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KENNA

Eine Welle umspült Ryans Knöchel. Als sie zurückweicht, sehe ich zum ersten Mal richtig seine Beine. Sie sind angeschwollen und voller Blutergüsse, die Füße unnatürlich abgeknickt.

»Ryan!«

Keine Reaktion, also schlage ich ihm mit der flachen Hand leicht gegen die Wange. Sie ist feucht und eiskalt. Ich fasse ihn an der Schulter und schüttle ihn sanft. Sein Körper sinkt schlaff in den Sand zurück. Einen Moment lang ist die Person vor mir nicht Ryan, sondern Kasim. Ein Schwindelgefühl überkommt mich. Ich taumle nach vorn, stütze mich mit einer Hand im Sand ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und kneife die Augen zu. Als ich sie öffne, ist es wieder Ryan. Reiß dich zusammen, Kenna! Ich blicke in beide Richtungen den Strand hinunter, kann sein Surfbrett jedoch nirgendwo entdecken. Vielleicht ist seine Boardleash gerissen, und sein Brett ist aufs offene Meer getrieben. Schwimmen kann er bei diesen Witterungsbedingungen doch wohl kaum gewesen sein? So oder so, dem Zustand seiner Beine nach ist er gegen die Felsen geschleudert worden. Ich will ihn lieber nicht bewegen für den Fall, dass er sich an der Wirbelsäule verletzt hat, aber die nächste Welle reicht ihm bereits bis zur Taille, also packe ich ihn unter den Achseln und schleife ihn den Sand hinauf bis zur Flutlinie, wo ich mit den Wiederbelebungsmaßnahmen beginne. Ich drücke rhythmisch gegen seinen Brustkorb und atme in seinen kalten Mund.

Das Unwetter wird heftiger. Der Donner kommt in verschiedenen Variationen. Manchmal klingt er wie ein abhebender Jumbojet, der über meinen Kopf hinwegfliegt und ein lang gezogenes Echo hinterlässt. Dann wieder klingt er wie ein schrecklicher Unfall auf einer Baustelle, wenn etwas – oder jemand – aus großer Höhe in die Tiefe kracht. Manchmal ist er ein ohrenbetäubender Schlag, begleitet von einem riesigen gezackten Blitz, der den Himmel zerreißt, als wollte er die ganze Welt spalten.

Ich höre das zornige Prasseln des Regens auf den Sand, ehe ich ihn spüre. Im nächsten Moment geht er auf meinen Kopf nieder. Inzwischen donnert es fast ununterbrochen, und Blitze zucken mehrmals pro Sekunde wie Stroboskoplichter über den Himmel.

Die Minuten vergehen. Atme, Ryan! Doch er reagiert nicht.

Mühsam richte ich mich auf.

Von eisigem Wasser durchnässt, renne ich zurück zur Lichtung. Tränen laufen mir über das Gesicht und vermischen sich mit dem Regen. Immer schneller und schneller renne ich den Pfad entlang. Meine nackten Füße rutschen im Schlamm. Als ich um die Kurve biege, stoße ich mit jemandem zusammen, der mir entgegenkommt. Clemente.

»Er ist tot!«, stoße ich atemlos hervor. »Ryan.«

Clemente überwindet seinen anfänglichen Schrecken schnell. »Zeig mir, wo.«

Wir laufen über den Pfad zurück zum Strand, bis wir bei seiner Leiche ankommen. Ich stehe da, während Clemente ihn untersucht.

»Ich habe es versucht«, keuche ich. Dann fange ich an zu weinen.

Clemente nimmt mich in die Arme. Ich schluchze an seiner Schulter, und meine Knie drohen, unter mir nachzugeben. Ich weine um Ryans Frau und seine Tochter. Und um mich selbst.

Jetzt habe ich wirklich Angst.

***

»Tot?«, sagt Sky.

»Bist du sicher?«, fragt Victor.

Zurück am Strand reißt der Wind an unseren Haaren und Kleidern, während wir um Ryans Leichnam herumstehen.

Jack runzelt die Stirn. »War er surfen?«

»Sieht so aus«, sage ich. »Oder schwimmen.«

Jack deutet zum Meer, wo der Wind die Wasseroberfläche in lauter spitze Wellenberge verwandelt hat, die aussehen wie geschlagenes Eiweiß. »Wieso sollte er bei dem Wetter surfen gehen? Gestern war es auch schon beschissen.«

Ryan war oft ganz früh am Morgen vor allen anderen im Wasser, und in Anbetracht der Spannungen der letzten Tage ist es kaum verwunderlich, dass er lieber allein sein wollte. Aber Jack hat recht, heute Morgen taugen die Wellen nicht zum Surfen.

