Matt Devlin fluchte, als ihm der böige Wind weitere Schneeflocken ins Gesicht blies. Vor einer halben Stunde hatte es erneut zu schneien begonnen. Zuerst ganz zaghaft, aber dann hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet, und mittlerweile war das Land von einem dichten und dauerhaften Schneeteppich bedeckt.
Das machte das Vorwärtskommen für die Schwadron der 7th Cavalry natürlich nicht leichter. Zumal in den unwegsamen Badlands die Pferde sichtliche Mühe hatten, den richtigen Weg zu finden. Selbst Matt Devlin, der schon seit drei Jahren in Fort Yates als Scout für die Armee arbeitete, hatte an diesem trüben und grauen Morgen Schwierigkeiten.
Es war ein Wetter, bei dem man normalerweise keinen Hund vor die Tür jagte. Der Wind war kalt, der Schnee erschwerte den Soldaten die Sicht, und das war ein gewaltiges Hindernis. Denn sie mussten natürlich damit rechnen, jederzeit auf Sioux zu stoßen.
Aber Colonel Rutherfords Befehle waren eindeutig. Die aus Standing Rock geflohenen Krieger mussten unter allen Umständen wieder eingefangen und notfalls mit Gewalt davon überzeugt werden, dass sie in der Reservation bleiben mussten. Die Zeiten, in denen die Krieger frei über die weiten Plains gezogen waren, gehörten ein für allemal der Vergangenheit an. Zumal die Geflohenen noch einen Weißen getötet hatten. Das war der entscheidende Faktor, und dieses Verbrechen verlangte nach Bestrafung. Selbst wenn Devlin das unter einem völlig anderen Blickwinkel sah, spielte es letztendlich keine Rolle mehr.
„Devlin!“, erklang Lieutenant Newcombs Stimme. „Reiten Sie voraus und sehen Sie sich um. Verdammt, man kann ja noch nicht mal 50 Yards weit blicken!“
„In Ordnung“, versicherte ihm Devlin und ritt los. Der Pinto-Hengst trabte sofort los und bahnte sich seinen Weg durch die weiße Landschaft. Zum Glück ließ der Schneefall allmählich nach, aber der kalte Wind blieb und ließ Devlin trotz seines dicken Büffelfellmantels zittern. Allein der Gedanke an den warmen Kanonenofen in seinem Quartier in Fort Yates wurde zu einer quälenden Wunschvorstellung.
Devlin dirigierte das Pferd in höher liegendes Gelände und ließ seine Blicke in die Runde schweifen. Die Badlands waren ein öder Landstrich mit zahlreichen Felsen, Arroyos und verborgenen Canyons. Es gab unzählige Orte, an denen die Lakota-Krieger hätten Zuflucht suchen können. Es konnte Tage dauern, bis Devlin eine brauchbare Fährte gefunden hatte, denn der Neuschnee hatte natürlich jegliche Spuren zugedeckt.
Er beobachtete die weiter oben liegenden Felsen und glaubte für einen kurzen Moment dort eine huschende Bewegung entdeckt zu haben. Aber als er dieselbe Stelle noch einmal in Augenschein nahm, blieb dort alles still. Trotzdem wollte Devlin nichts riskieren und trieb sein Pferd weiter hinauf. Seltsamerweise spürte er auf einmal, wie ihm eine leichte Gänsehaut über den Rücken strich – und das lag ganz sicher nicht an der Kälte des Winters.
Hier stimmt was nicht!, meldete sich Devlins Instinkt.
Sekunden später zischte etwas dicht an seiner Wange vorbei. Devlin zuckte zusammen, als er den Pfeil sah, der sich in den Schnee bohrte. Gleichzeitig hörte er gellende Kriegsschreie, während ein weiterer Pfeil auf ihn abgeschossen wurde, der aber ebenfalls nur seinen Mantel streifte.
