Parnells Gedanken beschäftigten sich längst mit anderen Dingen. Das Kapitel Wounded Knee gehörte für ihn schon der Vergangenheit an, obwohl die Toten noch nicht beerdigt waren. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und rollte eine Karte aus, die im Detail die Gebiete rund um die Badlands und die beiden Reservate Standing Rock und Pine Ridge zeigten. Im Geiste malte er sich schon aus, welche Dimensionen die zukünftigen Geschäfte mit dem freien Land annehmen würden. Und ganz sicher würde er sich von diesem großen Kuchen eine ordentliche Scheibe abschneiden!
Draußen hatten die Böllerschüsse mittlerweile nachgelassen, und die meisten Bewohner der Stadt feierten in den Saloons oder zuhause weiter. Eigentlich wurde es nun auch für Parnell Zeit, langsam Schluss für heute zu machen. Denn morgen hatte er noch genug zu tun.
Er war gerade dabei, seine Jacke auszuziehen, als er plötzlich ein leises Schaben in Fensternähe vernahm. Unwillkürlich schaute er zum Fenster, konnte aber nichts erkennen. Wahrscheinlich war es eine Katze, die von den zahlreichen Böllerschüssen aufgeschreckt worden war und Zuflucht auf den Dächern der umliegenden Häuser suchte.
Erneut hörte er wieder das gleiche Geräusch. Diesmal schien es von einer Stelle zu kommen, die sich direkt oberhalb seiner Zimmerdecke befand. Langsam wurde Parnell nervös. Die wenigen Stunden, die ihm noch blieben, wollte er wenigstens in Ruhe durchschlafen. Deshalb ging er zum Fenster, öffnete es und spähte hinaus in die Nacht.
Ein kalter Luftschwall drang herein und ließ ihn kurz frösteln, während er seine Blicke in die Runde schweifen ließ. Vom Fenstersims blickte er auf das direkt darunter liegende Vordach, und von dort aus seitlich hinauf zum Dach des Hotelgebäudes.
Plötzlich erklang das Geräusch ganz nahe bei ihm. Den Schatten bemerkte er erst, als es schon zu spät war. Eine Faust packte ihn am Kragen seines Hemdes, zog ihn über die Fensterbrüstung und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht, der Parnell mit einem überraschten Schrei zurück taumeln ließ.
Während der Geschäftsmann nach hinten fiel und hart auf dem Boden aufkam, nutzte die schattenhafte Gestalt diese wenigen Sekunden, um sich geschmeidig wie eine Katze über die Fensterbrüstung zu schwingen.
„Das...das ist doch...“, keuchte Parnell fassungslos, als er seinen nächtlichen Besucher erkannte.
„Späte Gäste kommen manchmal sehr überraschend“, sagte Matt Devlin und zielte mit dem Revolver auf Parnells Magen. „Machen Sie jetzt keine Dummheiten, Parnell. Sonst sind sie gleich tot. Stehen Sie ganz langsam auf und gehen sie dort rüber zu Ihrem Schreibtisch. Wird´s bald?“
Parnell stöhnte. Er schmeckte Blut auf den Lippen, wo ihn Devlins Schlag getroffen hatte. Mühsam rappelte er sich auf und blickte nervös um sich.
„Keinen verdächtigen Laut!“, warnte ihn Devlin. „Ich schieße sofort...“
„Was wollen Sie hier?“, fragte Parnell mit gehässiger Stimme. „Sie kommen ohnehin zu spät, Devlin. Falls Sie es noch nicht mitbekommen haben sollten: die Sache mit den Sioux hat sich mittlerweile erledigt.“
Allein für dieses hämische Grinsen hätte ihm Devlin am liebsten eine Kugel in den Kopf gejagt. Aber es standen wichtigere Dinge auf dem Spiel als jetzt weiter an Rache zu denken. Deshalb zeigte Devlin mit seinem Revolver nochmals auf den Schreibtisch.
