„Was für eine Kälte!“, beklagte sich Henry Boyd und schlug den Kragen seines Mantels höher. „Dieser verdammte Blizzard hat alles in Frost erstarren lassen. Wenn ich das gewusst hätte, dass der Blizzard hier draußen so wütet, dann hätte ich es mir ganz sicher anders überlegt...“
„Halt den Mund, Henry“, wies ihn Tom Doohan zurecht, der zusammen mit zwanzig weiteren Zivilisten am Neujahrstag Captain Fetchets Trupp zum Schlachtfeld am Wounded Knee Creek begleitete. „Das ist gutes Geld, das wir heute verdienen können. Also beklag dich nicht.“
„Bin schon gespannt, wie viele Tote es sind, die wir unter die Erde bringen müssen“, brummte Boyd. „Wenn ich am Ende des Tages dreißig Dollar bekomme, dann hat sich die Sache schon gelohnt für mich.“
„Du hast doch gehört, was Captain Fetchet eben gesagt hat“, erinnerte ihn Doohan. „Der ganze Minneconjou-Stamm ist vernichtet worden. Da gibt es einiges zu tun. Die Sache wäre schon längst erledigt gewesen, wenn der Blizzard nicht gekommen wäre. Und jetzt beklag dich nicht länger. Wir sind ja gleich da. Da drüben hinter den Hügeln muss irgendwo der Wounded Knee Creek sein. Eine gottverdammte Einöde ist das hier. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es ein Mensch in dieser klirrenden Kälte hier draußen überhaupt aushält...“
Boyd erwiderte nichts darauf, sondern blickte gespannt nach vorn. Genau wie die Soldaten unter Captain Fetchets Führung. Die Sonne war hinter dichten Wolken verborgen, aber wenigstens schneite es nicht. Allerdings erstickte das Land unter der weißen Pracht, die der Blizzard mit sich gebracht hatte. Die bekannten Wege waren tief verschneit, und die Bäume ächzten unter das Last des Schnees.
Es war ein beschwerliches Vorwärtskommen. Immer wieder mussten die Männer helfen, die im Schnee steckenden Wagen mit vereinten Kräften wieder frei zu bekommen. Entsprechend langsam ging es weiter, aber eine knappe Stunde später erreichten sie schließlich ihr Ziel.
Auch Captain E.G.Fetchet war erleichtert, dass diese Strapazen endlich hinter ihm lagen. Obwohl er wusste, dass die eigentliche Arbeit jetzt erst begann. Er ahnte schon, dass es nicht leicht werden würde, denn die Leichen der Indianer waren größtenteils von Schnee bedeckt und nur schwer zu finden. Sie würden den ganzen Tag über alle Hände voll zu tun haben, um das zu erledigen, was der letzte Akt in diesem Drama war.
„Da hinten!“, rief einer der Zivilisten und zeigte ganz aufgeregt auf eine Stelle unterhalb des Hügels. „Da liegen einige Tote.“
„Absteigen!“, erschallte Fetchets Kommando. „Sergeant Elwood, nehmen Sie zehn Männer und einige Zivilisten. Sie halten sich dort drüben auf und suchen nach Leichen. Die anderen folgen Corporal Masters und heben da drüben ein Grab aus. Beeilung – ich will, dass die Sache erledigt ist, bevor es dunkel wird.“
Captain Fetchets Laune war nicht die allerbeste, weil man ihn für diesen schmutzigen Job ausgewählt hatte. Aber er würde alles tun, um seinen Namen ins rechte Licht zu rücken. Zumal Colonel Sumner einige Probleme bekommen würde. Er wusste nicht genau, was in Camp Cheyenne geschehen war, und es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Er erinnerte sich aber umso besser an McLaughlins Worte, der ihm versprochen hatte, dass in den nächsten Wochen Fetchet seine Chance bekommen würde. Mittlerweile wusste Fetchet genug über den Indianeragenten, um dessen Andeutungen einzuschätzen.
Einer der Wagen hielt auf der Anhöhe, auf der Tage zuvor die 7th Cavalry die Hotchkiss-Kanonen in Stellung gebracht hatte. Genau dort sollte das erste Grab ausgehoben werden. Das war eine schweißtreibende Arbeit, weil er Boden noch gefroren war und die oberste Schicht sich nur schwer bewegen ließ. Aber die Männer hatten Pickel und Schaufeln dabei und gingen ans Werk.
