KENNA
Als ich am Morgen aus Mikkis Zelt krieche, habe ich das Gefühl, kaum geschlafen zu haben. Elkes Reisepass steckt immer noch in meiner Tasche.
Eine Hand fasst mich an der Schulter, und ich quieke vor Schreck.
»Morgen, Kenna!« Es ist Victor. Für einen so großen Mann ist er unglaublich leichtfüßig. Ich habe ihn nicht kommen hören.
»Geht es dir gut?« In seinen dunklen Augen spiegelt sich Besorgnis.
»Ja, ich bin bloß müde.«
Die anderen sitzen beim Frühstück. Ryan und Mikki sind noch nicht aufgestanden. Hastig mache ich mir ein Müsli.
»Kenna ist ganz schön nervös heute Morgen«, verkündet Victor, als ich mich hinsetze.
»Warum bist du nervös, Kenna?«, fragt Sky in mitfühlendem Ton.
»Die Wellen«, lüge ich, als mir der bevorstehende Zyklon einfällt. »Die werden bestimmt riesig.«
»Wir müssen sie surfen«, sagt sie. »Dann hast du Gelegenheit, an deinen Ängsten zu arbeiten.«
Ich zwinge mich zu einem Nicken. Egal, was Clemente glaubt, ich werde den Verdacht nicht los, dass sie etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun hat – und möglicherweise auch mit dem von Elke. Sie gestern Nacht herauszufordern, war gefährlich. In Zukunft muss ich vorsichtiger sein.
Victor, laut und fröhlich wie immer, trommelt beim Essen einen Rhythmus auf seine Schenkel. Die Teile seines zerbrochenen Surfbretts sind wie von Zauberhand verschwunden; einer der anderen muss sie weggeräumt haben. Ich beobachte ihn auf Anzeichen dafür, dass er sich an seinen gestrigen Ausbruch erinnert: Scham, Unbeholfenheit, oder dass er sich nach seinem Board umsieht. Doch er lässt sich nichts anmerken. Es ist, als wäre nie etwas vorgefallen.
Mikki taucht aus meinem Zelt auf, und ich eile sofort zu ihr. »Wie geht es dir?«
»Mir geht es gut. Hör mal, ich weiß es zu schätzen, dass du gestern Nacht helfen wolltest, aber ich möchte meine Phobie loswerden.«
»Aber so weit willst du dafür doch sicher nicht gehen?«
»Es funktioniert.« Sie klingt schnippisch. »Bald bin ich geheilt.«
»Wieso ist es überhaupt wichtig, ob du Angst vor Motten hast? Ich hasse auch fast alle Insekten. Ich versuche einfach, ihnen nicht zu nahe zu kommen.«
»Es geht nicht nur um die Motten. Wenn man seine Angst überwindet – egal, welche –, macht einen das stärker.« Jetzt plappert sie Sky nach. »Und ich bin wirklich stärker geworden, ist dir das nicht aufgefallen? Früher hatte ich schreckliche Angst davor, große Wellen zu surfen. Jetzt nicht mehr.«
Ich senke die Stimme zu einem Flüstern. »Sky ist nicht die, als die sie sich ausgibt.«
Mikki runzelt die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Sie ist eine Psychologin aus Schweden und illegal hier.«
»Das weiß ich«, faucht sie. »Lass es doch endlich mal gut sein!«
Hilflos sehe ich zu, wie sie losgeht, um sich ihr Frühstück zu holen. Ich hatte keine Gelegenheit, ihr von Elkes Reisepass zu erzählen. Ryan ist immer noch nicht aufgetaucht.
»Hat irgendwer Ryan gesehen?«, frage ich in die Runde.
Niemand.
Ich habe noch nie erlebt, dass er so lange schläft. Vorsichtig gehe ich zu seinem Zelt. »Klopf, klopf!«
Keine Reaktion. Ich spähe hinein und sehe einen gepackten Rucksack mit aufgeschnalltem Schlafsack, aber von Ryan selbst keine Spur.
Etwas fasst mich am Bein, und ich unterdrücke einen Aufschrei. Als ich mich umdrehe, ist es Sky.
»Was machst du?«, fragt sie.
»Ich suche Ryan.«
»Der ist irgendwo im Wald unterwegs und macht, was er halt immer so macht. An deiner Stelle würde ich da übrigens nicht reingehen. Er ist ziemlich eigen mit seinen Sachen.«
Elkes Pass brennt ein Loch in meine Tasche. Vielleicht ist es gut, dass Ryan nicht hier ist. Ich bin mir sicher, dass Clemente nichts weiß – er hätte ihm sicher niemals erlaubt, den Pass zu behalten. Ich frage mich, wie sie reagieren würden, wenn ich ihnen den Pass zeige.
