SKY
Am Bondi Beach ist es voller denn je. Ich frage mich, wo Kenna, Mikki und Clemente wohl gerade sind. Wahrscheinlich auf der anderen Seite der Welt.
Die tiefstehende Sonne scheint mir in die Augen. In der Ferne zerschneidet ein Surfer eine Welle und schleudert eine Fontäne aus Gischt in die Luft. Er hat ein breites Kreuz, das sich vor dem goldenen Himmel abzeichnet, und einen Moment lang denke ich, es ist Victor. Aber natürlich kann das nicht sein. Ich staune immer noch, wie sehr er mir fehlt. Wie kann es sein, dass es mich so hinterrücks erwischt hat?
Welle auf Welle rollt vorbei, und jede wird von mehreren Surfern in Beschlag genommen. Die Auswirkungen des Zyklons sind mittlerweile auch hier angekommen, und die Wellen sind sechs bis acht Fuß hoch. Normalerweise würden mich solche Bedingungen nervös machen, doch seit ich von der Klippe gesprungen bin, fühle ich mich unbesiegbar.
Ich habe mir beim Aufprall den Knöchel verstaucht und die Rippen geprellt und konnte ein paar Tage lang nicht surfen, aber das war es wert. Die Erinnerung daran wird mir noch monatelang Kraft geben.
Die größte Schwierigkeit war, hinterher zurück an Land zu schwimmen. Die Wellen waren riesig, und meine Brust und mein Knöchel schmerzten. Jack wartete am Strand. Er war völlig außer sich. Verblüfft erfuhr ich, dass die anderen Hals über Kopf abgefahren waren. Ich wusste, dass Clemente vorgehabt hatte, die Bucht zu verlassen, aber einfach so zu verschwinden und Mikki und Kenna mitzunehmen, ohne sich zu verabschieden? Diese Herzlosigkeit machte mich fertig. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn Jack nicht für mich da gewesen wäre. Jetzt sehe ich, wie seine starken Unterarme durchs Wasser pflügen, als er einer Welle entgegenpaddelt, und verziehe das Gesicht, als er wieder einmal jemanden schneidet. Jack war in der vergangenen Woche ein guter Freund. Er hat mir geholfen, Victors Leiche zur Wiese zu schleppen und zu beerdigen. Mein Brustkorb war zu dem Zeitpunkt schon steif, und der Schock setzte langsam ein. Als er mir daher auf der Lichtung seine allerletzte Codein-Tablette anbot, kam mir diese Geste unglaublich romantisch vor. Er nahm mich mit in sein Zelt, und ich ließ es zu. Seitdem verliere ich mich jede Nacht in seinem warmen Körper.
Nur ein hübsches Gesicht. Das dachte ich, als ich Jack zum ersten Mal sah. Ich merkte, wie er mich anschaute, aber im Grunde wollte er mich vor allem, weil ich ihn nicht wollte. Er war es nicht gewohnt, dass Frauen gegen seinen Charme immun waren, und obwohl ich es genoss, von einem konventionell attraktiven Mann wie ihm begehrt zu werden, hielt ich ihn nicht für meinen Typ.
Allmählich ändert sich meine Meinung.
»Ich glaube nicht an Beziehungen«, habe ich ihn erst gestern gewarnt. Dasselbe habe ich vor langer Zeit zu Victor gesagt. Ich habe miterlebt, wie viele Schmerzen – körperliche und seelische – mein Vater meiner Mutter zugefügt hat. Das hat sie in den Alkoholismus getrieben. Wie auch immer, ich bin stolz darauf, so stark zu sein, dass ich niemanden in meinem Leben brauche.
»Ist okay für mich«, sagte Jack.
Die anderen in der Sippe taten so, als würden sie die universelle Regel des Teilens befürworten, aber ich wusste, dass es ihnen schwerfiel. Der Mensch ist darauf gepolt, selbstsüchtig zu sein. Wenn ihm etwas gefällt, will er es für sich haben. Normalerweise schließt das Partner mit ein.
Jack war der Einzige, dem es wirklich nichts auszumachen schien. Victor wusste, dass mein Vater gewalttätig war. Ich habe es ihm in einem Moment der Schwäche anvertraut und danach jeden Tag bereut, weil er andauernd versuchte, mit mir darüber zu reden, obwohl ich es einfach nur vergessen wollte.
Jack ist da ganz anders. Er ist ein oberflächlicher Mensch, und ich habe nicht die Absicht, ihm irgendetwas aus meiner Vergangenheit zu erzählen.
Gestern Nacht habe ich ein Messer mit ins Bett genommen.
Als Jack es sah, zuckte er zurück. »Was soll das?«
»Entspann dich«, sagte ich. »Das wird ein Experiment. Dein Rücken tut weh, oder nicht? Mal sehen, was passiert, wenn ich dir woanders Schmerzen zufüge. Vielleicht lenkt dich das ab.«
Die nächste halbe Stunde gelang mir das tatsächlich – sei es wegen des Messers oder wegen der Dinge, die ich mit meinem Mund anstellte.
Eben habe ich gesehen, wie er zwei Backpacker angequatscht hat – hoffentlich haben sie Geld. Wir müssen so schnell wie möglich neue Mitglieder für die Sippe finden, denn Northy und Deano wollen nächsten Monat bestimmt wieder bezahlt werden.
Dieses Wochenende arbeite ich in dem Club, in dem Mikki gekellnert hat. Das ist Welten entfernt von meinem Job in Schweden, bei dem ich mein eigenes schickes Büro und ein gutes Gehalt hatte. Aber dank meiner willensschwachen Patienten und der männlichen Kollegen in meiner Praxis, die sich gegen mich verschworen, wurde ich entlassen. Ich höre immer noch ihre Stimmen in meinem Kopf: Sie hat keinerlei Empathie, sie eignet sich nicht für diesen Beruf, sie ist eine Gefahr für alle, die mit ihr in Kontakt kommen …
Wut kommt in mir hoch, wann immer ich an sie denke, aber vielleicht war es das Beste so. Wäre ich in Schweden geblieben, hätte ich niemals die Bucht entdeckt.
Eine Welle kommt auf mich zu. Ich rücke meine Boardleash zurecht und lege mich flach auf das Brett, um anzupaddeln. Ich spüre den Schmerz in meinen Rippen – vielleicht sind sie nicht nur geprellt, sondern gebrochen. Ein Dutzend anderer Surfer hat es auf dieselbe Welle abgesehen. Verdammt! Ich denke an die Wellen in Sorrow Bay, die niemand reitet. Ich kann es nicht erwarten, dorthin zurückzukehren.
Manche sagen, die Bucht ist verflucht, und ich kann das nachvollziehen. Dort liegt auf jeden Fall eine seltsame Energie in der Luft. Die Bäume haben die Angewohnheit, einen zu bedrängen. Sie werfen kalte, dunkle Schatten. Die Klippen und die Brandung wirken mitunter seltsam bösartig. Aber wilde Orte ziehen wilde Menschen an. Victor, Ryan und Elke waren sich der Gefahren bewusst. Ich möchte glauben, dass ihre Tode einfach tragische Unfälle waren. Und außerdem: Selbst wenn es einen Fluch gibt, ist es das Risiko allemal wert. Wo sonst findet man noch so unberührte Wellen?