KENNA
Eine eisige Welle schlägt über mir zusammen. Ich öffne den Mund, aber kein Laut dringt hervor. Er war es also doch? Ich sollte weglaufen, doch meine Beine gehorchen mir nicht, und sowieso ist es dafür zu spät.
»Sie hatte an drei Stellen im Körper bösartige Tumore.« Clementes Stimme ist so leise, dass ich ihn über den Lärm des Unwetters kaum verstehen kann. »Die Ärzte meinten, der Krebs wäre nicht behandelbar, er hätte schon zu weit gestreut. Sie hatte noch maximal ein Jahr zu leben.« Seine dunklen Haare kleben ihm am Kopf. »Eine Freundin von ihr war ein Jahr zuvor an Krebs gestorben. Meine Frau hat ihr bis zum Ende beigestanden, und nach ihrem Tod hat sie zu mir gesagt: ›Wenn mir jemals so was passiert, will ich es beenden, bevor es zu schlimm wird. Solange ich noch Freude am Leben habe.‹« Seine Stimme droht zu versagen. »Sie wollte nicht, dass die anderen davon erfahren. Sie wollte kein Mitleid.«
Das kann ich mir gut vorstellen. In der Sippe dreht sich alles um Stärke und Vitalität. Darum, unbesiegbar zu sein. Aber gegen etwas wie Krebs kommt man im Zweifelsfall nicht an.
»Also ging das Leben weiter wie bisher«, fährt Clemente fort. »Aber mit der Zeit spürte sie die Auswirkungen. Früher hatte sie Drogen immer abgelehnt, aber dann fing sie an, Gras zu rauchen. Sie dachte, es würde die Schmerzen lindern.«
»Und? Hat es sie gelindert?«
»Nein, ich glaube nicht. Es hat sie bloß depressiv gemacht. Ich war froh, als Greta anfing, sich um unsere Ernährung zu kümmern, und uns gezwungen hat, auf Drogen, Alkohol und Junkfood zu verzichten. Ich dachte, das könnte vielleicht gegen Skys Krebs helfen.« Er beißt sich auf die Lippe. »Aber sie verlor immer mehr an Gewicht, und ihr war ständig … wie sagt man? Übel. Sie ist weiterhin gesurft, ermüdete aber viel schneller als früher. Eines Morgens waren wir alle beim Surfen. Sie hat vor uns aufgehört und ist zurückgegangen. Nach ein paar Minuten bin ich ihr nach, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist, und da hing sie am Baum.«
Ich erschauere, als ich mir ausmale, wie grauenhaft es für ihn gewesen sein muss, seine Frau so zu sehen.
»Sie hatte aus ihrer Boardleash eine Schlinge gemacht, aber die Leine war zu elastisch. Unter ihr lag der Kühlschrank. Er muss umgekippt sein, als sie draufgestiegen ist. Ihre Zehen berührten ihn noch. Sie war noch am Leben.«
Ich halte den Atem an. Ich habe Angst vor dem, was gleich kommen wird.
»Hilf mir , hat sie gesagt.«
Meine Finger graben sich in meine Handflächen, und ein kaltes Grauen erfasst mich.
»Ich bin zu ihr gerannt, um sie abzunehmen. Nein , hat sie gesagt. Ihre Füße waren …« Er ahmt eine rudernde Bewegung mit den Händen nach, dann kneift er ganz fest die Augen zu, als könnte er das Bild im Kopf nicht ertragen. »Sie hat versucht, den Kühlschrank wegzustoßen, aber er war zu schwer. Sie wollte, dass ich ihn zur Seite schiebe.«
Er hält einen Moment lang inne, um sich zu sammeln. Ich spüre, wie schmerzhaft es für ihn ist, mir davon zu erzählen.
»Für mich war es keine Frage. Ich musste ihren Wunsch respektieren. Sie hat mich darum gebeten, also habe ich es getan. Ich habe den Kühlschrank beiseitegeschoben. Dann habe ich mir die Ohren zugehalten und bin weggerannt.« Der Wind heult zwischen den Blättern. »Als ich zurückkam, hatten die anderen sie schon abgenommen, und sie war tot.«
Ich atme mehrmals tief durch und versuche, das alles zu verarbeiten. »Und ihr habt sie dort beerdigt, wo Ryan jetzt liegt?«
»Ja.« Clemente sieht mich an und wartet auf meine Reaktion.
»Und die anderen? Elke und Ryan?« Wenn er jetzt zugibt, sie ebenfalls getötet zu haben, weiß ich nicht, was ich noch tun soll.
»Nein.«
Ich atme auf.