Geistesgegenwärtig zog Devlin seinen Revolver aus dem Halfter, zielte kurz und drückte ab. Er traf eine der sehnigen Gestalten, die von einem Augenblick zum anderen hinter den Felsen aufgetaucht waren und nun direkt auf ihn zustürmten. Der Krieger wurde von einer unsichtbaren Faust gestoppt und zur Seite gerissen. Sein gellender Schrei brach abrupt ab, als er zusammen brach und sich nicht mehr rührte.
In einiger Entfernung hörte Devlin das schmetternde Trompetensignal der 7th Cavalry. Aber die Soldaten waren noch zu weit entfernt, um ihm helfen zu können. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er diese Falle viel zu spät gewittert hatte und riss sein Pferd herum. Tief im Sattel geduckt, trieb er das nervöse Tier an und versuchte zu retten, was zu retten war.
Hinter sich hörte er die lauten Schreie der Krieger, die ihm weitere Pfeile hinterher schickten. Jetzt schossen sie auch noch mit Gewehren auf ihn und jagten ihm Kugel hinterher. Sie hatten wohl gehofft, ihn mit einem lautlosen Pfeil ausschalten zu können, bevor die Soldaten etwas bemerkten. Aber das hatte nicht funktioniert.
Devlins Leben hing an einem seidenen Faden. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn die Soldaten nicht in diesem Moment eingegriffen hätten? Devlin sah die blau uniformierten Reiter, die jetzt nach vorn preschten und ihm zu Hilfe kamen.
Eine erste Salve brachte den Angriff der Krieger ins Stocken. Aber davon ließen sie sich nicht einschüchtern. Mit Todesverachtung stürzten sie sich weiter den verhassten Verfolgern entgegen und feuerten mit ihren alten Gewehren auf die Blauröcke. Selbst der Tod einiger Gefährten schien sie nicht aufzuhalten.
„Bringt das Geschütz in Stellung!“, hörte Devlin Lieutenant Newcombs lauten Befehl. „Beeilt euch!“
Für kurze Zeit entstand Verwirrung bei den Soldaten. Einige Rekruten, die Captain Rutherford mit eingeteilt hatte, waren erst vor wenigen Wochen nach Fort Yates gekommen. Sie hatten kaum Fronterfahrung und waren deshalb ganz erschrocken, als sie die Krieger in ihrem bemalten Hemden den Abhang hinunter stürmen sahen. Ihre Gesichter waren bleich, als sie mit vereinten Kräften das schwere Geschütz herum drehten und dann luden.
Sekunden später überlagerte ein lauter Donnerschlag alle anderen Kampfgeräusche. Die Kugel schlug nur wenige Schritte vor denjenigen Kriegern ein, die am weitesten gekommen waren. Vier Lakota wurden gepackt und zerschmettert. Eine dunkle Rauchwolke hüllte sie kurz ein, und als sich die dichten Schwaden wieder verzogen, war der Schnee an dieser Stelle blutrot.
Lähmendes Entsetzen ergriff die anderen Krieger, als sie ihre Gefährten sterben sahen. Ihr Angriff geriet ins Stocken, und sie wollten fliehen. Aber Lieutenant Newcomb und seine Soldaten hatten ihnen zwischenzeitlich den Rückweg abgeschnitten und bedrohten sie nun von zwei Seiten. Trotz ihrer ausweglosen Lage gab es aber noch immer einige Krieger, die nicht aufgeben wollten. Voller Todesverachtung stürzten sie sich auf die Soldaten und schwangen ihre Kriegsbeile, nachdem sie ihre letzte Munition verschossen hatten..
Auch Matt Devlin musste um sein Leben kämpfen, als er auf einmal zwei Krieger entdeckte, die ihm gefährlich nahe gekommen waren. Er duckte sich und entging dadurch einem Beil, das nach ihm geschleudert wurde. Der Krieger riss nun sein Messer heraus und wollte seinen Angriff fortsetzen. Devlins Kugel stoppte ihn jedoch. Der Lakota brach zusammen und wirbelte eine kleine Schneewolke auf, als er zu Boden stürzte.
