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Am letzten Tag ihres zweihundertsiebenundvierzig Jahre währenden Lebens beendete die blinde Poetin, Wundertätige und Prophetin Pampa Kampana ihr gewaltiges Prosagedicht über Bisnaga und begrub es in einem wachsversiegelten Tonkrug im Herzen des verfallenen Königsbezirks, eine Botschaft an die Zukunft. Viereinhalb Jahrhunderte später fanden wir diesen Krug und lasen zum ersten Mal ihr unsterbliches Meisterwerk, genannt Jayaparajaya , was so viel wie »Sieg und Niederlage« bedeutet, mit vierundzwanzigtausend Versen lang wie das Ramayana und verfasst in Sanskrit, ein Buch, in dem sie uns all jene Geheimnisse des Reiches verriet, die sie mehr als einhundertsechzigtausend Tage vor der Geschichte verborgen gehalten hatte. Wir kannten nur die übrig gebliebenen Ruinen, und auch unsere Erinnerung an die Geschichte des Reiches lag in Trümmern, zerstört vom Lauf der Zeit, den Unzulänglichkeiten der Erinnerung, den Verfälschungen der Nachgeborenen. Durch die Lektüre von Pampa Kampanas Buch aber wurde die Vergangenheit zurückgewonnen, das Reich Bisnaga so wahrhaft wiedergeboren, wie es einst gewesen war, mit seinen Kriegerinnen, den Goldbergen, der Großmut des Geistes und seinen Zeiten der Kleingeistigkeit, seinen Schwächen und Stärken. Zum ersten Mal vernahmen wir die vollständige Kunde jenes Königreichs, das begann und endete mit einem Brand und einem abgeschlagenen Kopf. Dies hier nun ist seine Geschichte, in schlichterer Sprache nacherzählt von einem Autor, der weder Gelehrter ist noch Poet, nur jemand, der gern Fäden spinnt und diese Version zur schlichten Unterhaltung und vielleicht auch zur Erbauung heutiger Leser darbietet, der alten wie der jungen, der gebildeten und nicht so gebildeten, jenen, die auf der Suche nach Weisheit sind, und jenen, die Narreteien kurzweilig finden, jenen aus dem Norden und jenen aus dem Süden, den Anhängern diverser Götter oder auch keines Gottes, den Weitherzigen und Engstirnigen, Männern und Frauen sowie allen Geschlechtern dazwischen und darüber hinaus, adligen Nachkommen und einfachen Bürgern, guten Menschen und Bösewichten, Scharlatanen und Ausländern, genügsamen Weisen und selbstsüchtigen Trotteln.

Bisnagas Geschichte begann im vierzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung im Süden dessen, was wir heute Indien nennen, Bharat oder auch Hindustan. Der alte König, dessen von den Schultern kullernder Kopf alles in Gang setzte, machte als Monarch nicht viel her, war er doch einer vom Schlag jener minderen Herrscher, wie sie zwischen dem Niedergang eines großen Königreichs und dem Aufstieg des nächsten den Schauplatz der Geschichte betreten. Er hieß Kampila, stammte aus dem winzigen Fürstentum Kampili und war »Kampila Raya«, wobei mit raya die regionale Form von raja , also König, gemeint ist. Diesem zweitklassigen raya blieb auf seinem drittklassigen Thron gerade mal genügend Zeit, eine viertklassige Burg an den Ufern des Flusses Pampa zu bauen, darin einen fünftklassigen Tempel zu errichten und in den Fels eines steinigen Bergs einige vollmundige Inschriften meißeln zu lassen, ehe die Armee aus dem Norden nach Süden zog und ihn sich vorknöpfte. Die nachfolgende Schlacht war eine recht einseitige Angelegenheit und so unbedeutend, dass sich niemand die Mühe machte, ihr einen Namen zu geben. Kaum hatten die Soldaten aus dem Norden Kampila Rayas Truppen besiegt und einen Großteil seiner Armee niedergemetzelt, packten sie sich den Möchtegernkönig und schlugen ihm das ungekrönte Haupt ab, stopften es mit Stroh aus und schickten es nach Norden dem Sultan von Delhi zum Pläsier. An der namenlosen Schlacht war weiter nichts erwähnenswert, auch nicht am Kopf. Schlachten waren in jenen Tagen ein alltägliches Vorkommnis, weshalb es vielen Leuten nicht der Mühe wert schien, ihnen einen Namen zu geben; und abgeschlagene Köpfe reisten immerzu kreuz und quer durch unser großartiges Land, um diesem oder jenem Fürsten eine Freude zu machen. Der Sultan in der Hauptstadt im Norden besaß davon bereits eine beachtliche Sammlung.

