Big Foot streckte seine Hände in Richtung des Feuer aus. Aber die flackernden Flammen vermochten ihn nicht zu wärmen. Die letzten Nächte waren sehr kalt gewesen, und der Winter hielt das gesamte Land fest im Griff. Eisiger Wind pfiff durch die Ritzen der Hütte und ließ ihn frösteln. Aber tief in seinem Herzen hatte sich noch eine schlimmere Kälte eingenistet. Eine Kälte, die mit jedem Tag immer deutlicher machte, dass er und sein Stamm zum Untergang verurteilt waren.
Ein Hustenreiz packte den alten Häuptling der Minneconjou-Sioux. Sekunden später wurde der dürre Körper Big Foots von einem heftigen Anfall geschüttelt. Seine Squaw, die sich ebenfalls in der Hütte befand, blickte besorgt auf Big Foot. Sie wusste von der schleichenden Krankheit, die ihn heimgesucht hatte und dafür sorgte, dass er in den letzten vier Wochen viel an Kraft verloren hatte. Aber sie behielt ihre Gedanken für sich. Nur ihre Blicke sprachen eine eindeutige Sprache, aber die bemerkte Big Foot nicht, weil sie ihm jetzt den Rücken zugewandt hatte.
„Was gibt es zu essen?“, fragte Big Foot, nachdem der Hustenanfall wieder abgeklungen war. Rasch hatte er sich die Blutflecken aus dem Mundwinkel gewischt und hoffte, dass es die Squaw nicht bemerkte.
„Maismehl“, erwiderte die Squaw. „Und die Reste Fleisch von gestern. Wir müssen sparsam damit umgehen, Big Foot. Du weißt, was Agent McLaughlin zu uns gesagt hat. Dass wir Geduld haben müssen, bis die nächsten Lebensmittel kommen. Was uns die Metal Breasts vor einigen Tageb gebracht haben, wird nicht mehr lange reichen. Dann beginnt der Hunger von neuem. Wir werden alle sterben und das Ende des Winters nicht mehr erleben...“
„Ich glaube nicht mehr daran, dass sich unsere Not bessert“, erwiderte der Häuptling abwinkend. Sein Herz war dunkel vor Kummer angesichts der schwierigen Situation, in der sich der gesamte Minneconjou-Stamm befand. Die letzte Lieferung war nicht mehr gewesen als ein Tropfen auf den heißen Stein! Es gab schon immer viel zu wenig zu essen, und im Stamm mehrte sich der Verdacht, dass die Weißen Big Foot und sein Volk absichtlich verhungern lassen wollten. Dabei war er doch einer derjenigen gewesen, die schon immer einen dauerhaften Frieden mit dem Großen Weißen Vater in Washington gewollt hatten.
Seltsamerweise schien man den Friedenswillen Big Foots nicht verstanden zu haben, denn sowohl Agent McLaughlin als auch einige der Soldatenhäuptlinge behandelten die Minneconjous schlimmer als Aussätzige. Selbst Sitting Bull in Standing Rock schien nichts dagegen unternehmen zu wollen.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er als junger Krieger zusammen mit Sitting Bull und Crazy Horse die Black Hills duchstreift und gegen die Weißen gekämpft hatte. Damals hatte der Stern der gesamten Sioux-Nation noch hell erstrahlt. Aber dieser Glanz war längst erloschen. Geblieben waren nur noch die Träume von einer besseren Zeit – und der Wunsch, am Leben zu bleiben.
Big Foot nahm einen Teller entgegen, auf dem sich etwas Maisbrei und ein winziges Stück Fleisch befanden. Er kam jedoch nicht mehr zum Essen, denn in diesem Moment vernahm er laute und aufgeregte Stimmen draußen vor der Hütte. Gefolgt von donnernden Hufschlägen, die sich dem Lager näherten.
Sofort stellte Big Foot den Teller beiseite und erhob sich ächzend. Als er die Tür öffnete und hinaus ins Freie trat, pfiff ihm der kalte Wind ins Gesicht und jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Seine Miene wirkte sehr angespannt, als er die Reiter sah, die sich dem Lager näherten. Und als er die ersten aufgeregten Rufe vernahm, erstarrte er zur Salzsäule.
