nicht preisgeben.

»Es ist spät«, sagt sie. »Ich bin müde.« Mit diesen Worten geht sie zu ihrem Zelt.

Auf einmal fällt mir der Artikel über die vermissten Rucksacktouristen wieder ein. Eine von ihnen war Schwedin. Gut möglich, dass ich mich an Strohhalme klammere, aber ich möchte wetten, dass ich auf der richtigen Spur bin. »Du bist eine der vermissten Rucksacktouristinnen«, rufe ich ihr hinterher.

Langsam dreht sie sich um und wirft Clemente einen Blick zu. Der zuckt ausdruckslos mit den Schultern. Ich habe die Fotos nur kurz gesehen. Ryan in seinem schicken Anzug stach heraus, aber an die anderen erinnere ich mich nicht mehr. Trotzdem glaube ich, dass meine Vermutung stimmt.

»Ja.« In Skys Stimme schwingt ein Hauch von Trotz mit.

»Lass mich raten. Du bist im Urlaub hergekommen, und es gefiel dir so gut, dass du beschlossen hast zu bleiben.«

»Ich hatte ein Working-Holiday-Visum, ja.« Sie wendet sich ab und schlüpft in ihr Zelt.

Ich schaue ihr nach. Ist das die Lösung des Rätsels? Ist sie einfach nur zu lange im Land geblieben? Clementes schuldbewusste Miene suggeriert etwas anderes.

»Ich will mit dir reden«, sage ich zu ihm.

»Okay.« Er knipst seine Minitaschenlampe an und führt mich ein Stück weg von den Zelten.

Ich folge ihm, meinen Schlafsack wie einen Schal um den Hals gewickelt. »Ich will einfach Klarheit haben. Anfangs seid nur du und deine Frau, Jack und Victor hierhergekommen. Dann kam Sky dazu, fing an, euch zu trainieren, und hat den Deal mit der Parkaufsicht eingefädelt.«

»Genau.« Clementes Gesicht wird auf gespenstische Weise von unten beleuchtet.

»Wie hieß deine Frau?«, frage ich, weil mir klar wird, dass ich ihn nie danach gefragt habe.

Er sieht mich verunsichert an, und etwas Schicksalergebenes tritt in seine Miene. »Sky.«

Schon wieder bleibt mir die Luft weg. Clemente wappnet sich für die Fragen, von denen er weiß, dass sie gleich kommen werden.

»Das ist kein sehr gängiger Name«, sage ich.

»Ja.«

»Was ist mit ihr passiert?«

Clemente wendet den Blick ab. »Ich will nicht darüber reden.«

»Nein. Du kannst jetzt nicht schon wieder schweigen. Ich muss es wissen.«

»Du willst es gar nicht wissen. Glaub mir, das willst du wirklich nicht.«

Ich ziehe den Schlafsack fester um mich. »Sky heißt nicht wirklich Sky, stimmt’s?«

Clemente schürzt die Lippen.

Ich habe Mühe, das alles zu begreifen. »Lass mich raten. Sie hat nach dem Tod deiner Frau deren Identität angenommen, um in Australien bleiben zu können?«

Clemente seufzt. »Ja.«

Meine Haut kribbelt. »Wie heißt sie wirklich?«

»Greta.«

Greta. Irgendwie passt das zu ihr. »Und wieso nennt ihr sie Sky?«

»Sie hat darum gebeten«, sagt Clemente. »Damit es zur Gewohnheit wird, weißt du? Ansonsten nennen wir sie vielleicht aus Versehen vor anderen Greta, und dann fliegt alles auf.«

»Wie viel Zeit lag zwischen Gretas Ankunft hier und dem Tod deiner Frau?«

»Ein paar Monate.«

Ich sehe ihn vielsagend an. Victor meinte, die besten Trainer wüssten genau, wie es im Kopf ihrer Schützlinge aussieht. Hat Greta eine einmalige Gelegenheit gesehen und Clementes Frau manipuliert, bis diese sich schließlich umgebracht hat?

»Nein«, sagt Clemente, als hätte er meine Gedanken erraten. »Sie waren Freunde.«

Er scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Aber trotzdem ist sie durch den Tod seiner Frau an einen australischen Pass gekommen. Ein durchaus plausibles Motiv.

»Warum hast du ihr erlaubt, die Identität deiner Frau anzunehmen?«, frage ich.

»Ich habe überlegt, was meine Frau dazu gesagt hätte. Sie hätte es so gewollt.« Clementes Stimme bricht. »Es war das einzig Gute, das aus der Sache erwachsen ist – dass ihre Freundin in dem Land bleiben konnte, das sie so liebt.«

»Du denkst nicht, dass Greta … deiner Frau vielleicht etwas angetan haben könnte, um an ihre Identität zu gelangen?«

Clementes Antwort kommt ohne Zögern. »Nein.«

Ich taste in meiner Tasche nach dem Reisepass. »Was ist mit Elke? Glaubst du, Greta hat ihr was angetan?«

Er seufzt. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Ich betrachte forschend sein Gesicht, und mich beschleicht das Gefühl, dass er mir etwas verheimlicht.