7

Am ersten Tag seiner Regentschaft bestellte Bukka seinen alten Trinkkumpan zu sich. Die Herrlichkeit des königlichen Palastes brachte Haleya Kote, der bislang in Militärlagern und billigen Absteigen gelebt hatte, aus dem Gleichgewicht. Kriegerinnen mit ausdruckslosen Mienen geleiteten ihn vorbei an Zierteichen und prächtigen Bädern, an den Steinreliefs marschierender Soldaten und gesattelter Elefanten, an jungen Steinfrauen mit wehenden Röcken, die in steinernem Takt neben Musikern tanzten, die Steintrommeln schlugen und liebliche Melodien auf steinernen Flöten spielten. Mit Perlen und Rubinen bestickte Seidentücher schmückten die Wände über diesen Friesen, und in den Ecken wachten goldene Löwen. Trotz seines geheimen Radikalismus fühlte sich Haleya Kote überwältigt, aber er hatte auch Angst. Was wollte der neue König von ihm? Falls er die Erinnerung an seine versoffene Vergangenheit auslöschen wollte, fürchtete Haleya Kote um seinen Hals. Die Kriegerinnen brachten ihn in den Audienzsaal und befahlen ihm zu warten.

Nach einer Stunde allein in der Gegenwart schimmernder Seide und steinerner Magnifizenz war Haleya Kotes Nervosität kaum mehr zu bändigen, und als der König schließlich eintrat, begleitet von seinem gesamten Gefolge, den Wachen, Dienern und Mägden, war Haleya davon überzeugt, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Bukka Raya I. war nicht länger der kleine dicke Bukka aus dem Cashew. Er war herrlich anzusehen, in goldenen Brokat gekleidet, auf dem Kopf eine passende Bedeckung. Er schien sogar größer zu sein. Haleya Kote wusste, da er kaum gewachsen sein konnte, musste es eine durch Bukkas Majestät geschaffene Illusion sein, doch selbst die Illusion genügte, das Unbehagen des alten Soldaten noch zu steigern. Dann begann Bukka zu sprechen, und Haleya Kote dachte: Ich bin ein toter Mann .

»Ich weiß alles«, sagte Bukka.

Es ging also nicht um die Zechgelage. Jetzt war Haleya Kote erst recht davon überzeugt, dass er bald vor seinen Schöpfer treten musste.

»Ihr seid nicht, was Ihr zu sein vorgebt«, sagte Bukka. »Zumindest melden mir das meine Spione.« Damit gestand der neue König erstmals ein, dass er während der Regentschaft seines Bruders einen eigenen Wach- und Spionagetrupp befehligt hatte, der Hukkas Leute jetzt ersetzen würde. Letzteren wollte man nahelegen, sich in kleine Dörfer auf dem Lande zurückzuziehen und sich nie wieder in der Stadt Bisnaga blicken zu lassen.

»Meine Spione«, sagte Bukka, »sind sehr verlässlich.«

»Und wer bin ich deren Informationen zufolge?«, fragte Haleya Kote, obgleich er die Antwort schon kannte. Er war der Schuldige, der darum bat, das Todesurteil verkündet zu bekommen.

»Ihr remonstriert , sagt man das so?«, erwiderte Bukka in überaus sanftem Ton. »Und laut dem, was mir zugetragen wurde, seid Ihr jemand, den mein verstorbener Bruder für einen höchst interessanten Menschen hielt, nämlich der Autor der Fünf Remonstranzen höchstselbst und nicht bloß ein einfacher Anhänger des Kults. Um Eure Autorenschaft zu verschleiern, benehmt Ihr Euch darüber hinaus nicht wie ein religiöser Konservativer, was man von diesem Autor erwarten würde. Sollte ich mich irren, dann stimmen Eure Erklärungen nicht mit Eurem wahren Charakter überein und wurden nur verkündet, um eine Gefolgschaft anzuwerben, die Ihr keineswegs verdient.«

»Ich will Eure Spione nicht dadurch beleidigen, dass ich leugne, was Ihr längst wisst«, erwiderte Haleya Kote mit der aufrechten Haltung eines Soldaten vor dem Kriegsgericht.

