16

»Miss Streeter?«, fragte T. T. Chesterfield das Mädchen mit dem zerzausten rotblonden Haar und dem Babygesicht. Sie trug nicht sehr viel über einem keineswegs babyhaften Körper.

»Zwei auf einmal«, sagte sie, schürzte die Lippen und musterte sie beide von Kopf bis unter die Gürtellinie. Was immer sie auch sah, es schien ihr zu gefallen. »Oh, da kommt ja eine geballte Ladung auf mich zu. Kommt rein, ihr geilen Böcke, bei uns kriegt jeder wonach er dürstet.«

Sie trat zurück, ließ T. T. Chesterfield vorbei gehen und hängte sich an Justin Hunt, der offensichtlich durch seine Jugendlichkeit eine besondere Anziehungskraft auf weibliche Geschöpfe ausstrahlte.

Sie betraten einen großen, hohen Raum, dessen Wände mit Samt bespannt waren. Bilder nackter Frauen inmitten von Blumensträußen, Äpfeln, Bananen, Orangen und Herbstblätterarrangements hingen in goldenen Rahmen. Von der die mit Zierstuck versehenen Decke hing ein mächtiger Kristallkronleuchter, der die schweren, altspanischen Möbel mit warmem Licht überflutete. Dicke Teppiche dämpften die Schritte. Ein hölzerner Negers in rotem Jackett und schwarzer Hose stand am Fuß einer Treppe, die in die oberen Räume führte.

»Bist du sicher, dass du Janice haben willst?« fragte das Mädchen Justin Hunt. »Sie hat eben erst ein Baby gekriegt und ist noch nicht richtig in Schuss. Ich hingegen bin unverbraucht und lass mit mir machen, was du willst. Du wirst keine Sekunde bereuen, die du ...«

»Wir wollen Miss Streeter nur einen kurzen Besuch abstatten«, unterbrach sie T. T. Chesterfield. »Wo können wir sie finden?«

»Nicht in Stimmung, was?« spottete sie nicht gerade freundlich. »Das geht in Ordnung, aber lass den Jungen wenigstens seinen Spaß haben, damit er ...“

Justin Hunt gab ihr einen Klaps auf den Hintern. »Hau ab und hol Janice her, Baby. Mach vorwärts, wir wollen hier keine Wurzeln schlagen, klar?«

Er ließ sie los und sie warf den Kopf in den Nacken, leckte sich die blutrot geschminkten Lippen und ging an der Statue des Negers vorbei mit aufreizendem Hüftschwung die Treppe hinauf.

„Spielverderber“, murrte Justin Hunt. „Die Kleine wäre ihr Geld sicher wert.“

„Ich dachte du willst eventuell Susan heiraten?“

„Stimmt. Habe ich glatt vergessen..“ Justin Hunt ließ sich auf einem, mit rotem Samt bezogenen Kanapee nieder, legte beide Arme ausgestreckt über die Rückenlehne und streckte die Beine von sich. Gerade als er es sich so richtig bequem gemacht hatte, kam Janice Streeter die Treppe herunter.

Mit zwanzig Jahren sah sie aus wie ihre eigene Mutter. Dünn, mittelgroß, mit strähnigem, glanzlosem Haar und tiefen Augenschatten. Sie trug ein einfaches Kleid, dessen Nähte in den Achselhöhlen geplatzt waren. Bevor sie das untere Ende der Treppe erreichte, blieb sie auf einer der Stufen stehen.

»Was wollt ihr?« fragte sie mit einer rauen Stimme.

»Eine Auskunft, die meinem Freund zwanzig Dollar wert ist«, sagte Hunt, bevor Chesterfield etwas sagen konnte.

»Sternträger?« fragte sie.

»Falsch, Baby«, sagte Hunt und erhob sich vom Kanapee. »Wir sind Freunde von Dick.«

»Dick? Ich weiß nichts von Dick. Der Hund ist abgehauen. Wenn ihr ihn trefft, richtet ihm gefälligst aus, dass er hier nichts mehr zu suchen hat!«

Sie wusste nicht, wo Dick Streeter war. Sie schien auch gar nicht erpicht darauf zu sein, irgendetwas über ihren Bruder zu erfahren. T. T. Chesterfield dachte an Lesly Streeter. Pierce hatte gesagt, dass Lesly und Mike Gannon Freunde gewesen waren, bis es an jenem Abend am Spieltisch zum besagten Streit gekommen war.

