KENNA
Ich wirble herum und fliehe zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Ein konkretes Ziel habe ich nicht, ich renne einfach nur. Hinter mir höre ich Zweige brechen. Ich weiß nicht, ob es der Sturm ist oder ob Clemente mich verfolgt.
»Kenna!«, ruft er.
Ich renne weiter. Meine nackten Füße rutschen immer wieder aus. Auf der linken Seite zweigt ein Pfad ab. Weil ich keinem der anderen begegnen will, biege ich darauf ein – und bleibe im nächsten Moment wie angewurzelt stehen. Ein großes Känguru versperrt mir den Weg. Es steht auf den Hinterbeinen, seine dunklen Ohren bewegen sich vor und zurück. Ich mache kehrt und schlage einen anderen Weg ein.
»Lass es mich doch erklären!«, ruft Clemente hinter mir.
Ich renne schneller. Der Schlamm spritzt gegen meine Beine, aber es nützt alles nichts, es gelingt mir nicht, ihn abzuschütteln. Äste schlagen mir ins Gesicht. Die Bäume biegen sich im Wind, Blätter wirbeln umher, überall um mich herum krachen abgebrochene Zweige zu Boden. Ich halte meine Arme über den Kopf, als ein Ast mich nur knapp verfehlt.
Ich kann dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten. Als ich eine Öffnung im Unterholz sehe, schlüpfe ich hindurch und verstecke mich hinter einem Baumstamm. Ich bin außer Atem, presse aber trotzdem die Hände vor den Mund, um ja keinen Laut von mir zu geben. Regenwasser rinnt zwischen den Blättern hindurch auf meine Schultern.
»Kenna!«, ruft Clemente.
Mucksmäuschenstill warte ich ab. Meine Schultern schmerzen dort, wo die Hände mich festgehalten haben. Ich höre nichts außer das Rauschen des Regens. Ich glaube, Clemente ist weg. Und jetzt? Zu den Autos zurückzukehren, wage ich nicht – aber wo soll ich sonst hin? Der Fluss! Wenn ich ein Surfbrett hätte, könnte ich ihn überqueren. Auf der Lichtung gibt es mehr als genug Bretter. Könnte ich mich zurückschleichen und eins holen? Dann erinnere ich mich an die Strömung. Sie war schon letzte Woche stark, ohne dass es zuvor tagelang geregnet hatte. Nach den heftigen Niederschlägen wird er angeschwollen sein und voller Trümmer, die das Unwetter hineingespült hat. Besser, ich nehme den Weg zu den Klippen. Ich werde viele Meilen laufen müssen, bis ich auf eine Straße stoße, aber bestimmt gibt es einen Wanderweg.
Vorsichtig trete ich hinter meinem Baum hervor.
»Kenna.«
Vor Schreck mache ich einen Satz. Clemente steht wenige Meter entfernt von mir. Ich hebe abwehrend die Arme, doch er macht keine Anstalten, näher zu kommen.
Auch er ist außer Atem. »Ich war vorhin dort, um zu sehen, wie hoch das Wasser steht. Ich habe mir Sorgen um mein Auto gemacht. Auf dem Weg habe ich einen Beutel im Matsch gesehen.«
War es wirklich so? Er klingt aufrichtig, aber ich bin auf der Hut. Schließlich jedoch gewinnt meine Neugier die Oberhand. »Wem gehört er?«
»Elke. Es war ihr kleines Daypack.«
»Wow. War denn was drin?«
»Alle ihre Sachen. Das ist der Beweis, dass jemand ihr etwas angetan hat. Ich will damit zur Polizei. Vielleicht können sie Fingerabdrücke sicherstellen. Ich wollte den Rucksack vergraben, ehe jemand ihn in die Finger kriegt oder er vielleicht wieder verschwindet, also habe ich mich weggeschlichen, während die anderen im Wasser waren.«
Immer noch skeptisch, mustere ich ihn. »Warum habt ihr ihren Tod nicht schon vor sechs Monaten der Polizei gemeldet?«
»Sky wollte die Polizei nicht hierhaben. Wenn sie sie befragt hätten, welchen Namen hätte sie ihnen nennen sollen? Meine Frau hat einen Eintrag in der Polizeidatenbank – Proteste gegen den Klimawandel. Sky hat gedroht, wenn ich die Polizei rufe, würde sie ihnen sagen, dass ich ihr die Identität meiner toten Frau verkauft hätte. Ich dachte, es wäre eine Haiattacke gewesen. Und was hätte die Polizei da schon ausrichten können?« Clemente lässt den Kopf nach hinten gegen einen Baumstamm sinken. »Mittlerweile bereue ich das. Elkes Eltern … ich denke jeden Tag an sie.«
Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich ihm glauben soll. »Jemand hat eben versucht, mich zu ertränken«, sage ich, denn er kann es definitiv nicht gewesen sein.