Nach der unbedeutenden Schlacht kam es jedoch überraschenderweise zu einem Ereignis, das den Lauf der Geschichte ändern sollte. Man erzählt sich, die Frauen des winzigen besiegten Königreichs, viele nach der namenlosen Schlacht frisch verwitwet, hätten die viertklassige Burg verlassen, nachdem ein letztes Mal im fünftklassigen Tempel ein Opfer dargebracht worden war, um dann in kleinen Booten den Fluss zu überqueren, dem aufgewühlten Wasser zu trotzen, so unwahrscheinlich dies auch klingen mag, am Südufer eine Weile gen Westen zu wandern, einen großen Scheiterhaufen anzuzünden und in den Flammen Massenselbstmord zu begehen. Feierlich und klaglos verabschiedeten sie sich voneinander und schritten ohne zu zaudern ins Feuer. Als das Fleisch zu brennen begann und der Gestank des Todes sich verbreitete, wurden keine Schreie laut. Sie verglühten in aller Stille; nur das Knistern der Flammen war zu hören. Pampa Kampana hat dies gesehen. Es war, als schickte das Universum selbst ihr eine Botschaft, die besagte: Spitz deine Ohren, atme und lerne. Sie war neun Jahre alt, schaute mit Tränen in den Augen zu und hielt die Hand ihrer trockenäugigen Mutter so fest wie nur möglich, während all die vielen Frauen, die sie kannte, ins Feuer gingen und im Herzen der Glut hockten, standen oder lagen, wobei ihnen Feuerlohen aus Augen und Mündern spien: die alte Frau, die alles gesehen, und die junge Frau, deren Leben gerade erst begonnen hatte; das Mädchen, das ihren Vater hasste, den toten Soldaten; und die Frau, die sich für ihren Ehemann schämte, weil er sein Leben nicht auf dem Schlachtfeld hingegeben hatte; die Frau mit der schönen Stimme, die Frau mit dem Angst einflößenden Lachen und die Frau dürre wie ein Ästchen und die Frau dick wie eine Melone. Ins Feuer gingen sie, und Pampa würgte vom Gestank des Todes, als sie plötzlich mit Entsetzen bemerkte, wie ihre Mutter Radha Kampana sich sanft von ihrer Hand löste und langsam, aber mit unbeirrbarer Überzeugung voran ins Feuer der Toten schritt, ohne sich von ihrer Tochter auch nur zu verabschieden.

Pampa Kampana, die ihren Namen teilte mit dem Fluss, an dessen Ufern dies geschah, sollte den Geruch vom brennenden Fleisch der Mutter für den Rest ihres Lebens in der Nase behalten. Errichtet wurde der Scheiterhaufen aus duftendem Sandelholz, dem man reichlich Nelken, Knoblauch, Kreuzkümmelsamen und Zimtstangen beigegeben hatte, als wollte man aus den brennenden Frauen ein gut gewürztes Gericht zubereiten, das den siegreichen Generälen des Sultans zu deren kulinarischem Genuss vorgesetzt werden sollte, doch diesen Düften – dazu noch Kurkuma, die großen Kardamomkapseln und auch die kleinen – gelang es nicht, das einzigartig pikante, kannibalische Aroma bei lebendigem Leib gebackener Frauen zu überdecken, was ihren Duft letztlich noch unerträglicher machte. Pampa Kampana sollte nie mehr Fleisch essen, und sie brachte es auch nie wieder über sich, in der Küche zu verweilen, wenn Fleisch zubereitet wurde, da all die Gerichte Erinnerungen an ihre Mutter weckten; und wenn irgendwer totes Tier aß, musste Pampa Kampana den Blick abwenden.