»Mike lässt schön grüßen«, sagte Chesterfield.

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich jäh. Sie hob die Brauen und schob das spitze Kinn etwas vor.

»Mike? Ihr kommt von Mike?«

»Wir hatten das Vergnügen, für zwei Monate mit ihm die Zelle zu teilen. Feiner Bursche, dieser Mike Gannon. Hat uns deine Adresse gegeben.«

Sie atmete tief ein und aus. Dann kam sie den Rest der Treppe herunter, und ihr Gesicht hatte jetzt etwas Farbe bekommen. Sie ging zu einem der mächtigen, mit Brokatstoff überzogenen Sessel und setzte sich auf die Armlehne. Das Licht des Kronleuchters zeichnete ihr schmales Gesicht.

»Wie geht es Mike? Auf den letzten Brief hat er mir nicht geantwortet. Es ist sechs Wochen her, seit ich ihn abgeschickt habe.«

»Da er im Knast ist, hat ihn dein Brief vielleicht gar nicht erreicht, Baby“, meinte Justin Hunt gelassen. »Im Knast gibt es Regeln, Baby. Wer in die Suppe spuckt, kriegt kein Schreibzeug. Mike hat ab und zu in die Suppe gespuckt. Zeig ihr den Hut, Amigo.«

T. T. Chesterfield zeigte ihr den braunen Hut.

»Das ist Leslys Hut«, entfuhr es ihr als sie  nach dem Hut griff.

»Mike hat ihn uns gegeben“, erklärte ihr Justin Hunt. „Das heißt, er war bei seinen Sachen. Im Knast braucht keiner einen Hut. Da tragen sie alle Käppis. Im Schweißband des Hutes hat er den Brief an dich versteckt, Baby“.

Nun erst betrachtete sie den Hut eingehend. Dann drehte sie ihn um und klappte das lederne Schweißband auf und hob sichtlich enttäuscht den Kopf.

»Einer von euch beiden muss Frank Duncan sein«, sagte sie.

»Erraten, Baby«, grinste Hunt. „Das bin ich. Mein Freund hier heißt Tom Carter.“

Sie lächelte. »Dann hast du mir Mikes Brief geschickt?«

„Nun, genau deswegen sind wir hier. Wegen dem Brief und dem was drin steht. Bestimmt hast du alle seine Liebesbrief an einem sicheren Örtchen aufgehoben, nicht wahr?«

»Ich hebe alle Briefe von Mike auf«, sagte sie. »Aber warum, ich meine, du hast mir doch diesen Brief geschickt, Frank?«

»Mike hat einen Freund in Denver. Das hat er Dir bestimmt geschrieben, Baby, dass wir bei seinem Freund unterkommen können, bis wir uns an die Freiheit gewöhnt haben.“

„Davon weiß ich nichts. Ich weiß nur dass er sich nach mir gesehnt hat und ausbrechen wollte, um zu uns zu kommen, zu mir und unserem Sohn den er noch nie gesehen hat.“

„Ich weiß aber ganz sicher, dass er dir die Adresse unseres Freundes mitgeteilt hat,“ fiel ihr Justin Hunt ins Wort. »Leider habe ich sie mir nicht aufgeschrieben und jetzt kann ich mich nicht mehr an sie erinnern.«

Ein Funke des Zweifels sprang in ihre tiefliegenden Augen. Sie begann auf ihrer Unterlippe herum zu nagen und sah dabei T. T. Chesterfield an, als hätte sie von ihm Hilfe erwarten können.

»Mike hat nur geschrieben, dass Frank Duncan seinen Brief an mich aus dem Knast schmuggeln wird und dass Frank nach Denver gehen wird, um sich dort mit Freunden zu treffen«, beharrte sie.