»Was?« Fassungslos macht Clemente einen Schritt auf mich zu.
Ich weiche zurück. Ich kann ihm nicht trauen.
»Ich musste mich tot stellen, um zu überleben. Als er oder sie mich losgelassen hat, habe ich mich an den Strand spülen lassen und bin weggerannt.«
»Mierda! Wer war es?«
Ich berühre meine schmerzenden Schultern und versuche, mich an das Gefühl der Hände zu erinnern. Waren sie groß oder klein, stark oder schwach? Aber ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. »Ich weiß es nicht. Was bedeutet es, dass du Elkes Rucksack gefunden hast?«
»Ihr Portemonnaie war nicht drin, vielleicht wurde sie ausgeraubt. Oder es gab einen Unfall, und jemand hat ihn vertuscht, um es so aussehen zu lassen, als wäre sie aus freien Stücken gegangen.«
Ein Windstoß bläst die Zweige zur Seite und verpasst uns eine Regendusche.
»Wie kommt’s, dass Ryan ihren Pass hatte?«, frage ich.
»Keine Ahnung. Alle mochten sie.« Clementes Stimme klingt belegt.
»Glaubst du, Sky fühlte sich von ihr bedroht?«
»Nein. Sie haben sich gut verstanden.«
»Was ist mit Victor?«
Clemente schlingt sich die Arme um den Leib und reibt sich mit den Händen die Oberarme. »In der Nacht vor Elkes Verschwinden hat Sky mit ihr geschlafen, deshalb habe ich mich das auch immer gefragt.«
»Wow.« Meine Gedanken überschlagen sich. Ich habe ja selbst miterlebt, wie Victor reagiert hat, als Sky Sex mit Jack hatte. »Denkst du, er war eifersüchtig?«
Clemente schüttelt betroffen den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht.«
»Aber ich dachte, ihr beide steht euch so nahe.«
»Das tun wir auch.« Clemente fährt sich mit den Fingern durchs nasse Haar.
Scheiße. Wenn Clemente recht hat und Victor aus Eifersucht tötet, könnte Jack sein nächstes Opfer sein.
»Und Jack ist codeinabhängig«, sage ich.
Clemente sieht mich mit schuldbewusster Miene an. Er wusste also darüber Bescheid. »Jack würde niemals …«
»Ach nein? Was, wenn er Schmerzen hatte und dringend Geld brauchte? Ryan brauchte auch Geld.« Widerwillig ziehe ich Mikki in Betracht. »Vielleicht hat Elke auch mit Jack geflirtet, und Mikki gefiel das nicht.« Ich sage das nur, um alle Möglichkeiten durchzuspielen; glauben kann ich es nicht. Soweit ich weiß, steht Mikki nicht mal auf Jack.
»Und ich?«, sagt Clemente.
»Willst du wirklich, dass ich darüber Mutmaßungen anstelle?«
»Warum nicht?«
Ich denke an das, was Sky mir über seine Frau erzählt hat, und zwinge mich, es auszusprechen. »Du könntest ein Monster sein. Du könntest Frauen manipulieren, damit sie sich in dich verlieben, und dann … keine Ahnung. Wenn ihre Liebe zu groß wird, macht dir das vielleicht Angst. Oder du bringst sie um, weil es dir einen Kick gibt. Oder du liebst sie so heftig, dass du es einfach nicht ertragen kannst. Oder sie wollen dich verlassen …«
Still und regungslos steht Clemente da.
Ich atme zitternd ein. »Oder ihr könntet alle darin verwickelt sein. Vielleicht habt ihr Elke und deine Frau zum Wohl der Sippe geopfert, um an ihr Geld oder ihre Identität zu kommen, oder weil sie die Bucht verlassen wollten.«
Clemente streckt die Hand nach mir aus, aber die Düsternis in seinen Augen hindert mich daran, auf ihn zuzugehen. Ein seltsamer Ausdruck tritt in sein Gesicht. »Es ist richtig, dass du Angst vor mir hast.«
Vorsichtshalber weiche ich noch einige Schritte zurück.
Clemente blickt mir in die Augen. »Ich habe Elke nicht getötet. Aber meine Frau schon.«