Ziemlich gerädert wachte Devlin schon vor Sonnenaufgang auf. Er hatte schlecht geschlafen und geträumt. Er war erneut in Sitting Bulls Dorf gewesen und hatte den Tod des Häuptlings aus nächster Nähe miterlebt. Die Indianerpolizisten hatten auf ihn geschossen, und ein Offizier hatte sich ihm in den Weg gestellt, als er fliehen wollte. Aber bevor der Captain die Waffe auf ihn hatte richten können, war das Gespinst des Traumes der Wirklichkeit gewichen, und Devlin hatte erkannt, dass es nur ein Traum gewesen war, der ihn heimgesucht hatte.
Er stand auf, wusch sich und zog sich an. Er legte etwas Holz nach und war froh darüber, dass die Wärme in Zimmer noch angehalten hatte. Draußen ging mittlerweile die Sonne auf und vertrieb die letzten Schatten der Nacht.
Devlin trat zum Fenster und warf einen Blick auf die Straße. Zu dieser frühen Stunde war noch niemand im Freien zu sehen. Da sich der Angestellte des Telegraph Office bisher noch nicht bei ihm gemeldet hatte, beschloss er selbst, nach dem Rechten zu sehen. In der Hoffnung, dass General Miles Antwort zwischenzeitlich eingetroffen war.
Er verließ sein Zimmer und ging über die Treppe nach unten. Die Rezeption war nicht besetzt. Wahrscheinlich war der Mann auch zuhause bei seiner Familie und feierte Weihnachten. Devlin war jedoch nicht zum Feiern zumute. Nicht nach all dem, was er in den letzten Tagen gesehen und erlebt hatte. Das machte jeden Glauben an bessere Zeiten und Frieden zunichte.
Devlin ging hinaus ins Freie und spürte sofort die kalte Luft, die seinem Atem an diesem Morgen klar erkennen ließ. Das Telegraph Office befand sich fünfzig Yards entfernt auf derselben Straßenseite. Auf diesem Weg passierte Devlin auch das Palace Hotel, das größte und eleganteste Hotel in Camp Cheyenne. Ein Zimmer dort war weitaus großzügiger und luxuriöser eingerichtet, aber das konnte sich Devlin nicht leisten.
Im Vorbeigehen sah er drei Männer aus dem Hotel kommen. Zwei von ihnen kannte Devlin nicht – aber den dritten dafür umso besser. Es war David Parnell, und er lächelte auf eine Art und Weise, dass Devlin schon wieder einen unbeschreiblichen Zorn spürte. Die beiden anderen Männer verabschiedeten sich von Devlin mit einem kurzen Händedruck und gaben durch ihre Gesten zu verstehen, wie wichtig Devlin für sie war. Der genoss das natürlich und gab sich gönnerhaft. Er lachte so laut, dass es Devlin selbst auf der anderen Straßenseite hören konnte.
Dieses Lachen endete jedoch genau in dem Moment, als er Devlin erblickte. Wenn Blicke hätten töten können, dann hätte jetzt Devlins letzte Stunde geschlagen. Dieser Eindruck hielt jedoch nur für einen kurzen Moment an. Danach gab sich Parnell wieder bewusst joval, kehrte Devlin den Rücken zu und tat so, als existiere er für ihn nicht mehr. Aber Devlin wusste, dass dieser verdammte Bastard ihm noch nachschaute.
Aber hier in Camp Cheyenne war er sicher. Parnell würde es nicht wagen, einen zweiten Anschlag zu verüben. Dazu gab es zu viele Zeugen. Deshalb ging Devlin einfach weiter, bis er vor der Tür des Telegraph Office stand.
Wie er schon vermutet hatte, war die Tür noch verschlossen. Er sah jedoch in diesem Moment den Angestellten um die Ecke kommen. Er trug einen dicken Mantel und hatte es sehr eilig. Schuldbewusst blickte er zu Boden, weil er Devlins Gedanken erahnte.
„Tut mir Leid, Mister“, sagte er. „Ich konnte gestern abend nicht mehr ins Office gehen. Die Familie will zu Weihnachten auch was von mir haben. Kommen Sie rein – wir sehen jetzt gleich mal nach, ob Antwort gekommen ist...“
Rasch schloss er die Tür auf und trat ein. Devlin folgte ihm und bekam wenig später mit, dass wirklich eine Antwort eingetroffen war. Der Telegrafist entschlüsselte sofort die Nachricht und übergab Devlin dann das Blatt Papier. Was Devlin jetzt zu lesen bekam, erschütterte ihn zutiefst. Weil er niemals damit gerechnet hätte!
