Von einem Augenblick zum anderen schreckte Newt Jenkins aus dem Schlaf hoch. Seine Frau Judith war ebenfalls wach geworden, weil sich ihr Mann so schnell bewegt hatte.
„Newt“, murmelte sie. „Was ist denn los?“
„Das weiß ich noch nicht“, erwiderte Jenkins, der mit seiner Frau und seinem neunzehnjährigen Sohn Darren vor drei Jahren nach South Dakota gekommen war und hier eine neue Existenz aufgebaut hatte. „Aber ich muss nachsehen...“
„Mitten in der Nacht?“ Judith Jenkins Stimme klang ängstlich. „Newt, du kannst doch nicht einfach...“
„Wenn es Viehdiebe sind, dann werde ich nicht zulassen, dass sie uns bestehlen, Judith“, erwiderte Jenkins in schroffem Ton. „Ich habe mich nicht das ganze letzte Jahr krumm geschuftet, damit sich andere daran schadlos halten können. Nicht mit mir, Judith! Und jetzt beruhige dich endlich. Ich werde mit Darren nachsehen, was draußen vor sich geht.. Du weißt, dass wir mit den Gewehren gut umgehen können. Wenn es wirklich einer auf unsere Rinder abgesehen hat, dann wird er eine böse Überraschung erleben.“
Mit diesen Worten zog er sich hastig an, verließ das Schlafzimmer und ging dann in den angrenzenden Raum, um seinen Sohn zu wecken. Der schlüpfte ebenfalls rasch in seine Kleidung und folgte seinem Vater. Beide griffen nach den Gewehren, die an einer Halterung neben der Tür hingen.
„Du schließt die Tür hinter uns zu, Judith“, wies Jenkins seine Frau an, die bleich im Gesicht war. „Hast du das verstanden?“
„Ja, Newt“, seufzte sie, als ihr klar wurde, dass sie ihren Mann nicht daran hindern konnte, draußen nach dem Rechten zu sehen. Trotzdem wurde die Angst und das Gefühl der Ungewissheit in ihr immer stärker. Als wenn sie bereits ahnte, dass in dieser Nacht etwas Folgenschweres geschehen würde.
„Gut, dann ist ja alles klar“, meinte der bullige Farmer. „Junge, du bleibst hinter mir und hältst die Augen offen. Hör auf das, was ich sage und entscheide. Klar?“
„Natürlich, Pa“, versicherte ihm der aschblonde Darren, der seine Aufregung ebenfalls nicht verbergen konnte. „Glaubst du, dass es Indianer aus dem Reservat sind?“
„Mir ist das völlig gleichgültig“, brummte der Farmer gereizt. „Jeder, der meint, ungestraft hier etwas stehlen zu können, bekommt die Quittung dafür. Und jetzt komm. Sei leise, wenn wir draußen sind...“
Er entriegelte die Tür, öffnete sie einen Spalt und schaute kurz hinaus. Es war eine trübe und kalte Nacht. Dichte Wolken hingen am Firmament und verschluckten das Licht des Mondes. Newt Jenkins spürte die Kälte des einsetzenden Winters. Gegen Abend hatte es zu schneien begonnen, und seine Stiefel knirschten im Neuschnee, als er langsam hinaus ins Freie ging. Das Gewehr hatte er im Anschlag – jederzeit bereit, abzudrücken.
Nachdem nun auch Darren das Haus verlassen hatte, schloss Judith Jenkins rasch die Tür wieder hinter ihnen. Das nahm der Farmer aber nur am Rande wahr. Statt dessen blieb er stehen und lauschte in die Nacht. Das verdächtige Geräusch, das ihn eben aus dem Schlag gerissen hatte, war drüben vom Corral gekommen. Dort standen dreißig Rinder, die ihm gehörten. Es war zwar nur eine kleine Herde, aber die Muttertiere würden im Frühjahr kalben und sein Bestand würde anwachsen. Gute, ausdauernde Hereford-Rinder waren es, die ihm und seiner Familie eine bescheidene Existenz sicherten.
„Da ist was, Pa“, murmelte Darren. „Direkt beim Corral. Hast du es auch gehört?“
„Also das ist doch...“, keuchte Jenkins, als er erneut ein Scharren vernahm. „Komm, Junge, diesen Halunken werden wir es ordentlich heimzahlen.“
Mit dem Gewehr in der Hand stürmte der Farmer vorwärts. Ausgerechnet in diesem Moment riss die Wolkendecke auf, und das silberne Mondlicht erhellte die nächtliche Umgebung. Jenkins fluchte, als er zwei Gestalten erkannte, die sich am Corraltor zu schaffen machten.
„Halt!“, brüllte er voller Zorn. „Ihr Bastarde – was habt ihr auf meinem Land zu suchen?“
Ohnmächtige Wut ergriff ihn, als er erkannte, dass es Indianer waren. Also stimmten die Gerüchte, die er vor einigen Tagen aufgeschnappt hatte. Diese elenden Rothäute fanden sich mit ihrer Situation in den Reservaten nicht mehr ab und wollten sich jetzt woanders schadlos halten!