Clementes Stimme bricht. »Nur sie. Reicht das nicht?«
Wasser prasselt auf unsere Köpfe und Schultern. Meine Zähne klappern. Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Wenn ich in deiner Situation wäre und jemand mich um so etwas bitten würde … Keine Ahnung, ob ich dazu fähig wäre.«
»Das wärst du. Glaub mir, wenn du jemanden liebst, würdest du es tun.«
Die Bäume sind tanzende schwarze Schemen hinter ihm. Heute ist die Nacht früh hereingebrochen, und die dichten Wolken verbergen den Mond.
Clemente rauft sich die Haare. »Ich habe mich immer gefragt, ob ich das Richtige getan habe. Vielleicht hätte ich dafür sorgen sollen, dass sie eine Behandlung bekommt? Damit sie länger lebt? Vielleicht hätte man irgendwann ein Medikament entwickelt. Vielleicht haben sich die Ärzte ja auch geirrt.«
Wieder lehnt er sich gegen einen Baumstamm. Er wirkt gebrochen. Ich nehme seine Hand und drücke sie. Seine Finger sind genauso eisig wie meine. »In den letzten Tagen ihres Lebens waren die Wellen so gut«, sagt er rau. »Dafür bin ich dankbar. Ihre ersten Erinnerungen waren welche ans Meer und ihre letzten auch.«
Ich drücke seine Finger noch fester. »Und was jetzt?«, frage ich.
Er holt tief Luft. »Wir gehen zurück zu den Zelten.«
»Einer von denen hat versucht, mich umzubringen.«
Clemente dreht seine Hand um und umschließt meine Finger mit seinen. »Ich lasse dich keine Minute aus den Augen. Aber wo sollten wir sonst hin?«
Er hat recht. Wir brauchen Schutz vor dem Wetter, also haben wir keine andere Wahl, als auf die Lichtung zurückzukehren. Doch mit ihm an meiner Seite fühle ich mich sicherer.
Er deutet auf den dunkler werdenden Himmel. »Wir sollten los, sonst finden wir den Weg nie.«
Über Wurzeln und Äste stolpernd, suchen wir uns einen Weg zwischen den Bäumen entlang.
»Warte«, keuche ich. »Was ist mit Elkes Daypack?«
»Das mache ich morgen früh«, sagt er.
Atemlos erreichen wir das Lager. Köpfe tauchen aus den Zelten auf: Mikki, Jack, Victor und Sky, die ihre Gesichter mit den Händen vor dem Regen abschirmen.
»Wo wart ihr?«, will Mikki wissen.
»Jemand hat versucht, Kenna zu ertränken«, sagt Clemente.
Ich zucke zusammen. Eigentlich hatte ich nicht vor, es den anderen zu sagen. Clemente schiebt sich näher an mich heran, und ich spüre die Wärme seines Körpers an meiner Hüfte.
»O mein Gott!«, ruft Mikki.
»Bist du sicher?«, fragt Jack.
Ich ziehe den Halsausschnitt des Surfshirts beiseite, um ihm meine Schulter zu zeigen. Im trüben Schein seiner Taschenlampe sind die roten Handabdrücke deutlich zu erkennen.
Ich beobachte die Mienen der anderen, während ich ihnen den Vorfall schildere. Einer von ihnen weiß, was passiert ist. Die arme Mikki ist vollkommen außer sich. Sie blickt von einem Gesicht ins andere und fragt sich genauso wie ich, wer von ihnen es gewesen sein könnte. Jack legt schützend den Arm um sie und sieht zwischen Sky und Victor hin und her.
Skys Hals ist geschwollen, und sie hat eine Schramme unter dem Auge.
»Was ist mit deiner Wange passiert?«, frage ich.
»Ich bin runtergefallen, und das Brett hat mich getroffen«, sagt sie. Ich sehe sie an. Ist das passiert, während sie mit mir gekämpft hat? »Die Wellen waren ganz schön heftig heute«, fügt sie hinzu. »Victors Boardleash ist gerissen.«
»Jack hat einen Zehnagel verloren, und ich habe mir das Schienbein aufgeschlagen.« Mikki hebt das Bein, um mir den Bluterguss zu zeigen. »Schau mal!«
Mir kommt ein schrecklicher Gedanke, aber natürlich kann sie es nicht gewesen sein. Sie ist meine beste Freundin. Nein. Von allen erscheint mir Sky als die plausibelste Kandidatin. Ich habe oft genug erlebt, wie unbeugsam sie ist, wenn es um den Schutz der Sippe geht.
»Geh zurück in dein Zelt«, sage ich zu Mikki. »Du wirst ja klatschnass.«
»Das bin ich sowieso schon«, entgegnet sie. »Aber was ist mit dir? Jemand hat versucht, dich zu ertränken!«
Clemente mischt sich ein. »Ich passe auf sie auf.«
Mikkis Augen werden groß. Sie nimmt mich beim Arm. »Können wir kurz reden?« Sie zieht sich mit mir hinter ihr Zelt zurück. »Was, wenn er es war?«, zischt sie.