AN MATT DEVLIN las er die wenige Sätze. STRAFEXPEDITION GEGEN DIE SIOUX WIRD FORTGEFÜHRT. AUFSTAND MUSS MIT ALLEN MITTELN VERHINDERT WERDEN. KANN NICHTS ANDERES TUN FÜR SIE. GEZ.GENERAL NELSON A. MILES.
„Das gibt´s doch nicht...“, murmelte Devlin fassungslos. Er hätte gewettet, dass Miles seine Befürchtungen erkannt hatte und entsprechende Maßnahmen in die Wege leitete. Aber diese Antwort hier war noch schlimmer als ein Schlag ins Gesicht. Als wenn Devlin für den General ein Fremder war, dessen Warnung überhaupt nicht zählte.
„Da kann man wohl nichts mehr machen“, sagte der Telegrafist. „Aber versucht haben Sie es wenigstens. Kann ich jetzt wieder gehen? Meine Familie wartet auf mich...“
Im ersten Moment dachte Devlin daran, ein zweites Telegramm an General Miles zu schicken. Aber je gründlicher er darüber nachdachte, umso rascher kam er zu der Überzeugung, dass dies nichts bringen würde. Miles Entscheidung stand fest und war nicht mehr rückgängig zu machen. Und es sah ganz danach aus, als wenn irgend jemand bei dieser Entscheidung kräftig nachgeholfen hatte!
„Mr. Devlin!“, riss ihn die Stimme des Mannes aus seinen Gedanken. „Ist noch was?“
„Nein“, brummte Devlin und verließ das Office, ohne den Angestellten eines Blickes zu würdigen. Weil ihm verständlicherweise ganz andere Dinge durch den Kopf gingen.
Ich weiß nicht, wie sie das geschafft haben, grübelte Devlin vor sich hin. Aber irgendwie ist es ihnen gelungen, Miles auf ihre Seite zu ziehen. Vielleicht haben sie ihn sogar unter Druck gesetzt? Wenn Miles das zulässt, dann ist das ein deutliches Zeichen dafür, welche Interessen hier auf dem Spiel stehen. Ich bin nicht mehr als ein kleines Sandkorn in einem gefährlichen Wüstensturm...
Noch während er das dachte, hörte er plötzlich Hufschläge vom anderen Ende der Straße. Devlin blickte überrascht drein, als er einen Trupp von 10 Soldaten entdeckte, der von Lieutenant Newcomb angeführt wurde. Im ersten Moment wollte er die Straße überqueren und zu den Soldaten gehen. Er unterließ es aber, als ihm klar wurde, was das Ziel des kleinen Trupps war – nämlich das Palace Hotel. Und dort stand schon jemand, der offensichtlich die Ankunft der Soldaten bereits erwartete: David Parnell!
Auch Sergeant Buck Elwood war mit dabei. Elwood hatte im Gegensatz zu Lieutenant Newcomb den ehemaligen Scout längst erspäht. Devlins Unruhe wuchs, als er bemerkte, dass der Sergeant ihm einen kurzen, aber umso eindeutigen Wink gab, sich jetzt und hier zurück zu halten. Das machte Devlin natürlich noch neugieriger.
Gespannt wartete er ab, was weiter geschah und beobachtete aus einiger Entfernung, wie Lieutenant Newcomb abstieg und von Parnell freundlich begrüßt wurde. Anschließend gingen die beiden ins Hotel, während die Soldaten draußen warten mussten.
Sergeant Elwood stieg ebenfalls ab und sagte seinen Kameraden, dass er sich mal kurz die Beine vertreten und sich drüben im Store kurz umschauen wollte. Als Devlin das hörte, änderte er seine Position und näherte sich dem Store von einer anderen Seite. Die Soldaten bemerkten nicht, wie er kurz nach Elwood den Store betrat.
„Ich will mich nur mal umschauen, Mrs. Jenkins“, hörte er Elwood sagen. „Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich was gefunden habe.“
Die ältere Frau zog sich daraufhin zurück, als sie erkannte, dass auch der zweite Kunde eine ähnliche Geste von sich gab. Devlin wartete ab, bis die Frau im angrenzenden Raum verschwunden war und ging dann sofort auf den Sergeant zu.