»Nun, was die Fünf Remonstranzen betrifft«, sagte Bukka, »mit der Ersten stimme ich überein. Die Welt des Glaubens sollte von aller weltlichen Macht getrennt sein, was von diesem Tage an auch der Fall sein wird. Auch der Zweiten Remonstranz pflichte ich bei, Zeremonien der Massenverehrung sind uns fremd, weshalb sie nicht weiter durchgeführt werden sollten. Nun aber wird die Sache ein bisschen haariger. Es ist keineswegs erwiesen, dass eine Verbindung zwischen Askese und Sodomie existiert, auch nicht zwischen Zölibat und derlei Verhalten. Darüber hinaus ist die Sodomie eine Art, sich zu vergnügen, der sich viele in Bisnaga erfreuen, und ich sehe mich außerstande, meinen Untertanen vorzuschreiben, welche Spielarten des Vergnügens akzeptabel und welche weniger hinnehmbar sind. Zudem verlangt Ihr, dass wir uns aller militärischen Abenteuer enthalten. Ich kann verstehen, dass Ihr wie so mancher altgediente Soldat den Krieg hasst, doch müsst Ihr Eurerseits auch einsehen, dass wir, sollten die Interessen des Reiches dies verlangen, in den Kampf ziehen müssen. Und schlussendlich, die Fünfte Remonstranz ist das Werk eines wahren Banausen. An meinem Hof wird es Gedichte geben und Musik, und ich werde auch großartige Gebäude errichten lassen. Die Künste sind keine Nichtigkeiten, wie die Götter selbst nur zu gut wissen. Sie sind für das Wohlbefinden und Wohlergehen einer Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. In der N ā . t ya Śāstra erklärt Indra selbst das Theater zu einem heiligen Ort.«

»Euer Majestät«, wandte sich Haleya Kote mit der geziemenden Anrede an seinen früheren Trinkkumpan, »bitte gewährt mir die Zeit, mich zu erklären und um Gnade zu flehen.«

»Darum zu flehen besteht keinerlei Notwendigkeit«, sagte Bukka. »Zwei von fünf ist doch gar mal schlecht.«

Haleya Kote, den ein mächtiges Gemisch aus Erleichterung und Verwirrung überkam, kratzte sich den Nacken, schüttelte den Kopf und erschauderte ein wenig, wodurch er insgesamt wirkte, als sei er von Läusen befallen, was vermutlich auch stimmte. Schließlich fragte er: »Warum habt Ihr mich dann kommen lassen, Euer Majestät?«

»Heute früh«, sagte Bukka, »traf ich mich mit unserem großen Weisen Vidyasagar, dem Ozean des Wissens, und brachte ihm gegenüber zur Sprache, was für eine Tragödie es doch sei, wenn sein Meisterwerk, an dem er arbeitet, die Erforschung der Sechzehn Systeme der Philosophie – allem Hörensagen zufolge von ganz außergewöhnlicher Brillanz – nur deshalb unvollständig und unbeendet bliebe, weil ihm die Arbeit am Hofe zu wenig Zeit dafür lasse. Ich nahm mir zudem die Freiheit, ihm gegenüber zu erwähnen, dass ich für Astrologie nicht viel übrighabe, weshalb das morgendliche Verlesen des Horoskops, auf das mein Bruder bestand, nicht länger vonnöten sei. Und ich muss sagen, im Großen und Ganzen hat er es gut aufgenommen. Er ist ein Mann von außerordentlichem Benimm, weshalb ich, als eine einzige wortlose Ejakulation aus ihm hervorbrach – ein »Ha!«, so laut, dass die Pferde in den Ställen vor Schreck zusammenzuckten –, gleich verstand, dass dies Teil seiner transzendentalen spirituellen Praxis war, ein kontrolliertes Aushauchen, mit dem er all das aus sich herausließ, was überflüssig geworden war. Ein Gehenlassen. Danach verabschiedete er sich, und wenn ich mich nicht irre, hat er sich unweit des Mandana-Komplexes in seine Höhle von ehedem zurückgezogen, um eine einundneunzig Tage währende Meditation und Seelenerneuerung zu beginnen. Ich weiß, wir werden alle dankbar für die Früchte seiner disziplinierten Besinnung und der Wiedergeburt seines Geistes in gewiss noch gedeihlicherer Inkarnation sein. Er ist und bleibt von uns allen der Größte.«

»Ihr habt ihn gefeuert«, wagte Haleya Kote zusammenzufassen.