»Genau da wollen wir hin, Baby“, sagte Justin Hunt mit einem drohenden Unterton in seiner Stimme. Dabei ging er langsam auf den Sessel zu, auf dem sie saß. „Soll ich dir etwa die Fahrkarten zeigen, verdammt?“ Er baute sich breitbeinig vor ihr auf. „Keine Zicken, verstehst du? Wir wollen den Brief nicht behalten. Alles was wir brauchen ist die Adresse von unserem Freund, die Mike hineingeschrieben hat, damit wir uns mit ihm treffen können.“

»Da ist keine Adresse drauf«, sagte sie. »Ich bin sicher. Mindestens  zwanzig Mal habe ich den Brief gelesen, und ich bin sicher, dass da keine Adresse drauf ist.«

»Hör zu, Baby, Mädchen, es ist wichtig, was ich dir jetzt sage«. Er packte sie am Arm und zog sie aus dem Sessel. „Du zeigst uns jetzt diesen verdammten Brief oder du kriegst Ärger, Baby.«

T. T. Chesterfield wunderte sich über das schauspielerische Talent seines Freundes. Anscheinend war Hunt nicht nur ein ausgezeichneter Büchsenmacher, sondern auch ein unberechenbarer Gaukler.

»Los, hol den Brief!«

»Und wenn ich's nicht tue?«

»Dann kriegst du Haue.«

»Ich schreie.«

»Du kriegst noch mehr Haue.«

»Jemand wird kommen. Die anderen Mädchen werden  den Vizesheriff ...«

»Klappe! Ich will die verdammte Adresse, und zwar jetzt!«

»Und wenn ich sie dir gebe? Was springt für mich dabei raus. Hast du wenigstens ein paar Groschen für mich? Es sind schlechte Zeiten ...«

»Von mir kriegst du einen Klaps auf den Hintern und mein Partner gibt dir einen Dollar«, grinste Justin Hunt und ließ sie los.  Sein Versprechen einhaltend, schickte er sie mit einem Klaps nach oben.

Während sie ihr nachschauten, klaubte T. T. Chesterfield einen Silberling aus der Hosentasche und drehte ihn in den Fingern.

„Wenn das so weitergeht, geht uns bald die Knete aus«, sagte er, während er den Silberdollar betrachtete.

„Ein paar Dollar hier und ein paar Dollar dort, und schon sind wir auf der richtigen Spur. Es passt alles zusammen, T. T., vertraue mir.“

»Soll das etwa heißen, dass du schon weiter gekommen bist als ich?«

»Unser Bursche heißt Frank Duncan«, sagte Hunt, als ob er es schon eine Ewigkeit gewusst hätte.

»Schön. Und wie kommst du denn da drauf?«

»Intuition, T. T.  Als Pierce uns sagte, dass die beiden Freunde gewesen sind, Gannon und Lesly Streeter, ging mir ein Licht auf. Janice hatte nichts für ihren kleinen Bruder Dick übrig und wahrscheinlich auch nicht viel für Lesly. Da dachte ich mir, dass sie vielleicht besser mit Mike Gannon zurechtgekommen ist.«

»Und was ist mit dem Hut und mit dem Brief?«

»Genau so, wie ich es mir zusammengereimt habe. Duncan wurde aus Leavenworth entlassen, und irgendwie gelang es ihm, Leslys Hut, der sich in Gannons Besitz befand, an sich zu nehmen und ihn mit einem Brief hinauszuschmuggeln, der wahrscheinlich Geld enthielt. Der Teufel weiß, wie sie es bei der Verhaftung übersehen hatten, aber das Geld steckte die ganze Zeit im Hut, und Gannon wartete nur auf eine Gelegenheit, es aus Leavenworth rauszukriegen, um es nach seiner Freilassung zur Verfügung zu haben. Duncan nahm den Hut, riss den Briefumschlag auf, nahm das Geld heraus und schickte den Brief in einem andern Umschlag an das Mädchen. Vielleicht ließ er ihr auch einen Teil des Geldes. Der Brief wird uns aufklären, Amigo.«

»Und die Adresse, die Duncan auf den Brief gekritzelt hat?«

»Ein Vorwand, den Brief zu kriegen«, erklärte Justin Hunt lächelnd. „Wichtig ist nur der Poststempel und vielleicht ein Anhaltspunkt, wo sich Frank Duncan zurzeit aufhalten könnte.«