„Setzen Sie sich hin und nehmen Sie ein Blatt Papier“, forderte Devlin den Geschäftsmann auf. „Und dann schreiben Sie das, was ich Ihnen gleich sage. Worauf warten Sie noch? Setzen Sie sich endlich – oder soll ich Ihnen auf die harte Weise beibringen, wer jetzt am längeren Hebel sitzt?“
„Ich lasse Sie jagen wie einen Schwerverbrecher, Devlin“, keuchte Parnell. „Sie glauben doch nicht wirklich, dass Sie so einfach davon kommen?“
„Ihre beiden Revolverschwinger dachten auch, dass sie leichtes Spiel mit mir hätten“, erwiderte Devlin mit einem kalten Grinsen. „Sie haben aber trotzdem den Kürzeren gezogen. Daran erinnern Sie sich bestimmt noch, oder? Also lassen Sie die Sprüche bleiben. Ich bin dafür nicht empfänglich...“
Man konnte Parnell ansehen, dass er fieberhaft nach einer Lösung suchte. Aber angesichts der auf ihn gerichteten Waffe blieben ihm kaum Chancen. Dieser elende Hundesohn Devlin hatte jetzt die besseren Karten.
„Woher wissen Sie eigentlich, wo ich...?“, fragte Parnell und hielt inne, als Devlin einen Schritt näher kam und den Hahn des Revolvers spannte. Das Knacken ging Parnell durch Mark und Bein und ließ ihn noch blasser werden als es ohnehin schon der Fall war.
„Ich bin schon länger im Camp Cheyenne als Sie vermuten, Parnell“, klärte ihn Devlin auf. „Ich habe mich unauffällig in der Stadt umgehört und so Ihr sauberes Spiel mitbekommen, das Sie morgen mit den Reportern planen. Sie wollen sich als den großen Sieger feiern lassen, der den Siedlern neues Land versprochen hat und dies jetzt einlösen will. Aber dieses Land ist mit dem Blut von Frauen und Kindern getränkt. Sie waren nicht dabei, als Big Foot und seine Minneconjous getötet wurden – aber ich habe es gesehen. Das sind Bilder, die ich nie wieder vergessen werde. Dafür büßen Sie jetzt auf ihre Weise. Und zwar so, dass auch Sie etwas davon spüren. Indem Ihr guter Ruf schneller erlischt wie eine Kerzenflamme im Wind. Los, schreiben Sie jetzt!“
Er presste den Lauf seines Revolvers an Parnells Schläfe. Der Geschäftsmann begann zu zittern. Feine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und die Hände zitterten.
„Verdammt, nehmen Sie endlich den Revolver weg, Devlin“, sagte er mit gezwungener Ruhe zu dem Scout. „Ich schreibe, was Sie wollen...“
„Gut, dann fangen Sie an“, sagte Devlin und trat einen Schritt zurück. „Und zwar folgendes: ich, David Parnell, erkläre hiermit an Eides Statt, dass ich die Verantwortung für das Massaker bei Wounded Knee übernehme. Ich habe mittels meiner Beziehungen nach Washington Druck auf führende Offiziere der Armee ausgeübt und sie bestochen, gegen die Sioux und Minneconjous vorzugehen. Colonel E.V. Sumner und andere Offiziere wurden von mir bestochen, damit sie den Indianern im Reservat den Krieg erklären...“
Er hob sofort wieder den Lauf seines Revolvers an, als er bemerkte, dass Parnell bei einigen Sätzen kurz zögerte. Parnells Blicke waren eine Mischung aus Zorn und Angst, weil er sich mit diesem Geständnis natürlich ins politische und geschäftliche Aus manövrierte, sobald das in den Zeitungen stand.
„Sind Sie fertig?“, fragte Devlin. „Dann geben Sie mir das Papier.“
„Sie können es ja noch mal durchlesen“, brummte Parnell. „Ich habe alles so aufgeschrieben, wie Sie es gesagt haben. Hier, nehmen Sie...“
Er reichte Devlin das Papier. Devlin bemerkte, dass es in den Augen des Geschäftsmannes aufblitzte. Sekunden später wusste Devlin auch den Grund dafür. Parnells Hand fuhr plötzlich unter dem Tisch hoch. In der rechten Hand hielt er einen Revolver, den er offensichtlich in der Schublade bei dem Papier verborgen gehalten hatte.
„Bastard!“, rief Parnell und drückte ab.