»Es stimmt, am Hofe ist eine Stelle frei«, erwiderte Bukka. »Natürlich lässt sich Vidyasagar nicht durch eine einzelne Person ersetzen, ist er doch mehr wert als jeder andere lebende Mensch. Daher biete ich Euch zwei Fünftel seiner Verantwortlichkeiten als mein Berater in politischen Fragen an. Ich werde jemanden anderes für weitere zwei Fünftel finden, soll heißen für Kunst und Gesellschaft, da Ihr zu ignorant und engstirnig seid, um Euch auch noch darum kümmern zu können. Sollte es jedoch Krieg geben, werde ich selbst das Kommando übernehmen.«

»Ich will versuchen, weniger ignorant und engstirnig zu sein«, sagte Haleya Kote.

»Gut«, sagte Bukka Raya I. »Das solltet Ihr.«

In Pampa Kampanas großem, wiederentdecktem Buch Jayaparajaya , das ebenso klar wie skeptisch vom Sieg wie von der Niederlage handelt, wird der Name der von Bukka erwählten Beraterin für gesellschaftliche und künstlerische Belange mit »Gangadevi« angegeben, über die es heißt, sie sei »die Frau von Bukkas Sohn Kumara Kampana«, eine Dichterin und auch die Verfasserin des epischen Gedichts »Madurai Vijayam«, »Die Eroberung von Madurai«. Der untertänige Verfasser des vorliegenden (und gänzlich unzulänglichen) Textes wagt die Vermutung, dass es sich hierbei um eine kleine List seitens der unsterblichen Pampa handelt – nahezu unsterblich in ihrer körperlichen Inkarnation, für alle Ewigkeit unsterblich in ihren Worten. Wir wissen bereits, dass »Gangadevi« der Name war, mit dem Vidyasagar das stumme Kind anredete, das nach der feurigen Tragödie zu ihm kam; und der Name »Kampana« ist natürlich für immer mit Pampa selbst verknüpft. Was aber die »Frau von Bukkas Sohn Kumara Kampana« betrifft, nun ja! Das wäre eine physische wie moralische Unmöglichkeit, da Pampa Kampana bald Mutter dreier Söhne von Bukka werden sollte – ja! Diesmal nur Jungen! –, Söhne, die zur Zeit des Feldzugs gegen Madurai noch gar nicht geboren waren; und selbst wenn sie bereits gelebt hätten, wäre die Ehe mit einem von ihnen für alle Welt so undenkbar wie anstößig gewesen. Wir kommen daher zu dem Schluss, dass es »Kumara Kampana« nie gegeben hat, dass »Gangadevi« und Pampa Kampana ein und dieselbe Person sind, dass Pampa die Autorin von »Madurai Vijayam« ist und dass ihre große Bescheidenheit, ihr Widerwille, sich selbst in den Mittelpunkt der Anerkennung zu rücken, Grund für diesen hauchzarten Schleier der Fiktion war, der sich so leicht zerreißen lässt. Darüber hinaus können wir noch spekulieren, dass ebendie leichte Zerreißbarkeit des Schleiers darauf verweist, dass Pampa Kampana ihn von ihren künftigen Lesern auch zerrissen wissen wollte, was bedeutet, dass sie wünschte, sich den Anschein von Bescheidenheit zu geben, insgeheim aber doch die Anerkennung für sich wollte, die sie jemand anderem zu gewähren vorgab. Wir können die Wahrheit nicht kennen. Wir können nur vermuten.