Pampas Vater war jung gestorben, lang vor der namenlosen Schlacht, folglich gehörte ihre Mutter nicht zu den frisch Verwitweten. Arjuna Kampana war bereits vor so vielen Jahren gestorben, dass Pampa sich kaum an sein Gesicht erinnern konnte. Was sie von ihm wusste, hatte Radha Kampana ihr erzählt, nämlich dass er ein gütiger Mann gewesen war, der allseits beliebte Töpfer der Stadt Kampili, und dass er seine Frau ermuntert hatte, gleichfalls das Töpfern zu lernen, weshalb sie nach seinem Tod das Geschäft übernehmen und sich ihm mehr als ebenbürtig erweisen konnte. Radha wiederum leitete die kleine Pampa an, und so war schon das Kind überaus geschickt im Formen von Schalen und Gefäßen auf der Töpferscheibe, was sie eine wichtige Lektion lehrte, nämlich die, dass es kein Handwerk gab, das nur Männer auszuüben vermochten. Pampa Kampana hatte geglaubt, das wäre ihr Leben und sie würde Seite an Seite mit ihrer Mutter schöne Dinge herstellen. Dieser Traum war nun ausgeträumt. Die Mutter hatte ihr die Hand entzogen und sie ihrem Schicksal überlassen.

Lange hatte Pampa sich eingeredet, Radha habe sich der Gruppe nur angeschlossen, weil sie sich nicht ausgrenzen wollte, war sie doch seit jeher eine Frau, der viel an der Freundschaft anderer Frauen lag. Pampa sagte sich, dass die flammende Feuerwand nur ein Vorhang war, hinter dem sich die Frauen auf einen Plausch trafen, und dass sie bald wieder hervorkommen würden, womöglich ein wenig angesengt, womöglich nach Küchengerüchen duftend, die aber gewiss bald wieder verflogen. Und dann würde Pampa mit ihrer Mutter nach Hause gehen.

Erst als sie die letzten gebratenen Hautfetzen von Radha Kampanas Knochen fallen und darunter den nackten Schädel sah, begriff sie, dass ihre Kindheit vorbei war und dass sie sich von nun wie eine Erwachsene benehmen musste, die niemals den letzten Fehler ihrer Mutter begehen durfte. Sie würde dem Tod ins Gesicht lachen und sich dem Leben zuwenden. Sie würde ihren Körper nicht opfern, bloß um toten Männern ins Jenseits zu folgen. Sie würde sich weigern, jung zu sterben, und stattdessen leben und in ihrem Trotz über die Maßen alt werden. Und es war ebendies der Moment, da sie den himmlischen Segen erhielt, der alles ändern sollte, der Augenblick, da die Stimme der Göttin Pampa, alt wie die Zeit selbst, aus ihrem neunjährigen Mund ertönte.

Es war eine Stimme so gewaltig wie der Donner eines hohen Wasserfalls in einem Tal sanfter Echos. Darin klang eine nie zuvor gehörte Musik an, der sie später den Beinamen Güte gab. Natürlich war sie erschrocken, aber auch beruhigt, denn von einem Dämon war sie jedenfalls nicht besessen. Die Stimme verriet Wohlwollen und Majestät. Radha Kampana hatte ihr einmal erzählt, die beiden wichtigsten Götter des Pantheons hätten die ersten Tage ihres Liebeswerbens hier verbracht, am wütenden Wasser des dahineilenden Stroms. Vielleicht sprach durch sie die Königin der Götter höchstselbst, die in einer Zeit des Todes an jenen Ort zurückgekehrt war, an dem ihre Liebe begonnen hatte. Wie der Fluss wurde auch Pampa Kampana nach der Göttin benannt – »Pampa« lautete einer der ortsüblichen Namen der Göttin Parvati, der Shiva, ihr Geliebter, der mächtige Herr des Tanzes, in seiner dreiäugigen Inkarnation hier erschienen war –, und so ergab alles einen Sinn. Mit einem Gefühl abgeklärter Gelassenheit begann Pampa, das Mädchen, den Worten von Pampa, der Göttin, zu lauschen, Worten, die aus ihrem Mund strömten und über die sie so wenig Kontrolle hatte wie jemand in einem Theaterpublikum, der dem Monolog eines berühmten Schauspielers lauscht, und so begann ihr Leben als Prophetin und Wundertätige.