„Sitting Bull ist tot!“, erklang es laut und deutlich. „Die Metal Breasts haben ihn getötet!“
Einer der Krieger zügelte jetzt sein Pferd direkt vor Big Foot. Der Minneconjou-Häuptling kannte ihn. Sein Name war Walks-into-the Sun. Big Foot registrierte den hasserfüllten Blick des Kriegers und sah, dass er sich kaum noch unter Kontrolle hatte.
„Was ist geschehen?“, fragte Big Foot.
„Sitting Bull wurde ermordet“, keuchte Walks-into-the-Sun. „Catch-the-Bear und einige andere Krieger wollten ihn schützen, aber die Übermacht der anderen Soldaten und Metal Breasts war größer. Sie kamen in der Nacht, und alles ging ganz schnell. Wir konnten nichts tun und sind geflohen, Big Foot. Können wir hier bleiben?“
„Wir sind alle ein Volk“, erwiderte Big Foot. „Wir besitzen nicht viel, aber wir werden es gerne mit euch teilen. Komm mit in mein Haus und berichte mir alles, was geschehen ist.“
Walks-into-the-Sun nickte und stieg ab. Man konnte ihm ansehen, was er und die anderen Überlebenden durchgemacht hatten. Er folgte Big Foot ins Haus, während sich die übrigen Stammesmitglieder um die anderen Flüchtlinge kümmerten. Zornige Stimmen wurden laut, als sich die schreckliche Nachricht in Windeseile verbreitete.
„Einige Frauen und Kinder haben sich retten können“, erzählte Walks-into-the-Sun weiter, nachdem er am Feuer Platz genommen und Big Foots Squaw ihm zu essen gegeben hatte. „Sie sind ebenfalls auf dem Weg hierher. Auch dieser Ort ist nicht mehr sicher, Big Foot. Die Blaurock-Soldaten werden kommen und uns alle umbringen. Nachdem Sitting Bull tot ist, gibt es niemandem mehr, vor dem sie Rücksicht nehmen.“
„Ich wünschte, Wovoka oder Kicking Bear wären jetzt hier“, murmelte Big Foot. „Sie würden uns allen neuen Kraft geben.“
„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll“, erwiderte Walks-into-the-Sun. „Der neue Messias hat uns nicht beschützt. Selbst die Geisterhemden haben die Krieger nicht gerettet. Vielleicht ist das alles nur eine einzige große Lüge.“
„Ich kann es dir nicht sagen“, seufzte Big Foot. „Aber mit einem hast du Recht: wir sind wirklich nicht mehr sicher hier. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns noch tiefer in die Badlands zurück ziehen. Dorthin können uns die Blaurock-Soldaten nicht so schnell folgen. Du weißt, dass dies ein heiliger Ort für unsere Völker ist. Vielleicht kommt dann Wovokas Geist zu uns."
„Weise Worte sind das“, murmelte Walks-into-the-Sun. „Wann wollen wir aufbrechen?“
„Noch in dieser Nacht“, erwiderte der alte, von seiner Krankheit sichtlich gezeichnete Häuptling. „Geh hinaus und sag es allen anderen. Es ist die einzige Möglichkeit, um unser Leben zu retten. Es sind schon viel zu viele gestorben. Das muss endlich aufhören.“
„Es muss eine Hoffnung geben“, sagte Walks-into-the-Sun. „Wenn nicht, dann...“
Er sprach diesen Gedanken nicht zu Ende. Aber Big Foot hatte auch so verstanden, was dem Krieger durch den Kopf ging. Rasch erhob er sich und verließ die Hütte des Minneconjou-Häuptlings.
„Packe alles zusammen, Frau“, sagte Big Foot zu seiner Squaw, die sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte. „Und beeil dich.“
„Es ist Winter, Big Foot“, gab die Squaw zu bedenken. „Auf dem Marsch in die Badlands werden einige sterben.“
„Wenn wir hier bleiben, dann werden alle tot sein“, sagte Big Foot und vollzog dabei eine Geste, die der Squaw klar machte, dass er sich von diesem Entschluss nicht mehr abbringen lassen würde.