KENNA
Ich erwache mit einem Ruck, und mir fällt alles wieder ein. Hände auf meinen Schultern, die mich unter Wasser drücken. Ryans Tod. Dann spüre ich den warmen Körper an meinem Rücken.
»Hi«, flüstert Clemente.
Er legt den Arm um mich und zieht mich an sich. Der Wind heult noch immer. Über unseren Köpfen knattert die Zeltplane. Tropfen fallen auf uns herab.
Ich drehe mich zu ihm um. »Hey, deine Haare sind ja nass.«
Er legt die Hand gegen die Zeltplane über uns. »Es ist undicht.«
Das wundert mich nicht. Das Unwetter hat das Zelt die ganze Nacht hindurch gebeutelt. »Hast du geschlafen?«
»Ja.« Clementes intensive graue Augen fixieren mich. Dann wandert sein Blick zu meinen Lippen.
Ein Rascheln von draußen. Augenblicklich versteife ich mich. Clemente setzt sich auf, um sich anzuziehen. Ich will wirklich nicht da raus. Ich will hierbleiben, wo es warm und sicher ist. Außerdem kann ich nicht klar denken.
Clemente öffnet das Fliegennetz. »Geh ohne mich nirgendwohin.«
Nur mit seinem T-Shirt und meinem Slip bekleidet, krieche ich hinter ihm aus dem Zelt. Mikki und Jack sind schon auf. Von Victor und Sky fehlt jede Spur.
Mikki schenkt mir ein nervöses Lächeln. Den dunklen Schatten unter ihren und Jacks Augen nach zu urteilen, haben sie auch nicht viel geschlafen. Clemente wartet am Eingang zu meinem Zelt, während ich mir frische Shorts hole, dann kauern wir uns unter die Plane und essen überreife Bananen, während der Regen auf allen Seiten herunterrauscht.
Die Vögel schweigen, als wollten sie gegen das Unwetter protestieren, oder vielleicht kann ich sie bei dem lauten Wind einfach nur nicht hören. Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass meine Kleider jetzt schon nass sind. Ich würde frieren, wenn Clemente nicht meine Hand halten und seine Wärme an mich weitergeben würde.
Als der Reißverschluss von Skys und Victors Zelt aufgeht, hält Clemente meine Hand noch fester.
Sky kriecht ins Freie und reibt sich die Augen. »Habt ihr Victor gesehen?«
»Nein«, sagt Clemente. »Ist er surfen gegangen?«
Denn an einem Tag wie heute ist das so ziemlich der einzige Grund, früh aufzustehen.
»Ich schaue mal nach, ob eins der Bretter fehlt.« Jack springt auf und eilt ums Toilettenhaus herum. »Ja, sein gelbes ist nicht da.«
»Ich gehe zum Strand«, verkündet Sky.
»Warte«, sagt Clemente. »Wir sollten zusammenbleiben.« Er lässt meine Hand los und greift nach dem Reißverschluss seiner leichten Regenjacke. »Nimm die hier, Kenna.«
»Danke, es geht schon.« Ich lerne eine ganz andere Seite an ihm kennen.
Er nimmt mich wieder bei der Hand. Mit eingezogenen Köpfen laufen wir Sky hinterher. Der Pfad ist voller Schlamm, und der Geruch faulender Vegetation füllt meine Lunge.
Der Wind trifft uns mit voller Wucht, sobald wir aus dem Wald ins Freie kommen. Der Nebel hat sich verzogen, und ich keuche erschrocken, als ich sehe, wie hoch die Wellen sind.
»Bei der Brandung würde Victor doch nicht surfen?«, sagt Jack. »Wie soll er überhaupt rauskommen?«
Die anderen zeigen sich ähnlich besorgt. Mit vorgehaltener Hand schützen wir unsere Augen vor dem Regen und suchen den Ozean nach einer winzigen Gestalt ab. Doch er ist nirgendwo zu sehen. Sky läuft ans Wasser. Der nasse Sand ist körnig unter unseren Füßen. Jemand ist vor uns hier entlanggegangen. Die Fußabdrücke füllen sich mit Meerwasser, gekrönt von schmutzigem Schaum, der aussieht wie auf einem Cappuccino.
Plötzlich rennt Sky los. Im nächsten Moment sehe ich es: eine dunkle Gestalt im Sand. Nein!
Victor liegt auf dem Rücken unweit der Stelle, an der wir gestern Ryan gefunden haben. Seine gerissene Boardleash ringelt sich im Sand. Von seinem Brett ist weit und breit nichts zu sehen.
Sky ist bei ihm angelangt und fällt neben ihm auf die Knie.
Clemente schiebt sie zur Seite. »Lass mich.«
Ein unwirkliches Gefühl ergreift von mir Besitz, während Clemente alles Menschenmögliche tut. Minuten vergehen. Irgendwann richtet er sich auf und schüttelt den Kopf. Sky starrt auf Victors reglose Gestalt, während wir anderen in beklommenem Schweigen daneben stehen.
Dann blickt sie auf. Entsetzen spiegelt sich in ihrem Gesicht. Und Schuldbewusstsein. All die Male, die sie ihn mit seinen Ängsten aufgezogen hat … Bestimmt gibt sie sich die Schuld dafür, dass er heute früh draußen war. Ich weiß, wie sich so etwas anfühlt. Noch weint sie nicht. Sie hat es noch gar nicht wirklich begriffen. Die Tränen werden später kommen.
Ich schaue mich am Strand nach Victors Brett um. Dass Leashes reißen, ist bei hohem Seegang nichts Ungewöhnliches, aber mir kommt ein Verdacht, und so wie Clemente und Jack einander ansehen, denken sie Ähnliches. Noch ein »Unfall«. Die Bucht ist ein gefährlicher Ort – vor allem bei diesen riesigen Wellen. Aber was hat die jüngsten Tragödien wirklich verursacht? Das Wetter oder einer aus der Sippe? Jemand hat versucht, mich zu ertränken; das ist das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß.
