62

KENNA

Ein Geräusch draußen lässt mich zusammenzucken. Jemand steht am beschlagenen Beifahrerfenster. Gerade noch rechtzeitig schließe ich das Handschuhfach.

Die Tür wird aufgerissen, und Victor lehnt sich ins Wageninnere. »Was machst du da?«

Regen peitscht mir ins Gesicht. Ich habe zwei Sekunden, um mir eine Antwort zurechtzulegen. »Meine Periode hat eingesetzt. Ich wollte die Zeremonie nicht stören. Mikki hat immer Tampons im Auto.«

Das entspricht sogar der Wahrheit. Einmal vor Jahren bekam sie ganz unerwartet ihre Periode. Sie trug einen weißen Bikini, und wir waren meilenweit vom nächsten Laden entfernt. Seitdem hatte sie furchtbare Angst, ihr könnte so was noch mal passieren, und deponierte überall Tampons für den Notfall – in ihrem Auto, in meinem Auto und an allen möglichen anderen Stellen.

Victor runzelt die Stirn. »Warum hast du hinterm Steuer gesessen?«

»Der Schlamm. Es sah so aus, als würde es einsinken, deshalb habe ich ein Stück zurückgesetzt.« Keine Ahnung, ob er mir glaubt oder nicht. »Kannst du mal nachschauen, ob hinten Tampons sind?«

Wortlos wirft er die Tür zu und geht um den Wagen herum. Während er hinten herumkramt, öffne ich erneut das Handschuhfach. Ich weiß nicht, ob er über das gestohlene Portemonnaie Bescheid weiß, und selbst wenn, will ich nicht, dass er weiß, dass ich es weiß. Bitte, lass mich Tampons finden. Dann klingt meine Geschichte glaubwürdiger. Und tatsächlich, ganz hinten entdecke ich einige rosafarbene Päckchen. Ich schnappe sie, schließe das Handschuhfach und springe nach draußen in den Regen. »Yippie, ich habe welche! Siehst du?«

»Okay.«

Genau wie erhofft, hat Victor Mühe, mir in die Augen zu sehen. Er knallt die hintere Tür zu und sagt nichts, als wir uns auf den Rückweg machen. Das Gewitter ist weitergezogen, aber dafür ist der Wind stärker geworden. Der Regen prasselt auf uns nieder, als wir den kleinen Hügel erklimmen. Der Boden schmatzt unter unseren Füßen. Schlamm und Steine sind vom Hügel auf den Pfad gerutscht. Vorsichtig balanciere ich von Stein zu Stein.

Dann plötzlich ein königsblauer Farbklecks im Schlamm links des Pfads. Victor läuft vor mir. Ich bleibe stehen, spähe mit zusammengekniffenen Augen durch den Regen und sehe ein mir bekanntes Logo – die Welle von Rip Curl.

Sofort gehe ich vom Schlimmsten aus. Ist es eine Leiche? Als Victor sich nach mir umschaut, gehe ich schnell weiter.

Atme, Kenna. Wahrscheinlich ist es ein Kleidungsstück, das weggeworfen – oder vergraben – und vom Unwetter freigespült wurde. Gut möglich, dass es schon seit Jahren dort liegt und nichts mit der Sippe zu tun hat.

Die anderen haben vor dem Regen unter der Plane Schutz gesucht. Als wir kommen, blicken sie uns entgegen.

»Hier, bitte«, sage ich und gebe Jack seinen Autoschlüssel wieder.

Er schaut ihn verwundert an.

»Ich habe meine Periode bekommen und wusste, dass Mikki immer Tampons im Auto hat.« Ich präsentiere sie ihnen.

Auf einmal haben Jack und Clemente etwas Dringendes zu erledigen. Clemente geht zum Grill, Jack verschwindet in seinem Zelt. Victor wirkt unbehaglich, bleibt aber treu an Skys Seite.

»Es musste schnell gehen«, sage ich. »Es war eine ganz schöne Sauerei.«

Nun hat auch Victor genug. Er flüchtet durch den strömenden Regen zu Clemente. Mikki sagt nichts, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie weiß, dass ich gelogen habe. Sie kennt mich zu gut. Sky scheint ebenfalls nicht ganz überzeugt, sagt jedoch nichts, also gehe ich auf zitternden Beinen zur Toilette.

Ich brenne darauf, noch einmal zurückzulaufen und nachzuschauen, was das blaue Ding war, doch Sky behält mich für den Rest des Vormittags genau im Auge. Das Mittagessen ist eine schweigsame Angelegenheit. Wir essen im Stehen, eng aneinandergedrängt auf dem matschigen Boden unter der Plane. Die Vorräte werden langsam knapp, und Sky hat Grünkohl von Ryans kleinem Gemüsebeet ins Rührei gemischt.