Nehmen wir den Faden wieder auf: Pampa Kampana gelang das Ungewöhnliche, Königin während zwei aufeinanderfolgender Regentschaften zu sein, die Gattin zweier konsekutiver Könige, die zudem Brüder waren; und Bukka übertrug ihr die Verantwortung für die Aufsicht über die Entwicklungen in der Architektur des Königreichs, der Lyrik, Malerei, Musik und sogar in sexuellen Fragen.

Die während der Herrschaft von Bukka Raya I. verfasste Lyrik findet ihresgleichen nur hundert Jahre später während der ruhmreichen Tage von Krishnadevaraya. (Dies wissen wir, weil Pampa Kampana viele Beispiele aus beiden Perioden in ihrem vergrabenen Buch zitiert, weshalb jenen lang vergessenen Dichtern erst heute die Anerkennung zuteilwird, die sie verdienen.) Von den im königlichen Atelier entstandenen Gemälden hat keines überdauert, da die Zerstörer während des Untergangs von Bisnaga besonders darauf erpicht waren, alle repräsentative Kunst zu vernichten. Auch hinsichtlich der enormen Quantität erotischer Skulpturen und Friese haben wir allein ihr Wort, dass es sie gegeben hat.

Trotz allem aber wollte Bukka ein gutes Verhältnis zum Philosophenpriester Vidyasagar wahren, da der immer noch enormen Einfluss auf Herz und Kopf vieler Bisnaganer ausübte. Obwohl er ihn aus dem Palast geschickt hatte, schmierte ihm Bukka also Honig um den Bart und erklärte sich bereit, den heiligen Mann im Ausgleich für dessen Zusicherung, die mutt aus allen weltlichen Dingen herauszuhalten, eigene Steuern für den Erhalt des wachsenden Tempelkomplexes von Mandana erheben zu dürfen.

Und was Pampa Kampana betraf: Sie erstattete Vidyasagar in jener Höhle einen Besuch, in die er sich zurückgezogen hatte und in der seine Schwäche offenbart und wiederholt an ihr ausgeübt worden war. Sie kam ohne ihr Gefolge von Wachen und Mägden und trug nur die beiden Stoffstreifen eines Bettelmönchs, womit sie sich dem Anschein nach aufs Neue in jene asketische junge Frau verwandelte, die vor so vielen Jahren auf dem Boden der Höhle genächtigt und stillschweigend erduldet hatte, was er ihr angetan hatte. Sie nahm das dargebotene Glas Wasser an und unterbreitete ihm nach einigen rituellen Höflichkeiten ihren Plan.

Zentraler Bestandteil ihres Programms als Kulturministerin, erklärte sie dem großen Mann, sei es, innerhalb der Stadtmauern einen spektakulären Tempel errichten zu lassen, den man einer Gottheit nach Vidyasagars freier Wahl widmen wolle und dessen Priester und devadasis zu ernennen Sache des Hohen Priesters sei. Was sie selbst anginge, erklärte sie Vidyasagar feierlich und ohne mit der Wimper zu zucken, ja auch ohne sich anmerken zu lassen, dass sie genau wusste, wie empört er nur auf ihre Worte reagieren konnte, so würde sie persönlich die begabtesten Skulpteure und Steinmetze in Bisnaga aussuchen, auf dass sie ein prächtiges Gebäude erschufen und die Tempelmauern, innen wie außen, aber auch den monumentalen Eingangsturm, den gopuram , mit erotischen Basreliefs bedeckten, die schöne devadasis mit ihren männlichen Pendants in vielerlei Positionen sexueller Ekstase zeigten, darunter jene, wenn auch nicht ausschließlich jene, die in der tantrischen Tradition und schon in alter Zeit im Kamasutra des Philosophen Vatsyayana von Pataliputra Erwähnung fanden, dessen großer Bewunderer, fügte sie hinzu, der große Vidyasagar doch gewiss sei. Zu diesen Reliefs, schlug sie dem Weisen vor, sollten Skulpturen sowohl vom Typ mithuna wie maithuna gehören.