Mit einem kleinen Aufschrei greift Sky nach Victors Hand – sein Brasilien-Armband. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und lässt den Kopf hängen. Ihre Schultern beben.
»Er hat es im Wasser nie getragen«, flüstert sie. »Er hatte Angst, es zu verlieren.« Sie presst sich die Hand vor den Mund. Während Mikki und Jack sie zu trösten versuchen, starre ich nachdenklich das Armband an. Es ist, wie Sky gesagt hat: Victor hat es nie im Wasser getragen, warum also ausgerechnet heute? Sky scheint zu glauben, dass er einen Glücksbringer bei sich haben wollte. Oder hat jemand ihn geweckt, umgebracht und hierhergeschleift? Auch Clemente betrachtet das Armband. Ich fange seinen Blick ein. Denkt er, was ich denke?
Er deutet aufs Meer. »Bei dem Wetter könnte niemand rauspaddeln. Wer würde es auch nur versuchen?«
Jack nickt. »Ja, um heute rauszukommen, bräuchte man Jetski. Hey – da ist sein Brett.« Er rennt den Sand entlang zu der Stelle, wo es im flachen Wasser dümpelt, und kehrt damit zurück, wobei er es etwas ungeschickt wie ein ungewolltes Geschenk vor sich herträgt.
Meine Zähne klappern. Wir alle zittern vor Kälte.
»Wir müssen zurück«, sagt Clemente.
Sky begleitet uns ein kurzes Stück, dann kehrt sie um, läuft zurück zu Victor und greift nach seiner Hand. Als sie wieder zu uns stößt, sehe ich das Armband an ihrem Handgelenk. Sie geht schweigend und hält das Gesicht in den allmählich nachlassenden Regen.
Zurück auf der Lichtung halbiert Clemente die letzten noch verbliebenen Äpfel und verteilt sie. »Wir brauchen etwas Zucker gegen den Schock.«
Während ich auf meinem Apfelstück herumkaue, denke ich an die Bäume mit Sorrow-Frucht, die sich im Wind wiegen. Fast warte ich darauf, dass noch etwas Schlimmes geschieht. Im Moment habe ich jeden Einzelnen aus der Sippe im Verdacht – sogar Sky. Clemente gibt ihr ein Stück Apfel, doch sie starrt es bloß verständnislos an, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen soll.
Fünf traurige Freunde, die Schutz vor dem Regen gesucht haben. Ich schaue von einem Gesicht ins andere. Jack isst seinen Apfel etwas zu genüsslich, und Clemente gibt sich unnatürlich gefasst, während Skys Schock so extrem wirkt, dass es schon an eine Überreaktion grenzt. Mittlerweile ziehe ich sogar Mikki als Verdächtige in Betracht, deren Augen seltsam leer wirken. Jack nimmt Sky sanft den Apfel aus der Hand und hebt ihn an ihre Lippen. »Iss.«
Die Intimität der Geste hat etwas Verstörendes. Nun, da Victor aus dem Weg ist, vergeudet er keine Zeit, sich bei ihr in Stellung zu bringen. Mikki scheint das gar nicht zu bemerken – oder vielleicht ist es ihr auch egal.
»Wir müssen die Polizei rufen«, sagt Clemente. »Sobald der Regen nachlässt.«
Panik steigt in mir hoch, als ich mich wieder daran erinnere, dass wir hier festsitzen. Bis das Wasser zurückgeht, können wir niemandem Bescheid sagen.
»Er ist ertrunken«, sagt Jack. »Was soll die Polizei da schon machen? Willst du wirklich, dass sie anfangen, hier rumzuschnüffeln? Denk doch mal nach, Kumpel. Hier liegen drei Leichen, und wir stecken alle in der Sache mit drin, weil wir geholfen haben, sie zu beerdigen.«
Gestern in Mikkis Zelt wirkte Jack wie ein Kind; jetzt ist er das genaue Gegenteil. Er übernimmt ganz selbstverständlich die Führung, was ich ihm niemals zugetraut hätte.
Sky beteiligt sich nicht an der Diskussion. Sie steht unter Schock. Falls das alles nur gespielt ist, besitzt sie wirklich ein beeindruckendes Talent. Sie legt ihr Apfelstück auf den Grill und verschwindet zwischen den Bäumen.
»Wo willst du hin?«, rufe ich ihr nach, doch sie gibt keine Antwort.
Hinter den Toiletten hören wir ein Krachen.
»Was war das?«, sagt Jack.
»Die Surfbretter«, sagt Clemente.
Wir laufen hin, um nachzusehen. Das oberste Brett auf dem Stapel ist heruntergefallen. Es ist Clementes. Als er es aufhebt, wickelt sich die Boardleash um meinen Knöchel.
»Scheiße!«, sage ich und frage mich, wieso es mir nicht schon früher aufgefallen ist. »Victor ist ein Goofy. Alle anderen von uns sind Naturals.«
Sie starren mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Aber als wir ihn am Strand gefunden haben, hing die abgerissene Leash an seinem rechten Knöchel.«
Jack zieht die Brauen zusammen. »Ja?«
»Bist du sicher?«, fragt Mikki.
»Kenna hat recht«, sagt Clemente. »Jetzt erinnere ich mich auch.«
Sie schweigen, als ihnen dämmert, was das bedeutet. Jemand hat Victor die Boardleash umgelegt, nachdem er bereits tot war.
Und es gibt nur einen Grund, weshalb jemand so etwas tun sollte.