»Alles gut«, flüstere ich. »Er war schon im Wald, als ich vom Strand hochgerannt bin. Er kann es gar nicht gewesen sein.«
Ihre langen schwarzen Haare kleben an ihren Wangen. »Wer war es denn dann?«
Ich öffne den Mund, um ihr meinen Verdacht bezüglich Sky mitzuteilen, besinne mich jedoch gerade noch rechtzeitig. Ich weiß nicht mehr, wem Mikkis Loyalität gilt. »Keine Ahnung.«
»Du passt noch zu mir und Jack ins Zelt. Oder Jack kann bei Clemente schlafen, das macht ihm bestimmt nichts aus.«
»Ich vertraue ihm.« Doch während ich dies sage, melden sich Zweifel. Clemente war nicht derjenige, der mich ertränken wollte, aber was die anderen Todesfälle betrifft … Ich brauche Zeit, um alles zu verarbeiten, was er mir eben offenbart hat.
»In Ordnung«, sagt Mikki, immer noch skeptisch. »Ich lege deinen Schlafsack wieder in dein Zelt.«
Sie und ich kehren zu den anderen zurück.
»Auf dem Grill sind noch Reste«, sagt Sky.
»Danke«, sage ich, und die anderen ziehen sich in ihre Zelte zurück.
Es ist zu dunkel, um zu erkennen, was sie uns übrig gelassen haben – Bohnen, Reis und Eier, wenn ich mich nicht irre. Ich esse in aller Eile. Mir ist so kalt, dass ich am ganzen Körper zittere. Dann hole ich meinen Schlafsack. Clemente öffnet sein Zelt, und ich krieche hinein. Er folgt mir ins Innere und zieht den Reißverschluss zu.
Die Zeltplane flattert, als würden wir jeden Moment abheben. Es ist stockdunkel, und die Kälte ist stärker als meine Schüchternheit. Mit steifen Fingern schäle ich mich aus meinem Surfshirt und den Shorts. Mein Bikinioberteil ist vollkommen durchnässt, also ziehe ich es ebenfalls aus.
Ein Rascheln. Auch Clemente entledigt sich seiner Sachen. Weil es so eng ist, stoßen wir mit den Ellbogen zusammen.
»Möchtest du ein trockenes T-Shirt?«, fragt er. »Hier.«
Ich taste in der Dunkelheit, bis ich weiche Baumwolle fühle. »Danke.« Ich ziehe es mir über den Kopf.
»Gib mir deine nassen Sachen.«
Ich schlüpfe in meinen Schlafsack. Meine Finger sind eisig. Ich balle sie zu Fäusten und puste warme Atemluft darauf.
»Frierst du immer noch? Komm her.« Eine Sekunde später fügt er hinzu: »Wenn du möchtest.«
Er will wissen, ob das, was er mir gesagt hat, etwas an meinen Gefühlen für ihn ändert. Ich habe noch nicht alles verarbeitet, trotzdem suche ich ihn in der Dunkelheit, und er schlingt die Arme um mich.
Nun, da ich es warm und trocken habe, empfinde ich das Trommeln des Regens auf die Zeltplane als beruhigend. Clemente streichelt mir übers Haar, und die Zärtlichkeit der Geste berührt etwas tief in meinem Innern. So langsam setzt bei mir der Schock ein. Ich wäre heute Nachmittag fast gestorben.
»Ich glaube, es war Sky«, wispere ich, »die mich umbringen wollte.«
»Wir reden morgen mit ihr«, flüstert Clemente. »Wir verlangen, dass sie uns die Wahrheit sagt.«
Der weiche Stoff seines T-Shirts an meinem Gesicht und sein vertrauter Moschusgeruch sorgen dafür, dass ich die Beherrschung verliere und anfange zu weinen. Tiefe Schluchzer schütteln meinen Körper. Clemente hält mich ganz fest.
»Sorry«, murmle ich. »Erdrücke ich dich?« Ich mache mich von ihm los.
Clemente zieht mich zurück an seine Brust. »Hast du gesehen, was für breite Schultern ich habe?«
Unter Tränen muss ich lachen. Da ich nichts sehen kann, bin ich ganz auf meinen Tastsinn angewiesen. Clementes Hand streicht über meinen Rücken und ertastet meine Schulterblätter. Ich atme seinen Geruch ein und denke daran, wie unsicher unser Leben hier ist. Das Leben ist kurz; Zeit ist etwas Kostbares. Mein Mund findet seinen in der Dunkelheit.
Der Regen wird stärker, und die Frösche quaken laut und misstönend im Chor wie Betrunkene in einer Bar.