Der Scout wirbelte herum und wollte auf den zweiten Gegner zielen. Aber das brauchte er nicht mehr. Lieutenant Newcomb hatte erkannt, in welch brenzliger Lage Devlin steckte und war ihm zu Hilfe gekommen. Die Kugel aus der Waffe des jungen Offiziers streckte den Krieger nieder. Mit einem Röcheln ließ dieser sein Messer fallen, das er bereits gezückt hatte und das er Devlin in die Brust hatte stoßen wollen.
Devlin zuckte zusammen, als er einen Blick in das vor Schmerzen verzerrte Gesicht des Kriegers warf, der ihm nach dem Leben getrachtet hatte. Er erkannte ihn erst jetzt wieder. Sein Name war Crow Killer. Es hatte bis vor kurzem noch fast so etwas wie Freundschaft für den Lakota-Krieger empfunden – und es schien Devlin mittlerweile, als habe er all diese Erinnerungen nur geträumt. Das grell bemalte Gesicht Crow Killers spiegelte nur noch Hass wider. Selbst jetzt, wo ihn eine Kugel tödlich getroffen hatte.
Devlin erhob sich und stapfte durch den Schnee zu dem gefallenen Krieger. Die Schüsse und Schreie ringsherum schien er gar nicht mehr wahrzunehmen. Er hörte zwar Lieutenant Newcombs Befehle und auch seinen eigenen Namen, aber all dies kümmerte ihn nicht. Statt dessen beugte er sich seufzend über Crow Killer und sah den dunklen Blutfleck, der die Zeichnungen auf dem Geisterhemd schon fast unkenntlich gemacht hatten.
„Warum, Crow Killer?“, murmelte Devlin. „Ihr hättet euch besser ergeben sollen – dann wären einige von euch jetzt noch am Leben.“
Der tödlich verletzte Krieger erwiderte nicht sofort etwas darauf. Statt dessen drehte er mühsam den Kopf zur Seite und murmelte unverständliche Worte, als er einige der Krieger reglos im Schnee liegen sahen. Und diejenigen, die sich noch nicht ergeben hatten, wurden von den Soldaten erbarmungslos zusammen getrieben!
Sein Blick blieb einen Moment länger auf der Leiche eines anderen Kriegers haften, der nicht weit von ihm entfernt im Schnee lag. Tote Augen starrten Crow Killer anklagend an, und Devlin glaubte in diesem Moment, den Namen Black Fox verstanden zu haben, den der Sterbende von sich gab.
„Du...hast die Blaurock-Soldaten auf... unsere Spur geführt, Devlin“, wisperte Crow Killer. „Waren.. wir nicht einmal... Freunde?“
„Ich wäre es auch jetzt noch“, erwiderte Devlin. „Aber der Geistertanz hat alles verändert. Ihr hättet besser den Frieden wählen sollen, Crow Killer. Es war von Anfang an klar, dass ihr keine Chance hattet. Selbst mit euren Geisterhemden nicht.“
Über das Gesicht des Sterbenden zog ein Schatten, als er Devlins Worte hörte.
„Der... Prophet hat gelogen“, krächzte er. „Die...Hemden haben uns... nicht vor euren Kugeln... geschützt. Wovoka ist kein... Messias...“
Das hätte ich jedem von euch von Anfang an sagen können, grübelte Devlin im Stillen. Aber ihr habt euch so sehr an diese letzte Hoffnung geklammert, dass keiner von euch die brutale Wahrheit vertragen hätte.
„Du musst... Sitting Bull retten“, flüsterte Crow Killer mit einer Stimme, die so leise wurde, dass Devlin sie kaum noch verstehen konnte. Zum Glück war inzwischen der letzte Schuss verstummt, und die übrigen Krieger hatten sich ihrem Schicksal ergeben. Bewaffnete Soldaten umringten und fesselten sie. Anschließend wurden sie weiter hinunter gebracht.