Jack sucht die grünen Stückchen heraus. »Warum will jemand dieses Dreckszeug essen? Das schmeckt doch einfach nur bitter. Ich könnte töten für eine Hackfleischpastete.«

»Oder ein Steak«, sagt Victor. »Ein schönes, blutiges Steak.«

Jacks Lächeln wirkt hart. Es könnte an seinen Rückenschmerzen liegen, aber irgendwie ist da etwas Hässliches in seiner Miene. Jetzt, da ich weiß, dass er bezüglich des Portemonnaies gelogen hat, ist endgültig klar, dass ich ihm nicht trauen kann. Panik steigt in mir auf. In sechs Tagen soll Mikki ihn heiraten.

Es ist so kalt, dass wir Jeans und Pullis übergezogen haben. Blätter und Zweige wirbeln uns um die Beine; über unseren Köpfen knattert die Plane. Der Wind treibt den Regen vor sich her, und er trifft uns von allen Seiten. Ich bin komplett durchnässt. Das einzig Gute ist, dass auch die Moskitos dieses Wetter nicht mögen.

»Wenigstens sparen wir uns so den Abwasch«, sagt Jack. »Schaut mal.« Er stellt die Teller in den Regen, und die Essensreste werden innerhalb kürzester Zeit weggespült.

»Ich hoffe, der Wind legt sich bald«, sagt Sky. »Dann kriegen wir heute Nachmittag vielleicht ein paar Wellen.« Sie knufft Victor in die Seite. »Große Wellen.«

So kurz nach Ryans Tod übers Surfen zu reden, kommt mir herzlos vor. Ich stelle sie zur Rede. »Du bist kein bisschen traurig wegen Ryan, stimmt’s?«

Sie blinzelt. »Natürlich bin ich traurig.«

»Denk mal an seine Familie. An seine kleine Tochter.«

Sie legt die Stirn in Falten. »Seine Tochter? Hat er dir das erzählt?«

»Ja. Ava. Sie ist drei.«

»Victor hat er um Geld gebeten, weil angeblich sein Sohn krank ist. Jack gegenüber hat er behauptet, er hätte Krebs im Endstadium. Er war ein zwanghafter Lügner, Kenna.«

Ich wende mich an Victor. »Das Tattoo, das du ihm aufs Handgelenk gestochen hast. A wie Ava.«

»Mir hat er gesagt, es wäre für seine Frau. Anna.«

»Ich habe einen Blick in seinen Pass geworfen, ehe er ihn versteckt hat«, sagt Sky. »Und als ich das nächste Mal in Sydney war, habe ich ihn gegoogelt. Er hat Insiderhandel betrieben. Wenn er zurück nach Amerika gegangen wäre, hätte er ins Gefängnis gemusst.«

»Warum habt ihr ihm dann erlaubt, der Sippe beizutreten?«, frage ich.

»Er hat ein paar reiche Unternehmen abgezockt, um zwei Jahre surfen zu können. Das ist ein Mensch nach meinem Geschmack.«

Die anderen nicken zustimmend.

»Außerdem passte es uns ganz gut, dass er hierblieb, während wir in Sydney waren«, sagt Sky.

Ein Surfbrett hebt vom Boden ab und kracht gegen einen Baum. Fluchend läuft Victor los, um es zurückzuholen.

Clemente geht um das Toilettenhäuschen herum. »Hier ist es besser geschützt«, ruft er.

Wir stapeln die Bretter an der Wand und flüchten uns dann zurück unter die Plane.

»Ach, übrigens«, sage ich. »Fehlt eins von Ryans Surfbrettern?«

»Nein«, sagt Clemente mit einer Handbewegung. »Er hatte nur zwei, und die sind beide noch hier.«

»Das heißt, er war schwimmen.«

»Sieht so aus.«

Clemente scheint von diesem Gedanken ebenso beunruhigt wie ich. »Ich muss die ganze Zeit an seine Familie denken«, sagt er. »Obwohl ich sie gar nicht kenne.«

»Ich weiß.« Ich starre in den Dreck. Wieder einmal wünsche ich mich an einen anderen Ort.

Er atmet langsam aus. »Manchmal frage ich mich, was ich hier eigentlich mache.«

Verwundert dreht Mikki sich zu ihm um. »Vermisst du dein Zuhause?«

»Ich weiß gar nicht mehr, wo mein Zuhause ist. Aber ich glaube, ich bin bereit, weiterzuziehen.«

Ich bemerke Mikkis entgeisterte Miene. Vorsicht, Clemente. Solche Dinge offen anzusprechen, ist nicht ungefährlich. Mit einem Ruck wird mir klar, dass Sky ihn ebenfalls gehört hat. Sie wirkt genauso verblüfft.

»Wohin denn?«, fragt Mikki.

Er seufzt. »Keine Ahnung.«

Sky wirft Clemente einen angewiderten Blick zu. »Das heißt, du verrätst die Sache?«

Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich habe nie irgendwelche Versprechungen gemacht.«

»O doch, das hast du.« Sky verschwindet mit ihm in den Wald, und dort stehen sie und diskutieren. Ich würde zu gern hören, was sie reden, aber der Regen ist zu laut. Victor sieht den beiden eine Zeit lang grübelnd zu, dann marschiert er über die Lichtung.