Sergeant Elwood hatte große Mühe, seine Empfindungen unter Kontrolle zu halten, als er die Toten sah. Männer, Frauen und Kinder lagen im Schnee. Die Augen der Kinder waren vor Entsetzen weit aufgerissen und im Tode erstarrt. Eine Mutter hatte versucht, eines der Kinder zu schützen, indem sie mit ihrem Körper die Kugeln aufgefangen hatte. Trotzdem hatte das Kind nicht erlebt, sondern war in der Kälte der einsetzenden Nacht erfroren. Der Gesichtsausdruck wirkte dennoch wie eine Anklage, und Elwood zitterte, als er das sah.
„Da drüben liegt Big Foot!“, rief einer der Soldaten. „Seht mal, wie komisch das aussieht! Er streckt ja die Hand hoch...“
Elwwod sah den erfrorenen Körper des alten Mannes, der den rechten Arm zum Himmel empor gereckt hatte. Die Kälte des Blizzards hatte ihn zu einer skurrilen menschlichen Statue erstarren lassen. Zwei Männer packten den Toten, befreiten ihn aus dem Schnee und warfen ihn auf den Wagen. Mit einem dumpfen Geräusch prallte der Leichnam auf die Holzbretter. Elwood zuckte zusammen. Ihm wurde übel, und er murmelte einen leisen Fluch.
Die Zivilisten aus Camp Cheyenne stritten sich sogar gegenseitig darum, wer die meisten Toten aus dem Schnee geborgen hatte. Wahrscheinlich malten sie sich im Geiste aus, wieviel Geld sie nach diesem Job mit nach Hause nehmen und so ihr karges Einkommen deutlich aufbessern konnten.
Mehrere Stunden vergingen, in denen Soldaten und Zivilisten über das Schlachtfeld gingen und die Toten einsammelten. Gelächter und laute Flüche untermalten das Szenario des Schreckens, das vor dem menschlichen Leben und der Würde eines geknechteten Volkes keinen Halt machte.
Sie brachten die Leichen zum Grab und warfen sie einfach hinein. Die teilweise von den Kugeln schrecklich zugerichteten Körper der kleinen Kinder waren ein furchtbarer Anblick, aber das kümmerte keinen der Männer. Nur Elwood blickte immer wieder hinauf zum grauen Himmel und fragte sich, warum solche Dinge eigentlich geschehen mussten und ob Gott gerecht war. Aber er würde niemals eine Antwort darauf erhalten, denn Gott verhüllte sein Antlitz an diesem Tag und schwieg. Und Elwood wusste, dass auch die Geistertanz-Religion bald verschwunden sein würde.
Am späten Nachmittag hatte der Begräbnistrupp seine traurige Arbeit verrichtet. Ein großer Erdhügel wölbte sich über der Stelle, an der die Leichen von Dutzenden von Indianern vergraben worden waren. Ohne Würde, ohne Gebet und ohne Religion. Einige der Geisterhemden, die die Krieger getragen hatten, lagen noch draußen auf dem Schlachtfeld. Ein Zivilist hatte das einem der toten Indianer vom Körper gerissen und sich abfällig darüber geäußert.
All dies hatte Sergeant Elwood registriert. Genau so wie die Tatsache, dass einige der Soldaten, mit denen er viele Jahre gedient hatte, sich stark verändert hatten. In dieser Stunde zeigten sie ihren Hass und ihre Verachtung so deutlich, dass Elwood das kaum noch ertragen konnte.
Da wusste Elwood, dass auch für ihn der Moment gekommen war, um seinen Abschied zu nehmen. Er konnte und wollte nicht länger die blaue Uniform tragen, denn er empfand Schande und Hilflosigkeit angesichts dieser schrecklichen Bilder von Wounded Knee, die er bis zum Ende seines Lebens nicht mehr vergessen würde.
Hoffentlich geht die Sonne bald unter, dachte der Sergeant im Stillen. Ich kann das alles nicht mehr sehen. Über diesen Tag wird man noch lange reden – und ich werde auch dafür sorgen, dass der Name Wounded Knee nicht mehr in Vergessenheit gerät. Matt hat es gewusst. Ich hätte besser mit ihm gehen sollen...