Körperlich fühlte sie keinen Unterschied. Es gab keine unangenehmen Nebenwirkungen. Sie zitterte nicht, fühlte sich nicht schwach, spürte keine Hitzewallungen, und ihr brach kein kalter Schweiß aus. Auch trat ihr kein Schaum vor den Mund, und sie bekam keinen epileptischen Anfall, was, wie man sie hatte glauben lassen, unter ähnlichen Umständen nicht selten geschah und andere Menschen in vergleichbaren Fällen bereits erlebt haben sollten. Eigentlich umgab sie eher eine große Ruhe wie ein weicher Mantel, der ihr das beruhigende Gefühl verlieh, dass die Welt noch ein guter Ort war und am Ende alles seinen rechten Gang nehmen werde.

»Blut und Feuer«, sprach die Göttin, »gebären Leben und Macht. Und an ebendiesem Ort wird eine große Stadt entstehen, ein Weltenwunder, ein Reich, das über zwei Jahrhunderte währt. Und du«, die Göttin sprach Pampa Kampana direkt an, was dem jungen Mädchen die einzigartige Erfahrung bescherte, von einem übernatürlichen Wesen durch den eigenen Mund angesprochen zu werden, »du wirst mit all deiner Kraft dafür sorgen, dass sich Frauen nie wieder auf diese Weise verbrennen und dass Männer lernen, Frauen mit neuem Blick zu sehen, und du wirst lang genug leben, um Zeugin deines Erfolgs und deines Scheiterns zu werden, um alles sehen und die Geschichte erzählen zu können, doch hast du sie einmal erzählt, wirst du auf der Stelle sterben, und vierhundertfünfzig Jahre lang wird sich niemand mehr an dich erinnern.« So erfuhr Pampa Kampana, dass die Großzügigkeit einer Gottheit stets ein zweischneidiges Schwert ist.

Sie lief, ohne zu wissen, wohin sie ging. Hätte sie in unserer Zeit gelebt, hätte sie sagen können, das Land um sie herum gliche der Oberfläche des Mondes, die sandigen Täler, die Felshaufen, das Nichts, die Ahnung einer melancholischen Leere, wo aufkeimendes Leben sein sollte. Doch sie hatte keinen Schimmer, wie es auf dem Mond aussah. Für sie war der nur ein strahlender Gott am Himmel. Weiter und immer weiter lief sie, bis sie einige Wunder sah. So entdeckte sie eine Kobra, die mit ihrem Nackenschild einen trächtigen Frosch vor der Hitze der Sonne schützte. Sie sah, wie ein Kaninchen hakenschlagend kehrtmachte und sich dem Hund stellte, der es jagte, ihm in die Nase biss und so dafür sorgte, dass er davonrannte. Diese Wunder ließen Pampa Kampana ahnen, dass Außerordentliches bevorstand. Bald nach den Visionen, die ihr gewiss als ein Zeichen der Götter gesandt worden waren, stieß sie in Mandana auf eine kleine mutt .

Statt mutt könnte man auch Peetham sagen, aber lasst uns, um Verwirrungen zu meiden, schlicht erklären: Sie kam zu einer Mönchsbehausung. Später, als das Reich wuchs, wurde die Mandana mutt zu einer prachtvollen Stätte, die sich bis hinab an die Ufer des rauschenden Flusses erstreckte, eine gewaltige Anlage, die mehreren Tausend Priestern ein Heim bot, Dienstboten, Kaufleuten, Hauswarten, Elefantenpflegern, Affenhändlern, Stallburschen sowie den Arbeitern auf den weiten Reisfeldern, eine mutt , die verehrt wurde als ein heiliger Ort, an dem selbst Kaiser um Rat nachsuchten, doch in jenen frühen Tagen, bevor der Beginn begann, war die mutt eher bescheiden, kaum mehr als Höhle und Gemüsebeet jenes Asketen, der damals noch ein junger Mann war, ein fünfundzwanzigjähriger Gelehrter mit langem lockigem Haar, das ihm über den Rücken bis hinab zur Hüfte wallte, ein Mann, der auf den Namen Vidyasagar hörte, was bedeutete, dass es in seinem großen Kopf einen Ozean des Wissens gab, einen vidya-sagara . Als er das Mädchen kommen sah, Hunger auf der Zunge und Irrsinn in den Augen, begriff er gleich, dass die Kleine Schreckliches gesehen hatte, und er gab ihr Wasser zu trinken und das bisschen Essen, was er hatte.