T. T. Chesterefield schüttelte ungläubig den Kopf.

»Du meinst, wir sind einer Intuition folgend hierher gereist, Justin?“

„Nein, es steht natürlich einiges an Aufklärungsarbeit dahinter, von der du keine Ahnung hast. Kann ich verstehen, mein Freund. Du warst mit der Trauer um Billie Joe und ihre Mutter beschäftigt und hast dir jede Menge Gedanken über die Zukunft deines Sohnes gemacht.“

„Und warum hast du mir nie gesagt, was du alles herausgefunden hast. Zum Beispiel auf der Fahrt hierher?“

„Weil es detektivische Fähigkeit braucht, Indizien zu kombinieren und gleichzeitig auf sein Bauchgefühl zu hören.“

»Verdammt, ich glaube Dir kein Wort! Erst wenn uns das Mädchen  den Brief tatsächlich bringt, werde ich aufhören, mich über dich zu wundern, mein Freund.«

Knapp eine halbe Minute später kam Janice Streeter mit dem Brief in der erhobenen Hand die Treppe herunter. »Da ist keine Adresse drauf«, rief sie triumphierend. »Ich hab's doch gewusst!«

»Zeig her, Baby.«

Justin Hunt nahm ihr den Brief aus der Hand und faltete ihn auseinander. Er besah ihn sich von hinten und vom, drehte ihn in den Fingern, schüttelte den Kopf und zeigte ihn Chesterfield. »Ich absolut sicher, dass hier hinten die Adresse draufstand, auf der Rückseite.«

»Bist du sicher, dass es dieser Brief war?«

»Zeig mal her.«

Justin Hunt fing an, laut vorzulesen. »Mein liebes Häschen.« Er hob den Kopf und grinste Janice Streeter unverfroren an. »Ich bin vom Gesetz umstellt, und es hat keinen Sinn, mit diesen Arschlöchern einen Krieg anzufangen. Ich habe hier Hundertzwanzig Dollar, die eigentlich dir gehören, zumal ich dort, wo sie mich hinbringen, nichts damit anfangen kann. Irgendwie wird dieser Brief zu dir kommen. Ich weiß nicht, wann und wie. Es kann Jahre dauern, aber mehr als zehn auf keinen Fall, da ich mich bei der Verhaftung nicht widersetzen werde und Lesly zumindest ein Messer in der Hand hatte, als ich ihn tötete. In zehn Jahren bin ich wieder draußen, darauf kannst du dich verlassen. Mach's gut, mein Häschen. Mike.«

Justin Hunt hob den Kopf. »Nichts«, sagte er. »Ich hätte gewettet, dass ich die Adresse irgendwo gesehen habe.«

»Auf der Rückseite steht noch was«, sagte T. T.

»Hm, das ist das, was ich geschrieben habe«, sagte Justin Hunt und las die beiden Zeilen vor. »Du hattest doch nichts dagegen, dass ich mir zwanzig Bucks für Porto und Arbeit eingesteckt habe, Baby? Der Rest des Geldes ist für dich.«

»Das geht in Ordnung, Frank«, jammerte Janice, »obwohl ich das Geld gerade jetzt gut gebrauchen könnte, wo es mit Kundschaft nicht mehr so gut hinhaut. Vielleicht willst du es mit mir versuchen, Frank, ich mach es dir besonders schön, damit  du mit mir zufrieden bist, alles was du willst mach ich dir.«

Justin gab ihr den Brief zurück. Er hatte das, was auf der Rückseite hingeschrieben war, schnell durchgelesen. Es war nicht viel. Frank Duncan hatte in wenigen Worten  nur das Fehlen von zwanzig Dollar erklärt und mit besten Grüßen unterschrieben. Der Brief war in Dallas abgeschickt worden.

Anstelle des Silberdollars gab T. T. Chesterfield Janice einen Zehn-Dollar-Schein, über den sie sich so sehr freute, dass sie in Tränen ausbrach.

Danach verließen sie das Haus.  Sie waren jetzt tatsächlich am Anfang der Fährte, die sie von hier nach Dallas bringen würde. Und hatten zwei Namen: Hiram Bainbridge und Frank Duncan. Wenig war das nicht.