Nun, da der erste Schock allmählich abklingt, meldet sich der rationale Teil meines Gehirns zurück. Schon wieder ein Tod, der auf den ersten Blick nach einem tragischen Unfall aussieht. Ryan hat in einer riesigen Welle einen Abgang gemacht, und seine Leash hat sich gelöst – bei einer Brandung von dieser Heftigkeit ist das durchaus möglich, vor allem wenn der Klettverschluss schon alt war. Er ist ertrunken und wurde danach wieder an Land gespült. Sein Surfbrett könnte meilenweit abgetrieben sein. Oder vielleicht ist er auch schwimmen gegangen und wurde gegen die Felsen geschleudert.

Aber Ryan wollte die Bucht verlassen. Mit ihm steigt die Zahl der Toten auf drei. Ein Selbstmord, ein Haiangriff und ein Tod durch Ertrinken. Tragödien, die in keinem Zusammenhang zueinander stehen? Oder etwas anderes? Ich blicke nach unten in Ryans Gesicht, als könnten seine bleichen Lippen mir Antwort geben.

»Wir bringen ihn zur Wiese«, sagt Sky.

»Ich hole Spaten«, sagt Victor und eilt im Laufschritt davon.

Spaten? Entsetzt sehe ich Sky an. »Ihr wollt ihn begraben?«

Skys Ton ist sanft, aber fest. »Was sollen wir denn sonst machen?«

»Einen Krankenwagen rufen«, sage ich. Hilfe suchend wende ich mich an Clemente. Vielleicht ist er wenigstens vernünftig.

»Dafür ist es zu spät«, sagt er sanft.

»Oder die Polizei …« Noch während ich dies sage, erkenne ich das Dilemma. Ryan war illegal hier, und sobald die Polizei das herausfindet, werden sie auch die anderen überprüfen. Vor allem Sky darf das nicht riskieren – wobei ihr fehlendes Visum noch das geringste Problem ist, falls einer aus der Sippe Ryan getötet hat, wovon ich ausgehe. Aber selbst wenn sein Tod als Unfall eingestuft werden sollte, wird Sorrow Bay in den Nachrichten landen, und das ist das Letzte, was sie wollen.

Wir stehen im Regen, und ich studiere ihre Mienen. Ist einer von ihnen ein Mörder? Skys Blick trifft meinen, als hätte sie meine Gedanken erraten. Hat sie gesehen, wie Ryan seine Sachen gepackt hat?

Der Regen wird stärker. Ich habe noch nie so heftigen Niederschlag erlebt. Der Strand ist wie leergefegt. Alle Möwen haben Schutz gesucht.

Als Victor zurückkommt, nehmen er, Clemente, Jack und Sky jeweils einen Arm oder ein Bein von Ryan und tragen ihn über den Strand. Mikki und ich folgen mit den Spaten. Als wir den Wald erreichen, spült eine Welle hoch an den Strand und löscht unsere Fußabdrücke aus. Jetzt ist der nasse Sand so glatt und makellos, als wären wir nie hier gewesen.

Der Pfad ist matschig. Victor fängt an zu pfeifen, und die anderen stimmen mit ein. Sweet Jane . Anfangs denke ich, wir sind auf dem Weg zum Fluss, doch dann biegen wir auf einen anderen Pfad ein. Der Regen rauscht auf die Blätter.

Sky rutscht im Schlamm aus. Jack lässt Ryans Knöchel los, um ihr aufzuhelfen, aber Victor reißt ihn am Arm zurück und tut es selbst. Jack reibt sich den Arm, ehe sie Ryan wieder aufheben und weitergehen.

Ein vertrauter Baumstamm mit zerfurchter Rinde erregt meine Aufmerksamkeit, und bald darauf sehe ich den Baum mit den orangefarbenen Früchten, auf den Ryan geklettert ist. Wir gelangen auf eine winzige Lichtung, wo wir den Leichnam ablegen. Ungefähr hier muss ich ihm zum ersten Mal begegnet sein.

»Was für einen Baum soll er bekommen?«, fragt Jack.

»Limette?«, schlägt Victor vor.

»Oder Pfirsich?«, sagt Mikki. »Er mochte Pfirsiche so gern.«

Verwundert höre ich zu. Dann fällt mir der Baum hinter ihr auf: purpurne Äpfel wie die, die wir kürzlich gegessen haben. Sorrow-Frucht. Mein Magen krampft sich zusammen, als der Groschen fällt. Auf Sky , haben sie gesagt, als sie mit den Äpfeln einen Toast ausbrachten. Ich dachte, sie meinten Sky – beziehungsweise Greta –, weil sie ihre Anführerin war, dabei ging es in Wirklichkeit um die echte Sky. Das dort ist ihr Baum. Sie haben ihn auf ihrem Grab gepflanzt, damit der verwesende Leichnam die Früchte düngt. Früchte, die ich gegessen habe. Ich muss würgen, doch es gelingt mir, es als Husten zu kaschieren.