Danach lebten sie, zumindest laut Vidyasagars Version der Geschichte, ganz unbeschwert miteinander, schliefen auf dem Höhlenboden in unterschiedlichen Ecken und verstanden einander prächtig, nicht zuletzt, weil der Mönch feierlich geschworen hatte, sich allen Gelüsten des Fleisches zu enthalten, weshalb er, selbst als Pampa Kampana zur vollen Blüte ihrer Schönheit heranreifte, nie Hand an sie legte, und das, obwohl es sich um keine besonders große Höhle handelte und sie im Dunkeln allein waren. Für den Rest seines Lebens erzählte Vidyasagar dies jedem, der danach fragte – und es gab durchaus Menschen, die danach fragten, ist die Welt doch ein zynischer, argwöhnischer Ort, an dem man, voller Lügner, wie sie ist, gern alles für eine Lüge hält. Was Vidyasagars Geschichte ja auch war.

Fragte man Pampa Kampana, blieb sie eine Antwort schuldig. Schon mit jungen Jahren erwarb sie die Fähigkeit, Schreckliches, das ihr im Leben zuteilwurde, aus dem Bewusstsein zu tilgen. Die Macht der Göttin, die ihr innewohnte, hatte sie noch nicht verstanden, und sie wusste sie nicht zu bändigen, weshalb sie sich nicht schützen konnte, als der angeblich keusch lebende Gelehrte die unsichtbare Grenze zwischen ihnen überschritt und ihr antat, was immer er auch tat. Er tat es nicht oft, da ihn das Gelehrtendasein zu sehr ermüdete, um öfter der Lust zu frönen, doch tat er es oft genug, und jedes Mal löschte Pampa Kampana sein Tun mit einem Willensakt aus ihrem Gedächtnis. Sie löschte auch die Erinnerung an ihre Mutter, deren Selbstaufgabe die Tochter zu einem Opfer auf dem Altar der Lust dieses Asketen gemacht hatte, und lange Zeit versuchte sie sich zudem einzureden, bei dem, was in der Höhle geschah, handle es sich um eine Illusion und dass sie überhaupt keine Mutter gehabt hatte.

Auf diese Weise vermochte sie ihr Schicksal schweigend zu erdulden, doch wuchs in ihr eine wütende Macht heran, eine Stärke, aus der die Zukunft geboren werden sollte. Im Lauf der Zeit. Ganz recht, alles zu seiner Zeit.

Die nächsten neun Jahre redete sie kein einziges Wort, weshalb Vidyasagar, der doch so vieles wusste, nicht einmal ihren Namen kannte. Er beschloss, sie Gangadevi zu nennen, ein Name, mit dem sie sich klaglos abfand, und sie half ihm, Beeren zu sammeln und essbare Wurzeln, den Boden ihrer kärglichen Behausung zu fegen und Wasser vom Brunnen zu holen. Ihre Stille kam ihm zupass, da er sich an den meisten Tagen der Meditation hingab, um über die Bedeutung der heiligen, auswendig gelernten Texte zu sinnieren und Antworten auf zwei große Fragen zu suchen: Gab es Weisheit oder doch nur Torheit? Sowie die damit verwandte Frage, ob es denn vidya gab, wahres Wissen, oder bloß diverse Arten von Unwissen, weshalb nur die Götter über jenes wahre Wissen verfügten, nach dem er selbst benannt worden war. Zudem grübelte er über den Frieden nach und fragte sich, wie er dafür sorgen könne, dass in dieser gewaltsamen Zeit die Gewaltlosigkeit obsiegte.

So sind die Menschen, dachte Pampa Kampana. Ein Mann philosophiert über den Frieden, dabei befand er sich, wie er das hilflose, in seiner Höhle schlafende Mädchen behandelte, keineswegs im Einklang mit seiner Philosophie.