Devlins Instinkte retteten ihn vor dem sicheren Tod. Er duckte sich, und die Kugel pfiff haarscharf an seinem Kopf vorbei. Zu einem zweiten Schuss kam Parnell aber nicht, denn Devlin war schneller. Er riss den Revolver hoch, zielte kurz auf den Geschäftsmann hinter dem Schreibtisch und drückte ab. Seine Kugel traf Parnell in die Brust und stieß ihn zurück.
Ein lautes Stöhnen kam über Parnells Lippen, als er in seinem Stuhl zusammen sank. Auf dem blütenweißen Hemd bildete sich ein dunkelroter Fleck, der rasch größer wurde. Mühsam hob er den Kopf und wollte noch etwas sagen, aber das schaffte er nicht mehr. Parnell war Sekunden später tot.
Devlin fluchte leise. Jetzt war alles anders gekommen, wie er es geplant hatte. Er musste so schnell wie möglich weg hier, denn die Schüsse waren mit Sicherheit gehört worden. Wenn man ihn jetzt erwischte, dann nützte auch das schriftliche Geständnis nichts mehr. Man würde ihn verhaften, einsperren und wegen Mordes den Prozess machen.
Devlin eilte zurück zum Fenster und schaute kurz hinaus. Direkt vor dem Hotel hielt sich niemand mehr auf. Die Menschen waren zurück in ihre Häuser gegangen und feierten dort weiter. Nur im Saloon, der sich ein Stück entfernt auf der anderen Straßenseite befand, ging es noch hoch her.
In diesem Moment erklangen draußen Schritte, die vor der Zimmertür Parnells stoppten. Devlin zuckte zusammen, als er eine nervös klingende Stimme hörte.
„Mr. Parnell? Ich bin´s – Colonel Sumner. Kann ich Sie noch mal kurz stören? Ich habe noch was vergessen...“
„Kommen Sie rein – die Tür ist offen“, erwiderte Devlin geistesgegenwärtig mit verstellter Stimme. Er trat zurück und stellte sich hinter die Tür. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie Sumner öffnete.
Der Colonel wusste gar nicht, wie ihm geschah, als er das Zimmer betrat und plötzlich eine Hand nach ihm griff und zur Seite zerrte. Abwehrend hob er die Hände, als er mit erstauntem Blick Devlin erkannte, aber die Überraschung war auf der Seite des ehemaligen Scouts.
Der kalte Stahl seines Revolverlaufs traf den Colonel an der Schläfe und ließ ihn zusammenbrechen. Devlin wollte kein Risiko eingehen und schlug deshalb noch einmal zu. Die ganze Sache hatte nur wenige Sekunden gedauert.
Rasch schloss er die Zimmertür, griff nach der Waffe, mit der Parnell ihn hatte austricksen wollen und drückte sie dem bewusstlosen Colonel Sumner in die Hand. Dann ließ er das schriftliche Geständnis Parnells achtlos zu Boden fallen.
Devlin ging er zum Fenster, öffnete es und kletterte rasch ins Freie. Er schloss das Fenster sofort wieder und bekam in diesem Moment mit, wie vor der Zimmertür aufgeregte Stimmen zu hören waren.
Devlin kletterte rasch über ein Seitendach nach unten und atmete auf, als er sicheren Boden unter den Füßen hatte. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb und konnte nur hoffen, dass derjenige, der den toten Parnell und den bewusstlosen Colonel dort vorfand, genau die richtigen Schlüsse daraus zog. Auf jeden Fall würde Colonel Sumner einige unangenehme Fragen angesichts dieses Geständnisses beantworten müssen, und das war im Hinblick auf seine weitere Karriere alles andere als positiv.
Devlin erreichte kurze Zeit später den Mietstall. Er holte sein Pferd aus der Box, das er bereits gesattelt hatte, bevor er sich zum Hotel geschlichen hatte. Er stieg in den Sattel und ritt hinaus auf die Straße. Drüben vor dem Hotel erklangen aufgeregte Rufe. Jemand brüllte laut nach dem Sheriff. All das nahm Devlin aber nur noch am Rande wahr, als er unbemerkt Camp Cheyenne verließ und in der nächtlichen Winterlandschaft untertauchte.