„Kommen Sie, Devlin!“, rief ihm Lieutenant Newcomb zu. „Der Kampf ist vorbei!“
„Einen Augenblick noch!“, antwortete Devlin und beugte sich mit seinem Ohr ganz nahe über Crow Killers Lippen. Fieberhaft lauschte er dem Murmeln des Sioux-Kriegers. Einige Worte ergaben keinen Sinn, andere dagegen jagten ihm einen gewaltigen Schrecken ein.
„Henry Bull Head... will Sitting Bull... töten“, hörte er Crow Killer flüstern. „Ich habe... ihn und Agent McLaughlin... belauscht. Er und die anderen... Metal Breasts wollen ihn...“
Ein heftiger Hustenanfall erfasste Crow Killer und schüttelte seinen Körper. Ein Blutschwall trat über die Lippen des Kriegers. Mit einem Röcheln sank er zurück und tat seinen letzten Atemzug.
Devlins Miene war bitter, als er sich erhob und den toten Lakota betrachtete. Das Gefecht war nur von kurzer Dauer, dafür aber umso grausamer gewesen. Die Krieger, die aus dem Standing Rock Reservat geflohen waren, hatten ihre vermeintliche Freiheit kaum genießen können. Sie hatten sich alle in etwas verrannt, das wie eine Wolke des Unheils über ihrem gesamten Volk hing. Und mit diesem Unheil gingen zwei Namen einher: Wovoka und die Geistertanz-Religion.
„Hoffentlich ist dein Leben dort besser, wo du jetzt bist“, murmelte Devlin im Dialekt der Lakota und kehrte zurück zu Lieutenant Newcomb und den übrigen Soldaten. Einige von ihnen marschierten noch zwischen den Toten umher und hatten nur verächtliche Worte übrig für deren bemalte Geisterhemden, die die Krieger trugen.
„Jetzt sind sie selbst alle zu Geistern geworden, und das ist gut so!“, lachte einer der Soldaten, ein rothaariger Ire. Und sein Kamerad hatte ebenfalls nur Spott übrig für die Krieger, die sie alle getötet hatten.
Devlins Blick richtete sich auf Lieutenant Newcomb, der einem Sergeant und vier weiteren Männern befahl, gut auf die Überlebenden und Verwundeten zu achten. Eine schwere Aufgabe war das nicht, denn von den Kriegern waren nur noch fünf übrig geblieben.
„Hat er noch was gesagt, Devlin?“, wollte der junge Offizier von ihm wissen.
Zuerst hatte der Scout Newcomb die Wahrheit sagen wollen. Aber dann entschied er sich dagegen, weil ihm immer klarer wurde, dass Newcomb ihn niemals verstanden hätte. Für ihn waren alle Indianer Relikte aus der Vergangenheit, die in der neuen weißen Zivilisation keine Daseinsberechtigung mehr hatten. Und das hatten er und seine Soldaten an diesem Wintertag des 13. Dezember 1890 mehr als deutlich unter Beweis gestellt!
„Ich reite schon vor, wenn Sie nichts dagegen haben, Lieutenant“, sagte Devlin. „Sie brauchen mich hier ja nicht mehr.“
„Das stimmt“, grinste der Offizier. „Sie können Colonel Rutherford schon mal Bericht erstatten, dass wir einen Sieg auf der ganzen Linie erzielt haben. Dann wird man uns in Fort Yates wie Helden empfangen.“
„Wahrscheinlich“, erwiderte Devlin und wandte sich rasch ab, damit Newcomb nicht seinen Gesichtsausdruck sah. Er stapfte durch den Schnee zurück zu seinem Pferd, saß auf und ritt in südöstlicher Richtung davon.