Auch wenn das Mädchen stumm blieb, während es zur jungen Frau heranwuchs, schrieb es doch vieles nieder, und dies mit kräftiger, schwungvoller Hand, was den Weisen verblüffte, da er es für ungebildet gehalten hatte. Als Pampa Kampana schließlich zu sprechen begann, gestand sie, selbst nicht gewusst zu haben, dass sie schreiben konnte, weshalb sie das Wunder ihrer Schriftkundigkeit auf die wohlwollende Vermittlung der Göttin zurückführte. Sie schrieb nahezu jeden Tag und gestattete Vidyasagar, das Verfasste zu lesen, und so kam es, dass der von Ehrfurcht ergriffene Weise in diesen neun Jahren zum ersten Zeugen des Erblühens ihres lyrischen Genies wurde. Pampa Kampana verfasste damals, was man heute als Vorwort zu Jayaparajaya kennt. Der Hauptteil ihres Gedichts hat die Geschichte Bisnagas von der Entstehung bis zum Untergang zum Thema, Geschehnisse, die noch in der Zukunft lagen. Das Vorwort aber handelt vom Altertum und erzählt die Geschichte des Affenkönigreichs Kishkindha, das lang zuvor in noch mythischer Zeit seine Blüte erlebte; und es enthält zudem einen lebhaften Bericht vom Leben und Wirken des Affenkönigs Hanuman, der groß wie ein Berg werden und über Meere springen konnte. Gelehrte wie einfache Leser sind sich einig, dass Pampa Kampanas Verse es hinsichtlich ihrer Qualität durchaus mit der Sprache des Ramayana aufnehmen können, falls sie diese nicht sogar übertreffen.

Die neun Jahre waren um, da kamen die beiden Brüder Sangama auf Besuch: der eine, groß gewachsen, grauhaarig, gut aussehend, war sehr still und sah einem tief in die Augen, als könnte er Gedanken lesen, sein viel jüngerer Bruder aber, der kleine, rundliche, umschwirrte ihn und alle Welt wie eine Biene. Sie waren Viehhirten aus der Bergstadt Gooty, die Krieg führte, und da Krieg damals die Wachstumsbranche schlechthin war, schlossen sich die Brüder einem der regionalen Duodezfürsten an, blieben in der Kunst des Tötens aber Amateure, weshalb sie schon nach kurzer Zeit von den Truppen des Sultans von Delhi gefangen genommen und in den Norden geschickt wurden, wo sie, um die eigene Haut zu retten, vorgaben, zur Religion ihrer Eroberer konvertieren zu wollen, doch vermochten sie bald darauf zu entkommen, streiften den angenommenen Glauben ab wie einen ungewollten Schal und türmten, ehe man sie beschneiden konnte, was zu den Anforderungen jener Religion zählte, an die sie eigentlich doch nicht glaubten. Sie seien aus dieser Gegend, erklärten sie jetzt, und hätten von der Klugheit des Weisen gehört, aber auch, um ehrlich zu sein, von der Schönheit der stummen jungen Frau, die mit ihm zusammenlebte, und nun seien sie hier und hofften auf guten Rat.

Sie kamen nicht mit leeren Händen. Sie brachten Körbe mit frischem Obst, einen Sack Nüsse und einen Krug mit der Milch ihrer Lieblingskuh; außerdem hatten sie einen Sack Saatgut dabei, was, wie sich später zeigte, ihr Leben verändern sollte. Sie hießen, so sagten sie, Hukka und Bukka Sangama – Hukka, der attraktive Ältere, und Bukka, die junge Biene –, und nach ihrer Flucht aus dem Norden suchten sie neue Bahnen, in die sie ihr Leben lenken wollten. Kühe hüten genügte ihnen nicht länger, denn ihre militärischen Eskapaden, so sagten sie, hätten ihren Horizont erweitert und ihren Ehrgeiz gestärkt, weshalb sie nun für jeden Rat dankbar seien, für jede Woge, die über den Ozean des Wissens heranrollte, für jedes Wispern aus den Tiefen der Gelehrtheit, das der Weise ihnen zuflüstern wolle, einfach für alles, was ihnen den Weg weisen mochte. »Ihr seid als bedeutsamer Apostel des Friedens bekannt«, sagte Hukka Sangama. »Und nach unseren jüngsten Erfahrungen haben wir es nicht mehr so mit dem Soldatenleben. Also macht uns bitte die Früchte der Gewaltlosigkeit schmackhaft.«