„Was ist hier los, Buck?“, wandte er sich mit leiser Stimme an ihn. „Was hat Newcomb mit diesem Aasgeier Parnell zu schaffen?“
„Order von Colonel Sumner persönlich, Matt“, erwiderte Elwood. „Sei froh, dass du nicht mehr bei unserem Verein bist, sonst säßest du jetzt auf verdammt heißen Kohlen. Gestern abend kam ein Telegramm von General Miles. Die Strafexpedition gegen alle Geistertänzer ist beschlossene Sache – und diesmal geht es gegen die Minneconjous und Big Foot. Schau mich nicht so entgeistert an – ich weiß selbst, dass der alte Häuptling im Grunde genommen ein friedlicher Zeitgenosse ist. Aber er hat einige Flüchtlinge aus Sitting Bulls Stamm aufgenommen, und daraus wollen sie ihm jetzt einen Strick drehen. Hast du nicht gesagt, General Miles wäre ein Freund von dir?“
„Das hatte ich auch gedacht“, seufzte Devlin. „Aber der Indian Ring hat ihn offensichtlich mit ganz speziellen Mitteln davon überzeugt, gegen die Sioux zu kämpfen. Hier stehen mächtige Interessen auf dem Spiel, Buck. Ich bin sicher, dass Parnell mehr dazu sagen könnte.“
„Es gehen Gerüchte um, dass du was mit dem Tod der beiden Revolvermänner zu tun hast, die bei Parnell waren, Matt“, sagte Elwood und senkte seine Stimme bei diesen Worten noch mehr. „Man hat sie tot im Wald gefunden. Es hat einen Kampf gegeben. Du solltest Camp Cheyenne besser wieder verlassen, Matt.“
„Erst wenn ich weiß, was hier wirklich gespielt wird, Buck. Sag mir lieber, was Newcomb mit Parnell zu besprechen hat. Weißt du Näheres?“
„Du kennst doch unseren Lieutenant und weißt, wie redselig er manchmal ist, Matt“, sagte Elwood. „Daher kann ich dir wirklich etwas sagen. Sumner hat Order gegeben, Big Foots Stamm zu verfolgen und einzukesseln. Sie sollen mit Gewalt gezwungen werden, sämtliche Waffen abzugeben und innerhalb der Grenzen des Reservates zu bleiben. Colonel James Forsyth und eine Schwadron der 7th Cavalry sind den Minneconjous hart auf den Fersen. Die 7th Cavalry hat die Niederlage von Little Big Horn noch nicht vergessen. Ich befürchte, dass man sich ausgerechnet jetzt sehr gut daran erinnern wird.“
„Wir müssen was unternehmen, Buck“, murmelte Devlin. „Wir können doch nicht einfach tatenlos zusehen, wie...?“
„Was sollen wir denn tun?“, fiel ihm der Sergeant ins Wort. „Es ist doch alles längst beschlossene Sache. Alle Verantwortlichen wussten es – nur uns sagt man es erst im letzten Moment. Matt, die Sache kann mich Kopf und Kragen kosten, und das riskiere ich nicht, wenn ich die Befehle verweigere. Ich kann nicht einfach...“
„Schon gut, ich habe verstanden“, winkte Devlin ab. „Gut, dass ich weiß, was ich von dir zu halten habe, Buck.“
Er wandte sich ab und ließ seinen ehemaligen Kameraden einfach stehen.
„Warte doch mal, Matt!“, hörte er Elwood rufen. „Wo willst du denn jetzt hin?“
„Darüber brauchst du dir den Kopf nicht zu zerbrechen, Buck“, sagte Devlin und verließ den Store. Elwood rief ihm noch etwas hinterher, aber das nahm Devlin nur am Rande wahr. Seine Gedanken kreisten jetzt um ganz andere Dinge.
Er ging zurück ins Hotel, packte alles zusammen und bezahlte seine Rechnung. Anschließend ging er zum Mietstall, sattelte das Pferd, saß auf und verließ Camp Cheyenne. Er wusste jedoch nicht, dass zu dieser Stunde das Schicksal bereits eine verhängnisvolle Entscheidung getroffen hatte...