Clemente scheint zu ahnen, was in mir vorgeht, denn er macht ein schuldbewusstes Gesicht.

Der Regen trommelt über uns auf das Blätterdach. Ein nasser, niedergeschlagen aussehender Kookaburra beobachtet uns von seinem Ast, während die anderen das Grab ausheben. Sie wechseln sich mit den Spaten ab und gehen so routiniert zu Werke, dass es mich kalt überläuft. Wie viele Male haben sie das schon getan? Neben dem Apfelbaum steht ein weiterer Baum, der wie ein Pflaumenbaum aussieht. O nein. Ich glaube, Elke liegt auch hier begraben.

Warum ist Ryan hergekommen und hat sich auf ihre Gräber gelegt? War das seine Art zu trauern? Oder hat er sich an ihrem Tod geweidet?

Mit trockenen Augen und viel zu gefasst fängt Mikki an, Sweet Jane zu singen. Sie wiegt sich mit geschlossenen Augen hin und her, und ihre klare, hohe Stimme übertönt das Geräusch der Schaufeln. Ich erkenne sie nicht mehr wieder. Als sie selbst an der Reihe ist zu graben, singt sie weiter. Entsetzt starre ich sie an. Ich muss der Wahrheit ins Auge blicken: Sie ist so tief in diese Gruppendynamik verstrickt, dass man ihr nicht mehr helfen kann. Ich muss mich selbst retten, sonst riskiere ich, irgendwann auch hier an dieser einsamen Stelle begraben zu werden. Ich werde eins der Autos nehmen und mich aus dem Staub machen.

Sobald das Loch ausgehoben ist, legen sie Ryan hinein. Blitze zucken über den Himmel und erhellen ihre Gesichter. Sechs trauernde Freunde, die sich um ein Grab versammelt haben. Nur dass kein Einziger von ihnen Tränen in den Augen hat.

Victor tritt vor. »Wir sind nicht immer gut miteinander ausgekommen, aber wir hatten schöne Zeiten zusammen. Ich hoffe, du findest da oben ein paar brauchbare Wellen, Bruder.«

Jack ist der Nächste. »Ryan, du warst ein anständiger Kerl. Tut mir leid, dass ich dich beim Surfen so oft geschnitten habe.« Seine Stimme zittert.

Wieder fällt mir auf, dass er von allen am meisten Gefühle zeigt. Ich möchte Mikki wirklich nicht hier zurücklassen, aber wenigstens hat sie Jack, der sich um sie kümmert. Er ist alles andere als perfekt, aber ich glaube, er wird sie beschützen.

Den Mienen der anderen nach zu urteilen, werden sie noch eine ganze Zeit lang hier beschäftigt sein, also tue ich so, als müsste ich schluchzen. Die anderen sehen mich missbilligend an. Es fällt mir nicht schwer, auf die Tränendrüse zu drücken. Meine Trauer ist echt. Ein intelligenter Mann, der kalt und still an diesem einsamen Ort in einem anonymen Grab liegt. Ich weine auch um Ryans Frau und vor allem um seine Tochter, die ohne ihn aufwachsen muss und nie erfahren wird, wie sehr er sie geliebt hat oder was aus ihm geworden ist.

Ich senke den Kopf, presse die Hand vor den Mund und ziehe mich zwischen die Bäume zurück. Sobald ich außer Sichtweite bin, renne ich los. Ich rechne damit, dass jemand mir hinterherruft, aber sie sind zu sehr mit ihrer Zeremonie beschäftigt. Dies ist vielleicht meine einzige Chance zur Flucht. Vom Regen ist mein Körper kalt bis auf die Knochen, und meine Knie versagen mir mehrmals den Dienst. Als ich die Lichtung erreiche, werfe ich einen Blick über die Schulter. Nichts. Also hechte ich in Jacks Zelt. Wo bewahrt er seine Autoschlüssel auf? In einer Ecke liegt sein schwarzer Quiksilver-Rucksack. Er hat unzählige Taschen. Ich schaue in jeder einzelnen nach. In der fünften finde ich den Schlüssel.

Auf dem Pfad steht das Wasser stellenweise knöcheltief. Ich platsche durch die Pfützen, den Schlüssel fest in der Faust, damit er nicht nass wird. Ich kann es nicht erwarten, von hier wegzukommen.