Ich folge Sky zurück zu den anderen. In der Hoffnung, das Richtige zu tun, ziehe ich ihn aus der Tasche. »Ich habe das hier gefunden.«
»Was ist das?«, fragt Clemente.
Seiner Miene nach weiß er wirklich nicht, worum es sich handelt. Die anderen sehen mich ähnlich verständnislos an.
Ich blättere die Seiten um. In meiner Eile kann ich das Foto zunächst nicht finden. Ganz ruhig, Kenna. Da ist es.
Clemente hat einen Teller Nüsse auf dem Schoß. Er rutscht ihm auf die Erde, und die Nüsse fliegen in alle Richtungen, als er nach dem Pass greift. Er starrt das Foto an, dann inspiziert er die übrigen Seiten, ehe er verdattert aufblickt. Die anderen treten näher und reichen den Reisepass herum. Was als Nächstes geschieht, ist wahrhaft beängstigend. Sie sehen einander an, Mikki eingeschlossen, und rücken unwillkürlich dichter zusammen, bis sie wieder in einem engen Grüppchen versammelt sind, so wie bei meiner Ankunft. Zum Schutz gegen den gemeinsamen Feind: mich.
Wussten alle davon? Sogar Mikki?
»Wo hast du den gefunden?«, fragt Clemente.
»Gestern bin ich Ryan gefolgt. Er hat ein Versteck bei den Klippen.« Ich achte darauf, nicht im Detail zu sagen, wo sich dieses Versteck befindet. »Da bewahrt er seinen eigenen Pass und sein Geld auf. Und das hier.«
Schweigen breitet sich aus. Die Handtücher, die auf den Leinen flattern, klingen wie Kriegstrommeln.
Wie zu erwarten war, macht Sky sich sogleich zur Sprecherin aller. »Es war von Anfang an seltsam«, sagt sie langsam. »Elke ist mitten in der Nacht verschwunden. Wir dachten, sie wäre schwimmen gegangen, von der Klippe gestürzt oder in den Fluss gefallen. So was Ähnliches.«
»Aha«, sage ich betont beiläufig. Ob ich ihr das nun glaube oder nicht, ich bin in der Unterzahl, deshalb muss ich so tun, als ob.
»Es gab ein Unwetter«, fährt Sky fort. »Clemente wollte einen Suchtrupp alarmieren, aber die Straße war überflutet, deshalb konnten wir keine Hilfe holen. Dann haben wir gemerkt, dass ihr kleines Daypack weg ist. Ihr großer Rucksack und ihr Brett waren noch da, so als hätte sie sich in aller Eile aus dem Staub gemacht.«
Elke wäre doch niemals ohne ihren Reisepass gegangen.
»Dann habt ihr es also nicht gemeldet, nachdem das Wasser zurückgegangen war?«
Clemente und Sky wechseln einen Blick.
»Einen Tag später wurde sie angespült«, sagt Clemente.
Sky presst die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Offenbar passt es ihr nicht, dass er dies gesagt hat.
»Tot?«, frage ich.
»Ja.« Clementes Stimme klingt gepresst.
Ich mustere ihn forschend. Ist das nun endlich die Wahrheit?
»Sie hatte Wunden von Haibissen am Körper«, sagt Mikki.
Ich starre sie an. Sie hat davon gewusst und mir nichts gesagt?
Dann ist Elke also tot. Beschämt stelle ich fest, dass mir Tränen in die Augen steigen. Keine Ahnung, warum ich mich so niedergeschlagen fühle, ich kannte sie ja gar nicht.
»Wir wissen nicht genau, ob der Hai sie erwischt hat, bevor sie ertrunken ist oder danach«, sagt Sky.
Ich schlucke schwer. »Und dann?«
»Todesfälle durch Haiangriffe sind internationale Nachrichten, Kenna.« Skys Ton ist ruhig und vernünftig. »Wenn wir das gemeldet hätten, wären die Polizei und alle Nachrichtensender hergekommen. Sorrow Bay wäre bekannt geworden. Jeder Surfer in Australien hätte darüber geredet.«
Clemente fleht mich mit Blicken an, ihr Handeln zu verstehen. »Ich wollte es melden. Aber wozu? Das hätte sie auch nicht wieder lebendig gemacht.«
»Wo ist ihre Leiche?«, will ich wissen.
Abermals ein Blickwechsel zwischen Sky und Clemente.
»Wir haben sie dem Meer überlassen.« Er lässt den Kopf hängen und bohrt sich die Fäuste in die Augen. Seine Trauer wirkt sehr überzeugend. Ich stelle mir vor, wie Elkes halb zerfleischte Leiche auf den Meeresgrund sinkt und nie gefunden wird – und ihre Mutter für immer vergeblich nach ihr sucht.