Ich bin versucht, mich dazuzugesellen, aber Clemente ist erwachsen. Er muss selbst wissen, was er tut. Stattdessen wende ich mich an Mikki. »Wo ist Jack?«

»In unserem Zelt«, sagt sie. »Ihm tat der Rücken weh.«

Ich senke die Stimme. »Im Handschuhfach war ein Bündel Bargeld.«

»Ja. Es ist sicherer, es im Auto aufzubewahren.«

»Es ist ziemlich viel.«

»Wir haben was abgehoben, als wir einkaufen waren.«

Ich beobachte sie aufmerksam, während ich ihr von dem Portemonnaie erzähle. Bitte, mach, dass sie nichts davon weiß.

Mikki macht ein betroffenes Gesicht. »Ach du Scheiße. Ich dachte mir schon, dass irgendwas im Busch ist. Er meinte, er hätte für seinen Freund gearbeitet – die Sache mit den Sonnenkollektoren. Aber vielleicht waren seine Schmerzen zu stark. Manchmal hält er es einfach nicht mehr aus. Er ist ein guter Mensch, das schwöre ich.«

Ich kann nicht sagen, ob sie das wirklich glaubt, aber ich bin froh, dass sie nichts von dem Portemonnaie geahnt hat. Ich muss herausfinden, wie viel sie weiß. Hinter ihr streiten Clemente, Sky und Victor immer noch.

»Auf der Wiese … Clementes Frau – Sky – sie liegt auch dort begraben, stimmt’s? Genau wie Elke?«

Mikki seufzt. »Ja.«

Dieses Geständnis führt mir endgültig vor Augen, dass sie eine von ihnen ist. »Und du hast da mitgemacht? Dir ist nicht in den Sinn gekommen, zur Polizei zu gehen?«

»Was hätte das denn gebracht? Es hätte sie ja nicht wieder lebendig gemacht. Niemand war schuld an ihrem Tod. Was hätte die Polizei tun sollen?«

Ich berichte Mikki von dem blauen Kleidungsstück, das ich neben dem Pfad entdeckt habe. »Ich will nachschauen, was es ist. Kommst du mit?«

Sie deutet in den Regen, der immer noch vom Himmel rauscht. »Ist das dein Ernst? Jetzt?«

»Es könnte wichtig sein. Bitte!«

Mikki seufzt. »Na gut.«

Der Pfad ist voller Laub. Wir rutschen und schlittern, als wir auf nackten Füßen zur Schlammlawine laufen.

»Hier irgendwo war es«, sage ich.

»Wo denn?«

Zweige ächzen und knacken über unseren Köpfen, während ich den schlammigen Boden absuche. »Vielleicht ein Stückchen da runter.« Ich gehe weiter und versuche, mich daran zu erinnern, wo ich das blaue Ding gesehen habe. Mikki zuckt zusammen, als ganz in der Nähe ein Ast auf die Erde kracht. »Bist du sicher, dass es nicht eine Blume oder Abfall war?«

»Ich habe das Rip-Curl-Logo erkannt.« Aber jetzt sehe ich nichts mehr. Wir gehen eine Weile hin und her.

»Mist! Ich weiß genau, dass es hier war.« Hat es jemand weggenommen?

Mikki schlingt sich die Arme um den Leib. »Wir werden klatschnass.«

Ich lenke ein. »Okay.«

Jack ist in ihrem Zelt. Als Mikki ihn mit dem Portemonnaie konfrontiert, gibt er es sofort zu. »Es war dumm und impulsiv. Ein Typ, den ich kenne, hat mir Codein verkauft, aber es ist nicht billig. Als Teenager habe ich hin und wieder Sachen geklaut, wenn Mum nicht genug Geld für Essen hatte. Hätte nie gedacht, dass ich das wieder machen würde.«

Ich denke daran, dass er mich angelogen hat und wie leicht wir uns von ihm haben manipulieren lassen. »Wie viele Leute hast du schon ausgeraubt?«

»Nur sie, ich schwöre.« Er grinst betreten. Es hat fast etwas Kindliches – dieser Glaube, er könne etwas Furchtbares tun, sich entschuldigen, und schon ist alles vergeben und vergessen.

Mikki umarmt ihn. »Ich habe Geld. Ich kaufe dir Codein, wenn es sein muss, aber lass uns erst mit deiner Ärztin reden. Sie muss dir doch helfen können.«

»Und was ist mit dem Portemonnaie?«, frage ich, fassungslos, dass Mikki ihn einfach so davonkommen lässt.

»Wir schicken es zurück«, sagt sie.

»Wenn eine Adresse drinsteht, dann ist die wahrscheinlich in Kanada«, sage ich.

»Wir könnten es auf einer Polizeiwache abgeben, sobald wir zurück in Sydney sind, und sagen, dass wir es gefunden haben«, schlägt Mikki vor.

Jacks und meine Blicke treffen sich. Auf einmal frage ich mich, was er vielleicht sonst noch alles getan hat.