Zu jedermanns Überraschung ergriff nicht der Mönch, sondern seine achtzehnjährige Gefährtin das Wort und sprach in gewöhnlichem Plauderton mit einer kräftigen, tiefen Stimme, der man nicht anmerkte, dass sie neun Jahre lang ungenutzt geblieben war. Es war eine Stimme, der die Brüder auf der Stelle verfielen. »Mal angenommen, ihr hättet einen Sack Saatgut dabei«, sagte sie. »Und weiter angenommen, ihr könntet die Saat aussäen und eine Stadt wachsen lassen und zugleich mit ihr deren Bewohner, so als wären Menschen Pflanzen, die im Frühjahr knospen und erblühen, nur um im Herbst wieder zu verwelken. Weiterhin angenommen, diese Saat ließe Generationen wachsen und eine Historie, eine neue Realität, ein Reich. Und darüber hinaus einmal angenommen, sie, die Saat, könnte euch zu Königen machen, ebenso eure Kinder und Kindeskinder.«

»Klingt gut«, sagte der junge Bukka, der freimütigere der beiden Brüder, »aber wo sollten wir solche Saat finden? Wir sind zwar bloß Viehhirten, aber deshalb glauben wir noch lange nicht an Märchen.«

»Sangama, euer Name, ist ein Zeichen«, sagte sie. »Sangam bedeutet ›Zusammenfluss‹, etwa wie jener, bei dem der Fluss Pampa beginnt, dort, wo die Flüsse Tunga und Bhadra zusammenfinden, Flüsse, die von jenem Schweiß gebildet wurden, der Gott Vishnu beidseits vom Kopf strömte, weshalb Sangam den Zusammenfluss verschiedener Teile meint, aus denen ein neues Ganzes entsteht. Das ist eure Bestimmung. Geht zu dem Ort, an dem die Frauen sich opferten, zu dem heiligen Platz, an dem meine Mutter starb, der zugleich jener Platz ist, wo sich in alter Zeit Gott Ram und sein Bruder Lakshman mit dem mächtigen Gott Hanuman von Kishkindha zusammenschlossen, um in die Schlacht gegen den vielköpfigen Ravana von Lanka zu ziehen, der die Göttin Sita entführte. Ihr seid ebenso Brüder, wie Ram und Lakshman es waren. Errichtet dort eure Stadt.«

Jetzt ergriff der Weise das Wort. »Kein schlechter Start für Viehhirten«, sagte er. »Auch das Sultanat Golconda wurde von Hirten gegründet, und der Name, wie ihr wisst, bedeutet ›Schafshügel‹. Jenen Hirten aber war das Glück nicht hold, entdeckten sie doch, dass ihr Ort reich an Diamanten war, und so sind sie heute die Diamantenprinzen, Besitzer der Mine dreiundzwanzig, Besitzer damit der meisten rosa Diamanten der Welt sowie des Großen Tafeldiamanten, den sie im tiefsten Verlies ihrer Bergfeste verwahren, der unzugänglichsten Burg des Landes, noch schwerer einzunehmen als Mehrangarh oben in Jodphur oder Udayagiri gleich hier ein Stück die Straße runter.«

»Eure Saat aber ist besser als Diamanten«, sagte die junge Frau und gab den Brüdern den Sack zurück, den sie ihr überreicht hatten.

»Was? Diese Samen?«, fragte Bukka höchst überrascht. »Aber das ist eine ganz gewöhnliche Mischung, gedacht fürs Gemüsebeet, nur Okra, Bohnen, Schlangengurke.«

Die Prophetin schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht mehr«, sagte sie. »Jetzt ist dies die Saat der Zukunft. Eure Stadt wird daraus erwachsen.«

Die zwei Brüder begriffen in diesem Moment, dass sie sich beide wahrhaft, zutiefst und auf immerdar in diese seltsame Schöne verliebt hatten, die ganz offenkundig eine große Zauberin war oder doch zumindest eine von Gott berührte und mit außergewöhnlichen Gaben gesegnete Person. »Man erzählt sich, Vidyasagar hätte Euch den Namen Gangadevi gegeben«, sagte Hukka, »aber wie heißt Ihr wirklich? Das würde ich gern wissen, denn dann kann ich mich mit jenem Namen an Euch erinnern, den Eure Eltern für Euch vorgesehen haben.«

»Geht hin und erschafft die Stadt«, sagte sie. »Sobald sie aus Fels und Stein hervorgesprossen ist, kommt zurück und fragt mich erneut nach meinem Namen. Vielleicht werde ich ihn dann verraten.«