»Und ihr Daypack ist nicht wieder aufgetaucht?«, frage ich.
»Nein«, sagt Clemente.
»Was habt ihr mit ihren restlichen Sachen gemacht?«
»Wir haben darüber diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es nicht gut aussähe, wenn jemand sie hier finden würde. Die Leute könnten denken, wir hätten sie ausgeraubt. Also haben wir ihren großen Rucksack zwischen den Bäumen vergraben. Das Surfbrett haben wir behalten.« Er deutet auf ein Brett in der Nähe und verzieht das Gesicht, als hinterließe der Anblick einen unangenehmen Geschmack in seinem Mund.
»Und wieso hatte Ryan dann ihren Pass?«, hake ich nach.
Darauf scheint keiner eine Antwort zu wissen.
»Ich schätze, sie hat ihn fallen lassen, und er hat ihn gefunden«, sagt Sky schließlich.
»Aber warum hat er es niemandem gesagt? Das ist doch komisch, oder nicht?«
»Die Bucht ist ein gefährlicher Ort«, sagt Sky. »Unfälle passieren.«
Die anderen nicken traurig. Dann tritt ein unbeholfenes Schweigen ein. Jack wechselt das Thema und kommt auf den bevorstehenden Zyklon zu sprechen. Victor reißt ein paar Witze, aber er ist der Einzige, der sie lustig findet, und selbst sein Lachen klingt hohl.
Als die Gruppe sich schließlich zerstreut, nehme ich Kurs auf Mikki. »Ich kann nicht glauben, dass du mir das mit Elke verheimlicht hast.«
»Sorry.« Mikki macht ein zerknirschtes Gesicht. »Ich wollte es sagen, aber wir hatten einen Pakt.«
Mein Blick wandert zu Ryans Zelt, und ich wundere mich über seine gepackten Taschen. Wusste er, dass Elkes Pass aus der Büchse verschwunden ist? Hat ihn das dazu getrieben, sich zu verstecken? »Kommst du mit? Ich will nachschauen, ob seine Gelddose noch da ist.«
»Klar.« Mikki zieht ihre Flipflops an.
Der Pfad ist dunkel. Ich reiße einen Zweig von einem Baum ab und betaste prüfend das spitze Ende. Besser als nichts.
Mikki sieht mich verständnislos an.
»Gegen die Schlangen«, erkläre ich.
Ich bin dankbar für Mikkis Gesellschaft. Die Bäume und Sträucher verwirren meine Augen. Ich sehe Dinge, die gar nicht da sind, und erschrecke über jedes Knacken und jede Bewegung der Äste. Etwas bricht auf der Flucht vor uns durchs Unterholz. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, doch schon nach kurzer Zeit ist nichts mehr zu hören.
»Nur ein Tier«, sagt Mikki.
Ich habe das Gefühl, Ryan könnte jeden Moment aus dem Gebüsch springen. Wir erreichen die Klippen und sehen in der kleinen Höhlung nach. Die Büchse ist nicht mehr da, und ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.
Dann kommt mir eine Idee. »In meiner Beitrittszeremonie hat Sky gesagt, dass niemand die Bucht verlässt. Ryan hat mir verraten, dass er von hier wegwill.«
In Mikkis Augen spiegelt sich Erstaunen. »Wirklich?«
»Ja. Er hatte es satt hier und hat seine Familie vermisst. Seine Taschen sind gepackt. Was, wenn jemand es gesehen und ihm etwas angetan hat?«
Mikki starrt mich entgeistert an. »Nein. So weit würden sie niemals gehen.«
»Jack hat doch ein paar Mädchen hergebracht, bevor er dich kennengelernt hat, richtig? Weißt du, ob sie der Sippe beigetreten sind?«
»Nein, ich glaube, sie waren immer nur für ein paar Tage hier.«
»Soweit wir wissen, hat also kein vollwertiges Mitglied diesen Ort je verlassen. Jedenfalls nicht lebendig.« In meinem Kopf ist Ryan innerhalb weniger Sekunden vom Täter zum möglichen Opfer geworden. Je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher kommt es mir vor.
Mikki runzelt die Stirn. »Ryan verschwindet andauernd.«
Ich nehme sie am Arm. »Bitte, Mikki. Wir müssen hier weg, sonst sind wir vielleicht die Nächsten.«
Sie entzieht sich meinem Griff. »Langsam reicht es mir aber. Andauernd willst du, dass ich von hier weggehe. Das hier ist jetzt mein Leben und deins auch. Elkes Tod ist traurig, aber es war ein Unfall. Diese Leute sind meine Freunde. Ich vertraue ihnen.«