Noch während Jenkins brüllte, duckte sich einer der Indianer und wirbelte Bruchteile von Sekunden später herum. Kurz darauf erhellte ein Mündungsfeuer die Nacht, als ein Schuss fiel. Jenkins sah, wie eine unsichtbare Faust seinen Sohn packte und zur Seite riss. Darren schrie laut auf und ließ das Gewehr fallen, während er zusammen brach und auf den schneebedeckten Boden fiel.
„Ihr Schweine!“, schrie Jenkins und eröffnete nun ebenfalls das Feuer auf die Viehdiebe. Aber er war viel zu aufgeregt angesichts der eskalierenden Situation. Seine Schüsse gingen fehl, und statt dessen musste er nun selbst in Deckung gehen, als weitere Heckenschützen in den Kampf eingriffen und ihn in Deckung zwangen.
„Pa!“, rief der sich vor Schmerzen am Boden windende Darren. „Mein Bauch – es tut so weh...“
Plötzlich erstarb seine Stimme, während durch seinen Körper ein Ruck ging. Dann lag Darren still. Newt Jenkins nahm das zunächst gar nicht wahr. Er musste Schutz hinter einem Holzstapel suchen, damit ihn die Kugel der Gegner nicht trafen. Vom Haus herüber war Judiths besorgte Stimme zu hören.
„Bleib im Haus, Judith!“, schrie Jenkins so laut er konnte. „Komm ja nicht raus!“
Drüben beim Corral geschah etwas, das Jenkins nicht sehen konnte. Aber die Geräusche, die er vernahm, waren eindeutig. Diese elenden Hundesöhne trieben einige Rinder aus dem Corral – ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Hilflos musste er mitansehen, wie man ihm einen Teil der Herde vor den Augen stahl und in die Nacht trieb. Zornig ballte er die Fäuste und wollte den Dieben einige Kugeln hinterher jagen. Aber das gelang ihm nicht, weil die Roten immer wieder Kugeln in seine Richtung feuerten, die ihn in Deckung zwangen. So lange, bis deren Kumpane das erreicht hatten, weswegen sie hierher gekommen waren.
Als das Echo der Schüsse verstummte, wagte sich Jenkins aus seiner Deckung.
„Darren!“, rief er. „Junge, ist alles in Ordnung mit dir?“
Keine Antwort kam. Das ungute Gefühl wurde stärker. Rasch stolperte er hinüber zu der Stelle, wo er seinen Sohn zuletzt gesehen hatte. Ein ächzender Laut kam über seine Lippen, als er die reglose Gestalt im Schnee liegen sah. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er sich über Darren beugte und sah, dass er nicht mehr atmete. Das Gesicht des Jungen war im Schmerz erstarrt, und der Blick spiegelte die Fassungslosigkeit wider, die ihm im Moment seines Todes gepackt hatte.
„Darren...“, flüsterte der Farmer mit erstickter Stimme und beugte sein Haupt. Der Schmerz war so groß, dass er beinahe selbst zusammengebrochen wäre. Seine Augen waren feucht, und das Herz in der Brust drohte ihm fast zu zerspringen, weil Darren nicht mehr lebte.
Drüben beim Haus erklangen Schritte. Judith hatte diese Ungewissheit nicht mehr länger ertragen können und kam trotz der Warnung ihres Mannes hinaus. Als sie ihn im Schnee knien sah und begriff, was geschehen war, fing sie an zu schreien. Sie warf sich über den Leichnam ihres Sohnes und zitterte am ganzen Körper. Jenkins musste sie mit Gewalt von dem toten Darren trennen.
„Mein Junge!“, rief sie immer wieder. „Warum nur, Newt?“
Jenkins hatte keine Worte für den Schmerz, der in ihm fraß, und seiner Frau erging es noch schlimmer. Was jetzt geschehen war, hatte ihr Leben zerstört – nicht nur die Existenz der Farm. Darren war tot. Ermordet von feigen hinterhältigen Rothäuten!
„Ich bringe dich ins Haus, Judith“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Komm jetzt. Du kannst es nicht mehr ungeschehen machen.“
Seine Frau nickte nur und ließ es zu, dass ihr Mann sie ins Haus brachte. Dann ging er zurück ins Freie und holte seinen toten Sohn. Er konnte es nicht verhindern, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen, als er ihn vorsichtig hoch hob und auf seinen Armen ins Haus brachte. Die aufgescheuchten und verwirrten Rinder registrierte er nur am Rande. Weil es keine Rolle mehr für ihn spielte.
Er brachte seinen toten Sohn in die Kammer und legte ihn aufs Bett. Wäre nicht der große Blutfleck auf seinem Hemd gewesen, dann hätte es fast so ausgesehen, als wenn Darren schliefe.
Der Farmer faltete seine Hände zum Gebet und murmelte etwas vor sich hin. Dann wandte er sich ab und ging zurück zu seiner vor Gram gebeugten Frau, für die in dieser Nacht eine Welt aus den Fugen geraten war.