Auf halbem Weg fällt mir ein, dass Jack gesagt hat, sein Reifen wäre kaputt. Ich fluche halblaut, aber mir bleibt keine Zeit, noch einmal zurückzulaufen und nach einem Schlüssel zu einem der anderen Fahrzeuge zu suchen. Ich muss einfach hoffen, dass der Reifen durchhält, bis ich zum Highway komme.

Verdammt! Warum habe ich mein Handy nicht mitgenommen? Ich hätte es in Jacks Auto aufladen und Hilfe rufen können, sobald ich wieder Netz habe. Zu spät. Wenn ich es bis zu der Tankstelle schaffe, an der wir auf der Hinfahrt angehalten haben, kann ich dort Hilfe holen.

Außer Atem erreiche ich die Autos und drücke hektisch auf den Türöffner. Jacks Fahrertür entriegelt mit einem Klicken, und ich springe hinters Steuer. Als ich mich hinsetze, geben meine Shorts ein schmatzendes Geräusch von sich. Der Wagen hat ein Automatikgetriebe. Ich bin seit Jahren nicht mehr Automatik gefahren, und mein panisches Gehirn braucht einen Moment, bis es sich daran erinnert, was zu tun ist. D für Drive. Nein – R für Reverse.

Der Wagen holpert, als ich zurücksetze. Das Wasser läuft über die Windschutzscheibe, und ich brauche mehrere Anläufe, bis ich den Schalter für die Scheibenwischer gefunden habe. Gut, dass das Auto Allradantrieb hat. Der Weg ist voller Schlamm, in den Schlaglöchern steht das Wasser. Als ich langsam um die Kurve fahre, werfe ich einen Blick hinter mich, um zu sehen, ob mir jemand gefolgt ist, doch die Heckscheibe ist so stark beschlagen, dass ich nichts erkennen kann. Mit heulendem Motor fahre ich eine Steigung hinauf. Auf dem Weg nach unten geraten die Reifen ins Rutschen. Die Senke mit dem Wasser darin. Auf dem Weg hierher war es nur wenige Meter breit, aber jetzt erstreckt es sich viel weiter. Mein Fuß zögert auf dem Gaspedal. Soll ich einfach durchfahren? Ich erwäge es, aber dann stelle ich mir vor, wie ich stecken bleibe und im Auto bis zum Fluss geschwemmt werde.

Bei laufendem Motor steige ich aus, um zu prüfen, wie tief das Wasser ist. Es ist kalt und schlammig. Erst reicht es mir bis zu den Knöcheln, dann bis zu den Knien. Schon jetzt spüre ich, wie die Strömung an mir zieht. Noch zwei Schritte, und es reicht mir bis zu den Oberschenkeln. Ich kann unmöglich weiterfahren.

Ich hole tief Luft. Ich muss einen zweiten Versuch unternehmen, sobald der Regen etwas nachgelassen hat. Sind die anderen schon von der Wiese zurückgekehrt? Wenn ich mich beeile, kann ich vielleicht noch vor ihnen bei den Zelten sein. Ich wate zurück zum Wagen und steige wieder ein. Der Pfad ist schmal, deshalb muss ich wenden. Die Reifen verlieren immer wieder die Bodenhaftung, die Scheibenwischer arbeiten auf Hochtouren. Ich benötige ein Dutzend vorsichtiger Lenkmanöver, bis ich endlich gewendet habe. Als ich den Parkplatz erreicht habe, bleibt der linke Vorderreifen in einem Schlagloch hängen, und das Auto bewegt sich nicht mehr von der Stelle. Ich finde den Rückwärtsgang und gebe Vollgas. Das Auto macht einen Satz nach hinten. Dabei springt die Klappe des Handschuhfachs auf, und ich sehe einen Stapel Geldscheine darin.

Sofort frage ich mich, ob das Ryans Geld ist. Nein, wahrscheinlich bewahren Jack und Mikki ihr Geld im Auto auf, weil es sicherer ist als im Zelt. Ich lehne mich nach links, um zu sehen, wie viel es ist, und mein Blick fällt auf ein Portemonnaie aus pinkfarbenem Leder. Ich schalte den Motor aus und greife danach. Es könnte ein Ersatzportemonnaie von Mikki sein, doch aus unerfindlichen Gründen weiß ich, dass es das nicht ist. Es passt nicht zu ihrem Stil.

Mit zitternden Händen reiße ich den Klettverschluss auf. Im Innern finde ich ein halbes Dutzend Karten, aber bis auf ein paar Dollar kein Bargeld. Ich ziehe die Karten heraus. Auf einer ist das Foto einer mir bekannten hübschen rothaarigen Frau zu sehen. Tanith O’Brien.