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KENNA

Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals wieder in Archer’s Cove surfen würde – erst recht nicht in einer Brandung wie dieser. Aber ich fühle mich bereit dafür. Vielleicht hatten Skys Methoden doch ihr Gutes. Ich beiße mir auf die Lippe. Von allen Todesfällen kann ich ihren am wenigsten begreifen. Sie strotzte nur so vor Leben. Es erscheint mir unmöglich, dass sie tot ist.

Draußen auf dem Wasser tummeln sich zahlreiche Surfer: ein Dutzend Shortboarder mit ernsten Mienen, zwei ältere Männer auf Longboards und eine hochschwangere Frau mit einem Bodyboard.

Wir paddeln zu ihnen hinaus. Bald schaukeln wir auf unseren Brettern, während das kalte Meer Cornwalls uns um die Hüften schwappt.

»Hey, erinnerst du dich an das Apartment in der Muscat Street?«, sagt Mikki. »Ich habe da gestern Abend noch angerufen, wir können es heute Nachmittag besichtigen.«

»Genial«, sage ich. Wir haben die Hälfte des Rückflugs damit verbracht, nach Wohnungen zu suchen. Groß war die Auswahl nicht.

Wieder erhasche ich einen Blick auf Mikkis Tattoo, das unter dem Ärmel ihres Neoprenanzugs hervorschaut. Es passt zu ihr. Sie ist viel selbstsicherer geworden, sowohl im Wasser als auch außerhalb. Sorrow Bay hat sie wirklich verändert. Sie hat auch mich verändert und das in nur zehn Tagen. Ich habe gelernt, Kasims Tod zu akzeptieren, aber sie hat mir auch meine Leidenschaft fürs Surfen wiedergegeben. Ich habe gelernt, mit Gefahr umzugehen, und meine Freundschaft mit Mikki vertieft. Ich werde meine Zeit dort nie vergessen und auch nicht die Menschen, die ich getroffen habe. Ryan, Victor und Sky surfen in meinen Gedanken weiter. Braun gebrannt und stark gleiten sie über die Wellen.

Was Jack betrifft … Ich finde die Vorstellung unerträglich, dass er noch frei herumläuft.

Clemente greift nach meinem Brett und zieht mich neben sich. »Alles klar?«

»Sky und Ryan«, sage ich. »Glaubst du wirklich, dass Jack sie von der Klippe gestoßen hat? Sky war so traurig wegen Victor. Hältst du es nicht für möglich, dass sie gesprungen ist? Und Ryan könnte abgestürzt sein, als er versucht hat, an seine Büchse zu kommen.«

Clementes Kiefer spannt sich an. »Wir wissen nur mit Sicherheit, dass er Victor getötet hat.«

»Was ist mit mir? Denkst du, Jack war derjenige, der versucht hat, mich zu ertränken?«

Clementes Augen verdunkeln sich, und ich erinnere mich daran, wie nahe sich die beiden Männer standen. »Ich versuche nach Möglichkeit, nicht darüber nachzudenken.«

Mikki ist ganz in der Nähe und beobachtet uns aufmerksam. »Ich auch nicht. Und jetzt hört auf zu quatschen, sonst kriegt ihr keine Wellen ab.«

Genau in dem Moment baut sich eine neue Welle auf, und ich paddle an. Mir gelingen einige Turns, ehe sie in sich zusammenbricht und ich kopfüber ins eisige Wasser katapultiert werde. Ich hatte nicht die Absicht, wieder dem Surfen zu verfallen, aber was soll’s? Es gibt schlimmere Süchte.

Ich paddle zurück zu Mikki und Clemente. »Ich bin so was von baden gegangen.«

Clemente lacht. »Ich hab’s gesehen.«

Ich lache ebenfalls. Ich will keinen Partner, der mich in Watte packt. Ich will jemanden, der mir aufhilft, wenn ich falle, und mir sagt, dass ich es noch mal versuchen soll. Clemente hält mich nicht zurück, so wie Kasim es getan hat. Er tut das genaue Gegenteil. Er spornt mich dazu an, mich noch mehr anzustrengen.

Mikki blickt mit sorgenvoller Miene von mir zu ihm. Ich kann sie gut verstehen. Sie hat noch Zweifel, vor allem, was den Selbstmord seiner Frau betrifft (zu Recht, wie ich nun weiß, auch wenn es mir nicht zusteht, ihr dies zu sagen), und sie möchte nicht, dass ich verletzt werde.

Alles ist gut , möchte ich ihr sagen. Wir können ihm vertrauen. Es wird großartig werden.

Doch dann wandert ihr Blick weiter zum Horizont. Lange Zeit starrt sie auf die dunklen Linien, die sich dort formen, als würde sie mit einer Entscheidung ringen.

Endlich dreht sie sich zu Clemente um und spricht ihn mit seltsam hoher Stimme an. »Nur, damit du es weißt. Ich warne dich …«

Ich bekomme eine Gänsehaut auf den Armen. Diese Stimme behagt mir gar nicht. Sie erinnert mich daran, wie Mikki mit der Schaufel in der Hand auf Ryans Beerdigung gesungen hat – diese klaren, glockenhellen Töne, die sich über das Heulen des Sturms erhoben. Hör auf, Mikki. Du machst mir Angst.

Doch sie ist noch nicht fertig.

»Behandle sie gut.« Sie fixiert Clemente, und ein eigenartiges kleines Lachen dringt aus ihrem Mund. »Sonst bringe ich dich um.«