»Wie uns die Brhadaranyaka-Upanischaden lehren«, sagte sie, obwohl sie genau wusste, wie unhöflich es war, in Anwesenheit des hochgeschätzten Vidyasagar gleich zwei heilige Texte zu erwähnen, sind »erotische Figuren des Typs maithuna Symbole für mosha , jenen transzendenten Zustand also, der die Menschen, wenn sie ihn denn erlangen, aus dem Zyklus der Wiedergeburt entlässt.« »Ein von einer Frau eng umschlungener Mann weiß nichts über das Draußen oder das Drinnen«, zitierte sie aus den Upanischaden . »Ebenso wenig wie ein vom Geiste umarmter Mensch noch zwischen Drinnen und Draußen unterscheidet. Sein Verlangen wurde befriedigt, der Geist ist es auch. Er kennt kein weiteres Begehren und keinen Schmerz. Und was nun die mithuna -Skulpturen betrifft«, fuhr sie fort, »so repräsentieren sie die Wiedervereinigung des Wesentlichen. Zu aller Anfang, so steht es in den Upanischaden , verlangte es die Essenz, das Wesentliche, nach einer zweiten Einheit, und sie teilte sich. So entstanden Mann und Frau, weshalb, wenn sie sich vereinen, die Essenz, das Wesentliche, wieder eins und vollständig wird. Und wie Ihr wisst, war es die Vereinigung der beiden Teile, durch die das gesamte Universum ins Leben gerufen wurde.«

Mit Mitte fünfzig, der weiße Bart so lang, dass er ihn sich einmal um den Leib wickeln konnte, war Vidyasagar nicht mehr der spackige Fünfundzwanzigjährige mit wild gelocktem Haar, der Pampa in seiner Höhle missbraucht hatte. Das Leben im Palast hatte ihn füllig um die Hüfte und barhäuptig werden lassen. Auch andere Eigenheiten waren von ihm abgefallen, die Bescheidenheit zum Beispiel sowie jegliche Großmut für die Ideen und Ansichten anderer Menschen. Er hörte Pampa Kampana zu Ende an und antwortete ihr dann in seinem weihevollsten und herablassendsten Ton.

»Ich fürchte, kleine Gangadevi, Ihr habt zu oft den Menschen aus dem Norden gelauscht. Euer Versuch, Obszönität zu rechtfertigen, indem Ihr Euch alter Weisheiten bedient, ist zwar geistreich, aber auch recht verworren und überdies, gelinde gesagt, verfehlt. Uns hier im Süden ist durchaus bekannt, dass pornografische Skulpturen an solch fernen Orten wie Konarak im besten Falle nur Versuche sind, das Leben jener devadasis darzustellen, die man im Norden für kaum mehr als Prostituierte hält, da sie stets willig scheinen, sich für ein paar Münzen in den ekligsten Stellungen zu verrenken. Eine solche Darbietung werde ich an den reinen Orten unseres Bisnagas nicht zulassen.«

Pampa Kampanas Stimme war wie Eis. »Zuerst einmal, großer Meister«, sagte sie, »bin ich nicht länger Eure kleine Gangadevi. Diesem verfluchten Leben konnte ich entkommen und bin nun Bisnagas geliebte zweifache Königin. Zweitens, was Euer Benehmen in dieser Höhle vor all den Jahren angeht, blieben meine Lippen stets verschlossen, doch bin ich jeden Moment bereit, sie zu öffnen, solltet Ihr Euch mir in den Weg stellen. Drittens hat dies nichts mit Norden oder Süden zu tun, sondern mit der Bereitschaft, die heilige menschliche Gestalt in ihren monogamen wie polygamen Vereinigungen zu ehren. Und viertens habe ich gerade in diesem Moment entschieden, dass es wohl doch nicht nötig sein wird, einen weiteren Tempel zu errichten. Ich werde diese Skulpturen an den bereits existierenden Gotteshäusern anbringen lassen, an den Neuen Tempel wie auch an dem Affentempel, damit Ihr sie für den Rest Eures Lebens anschauen und über den Unterschied nachdenken könnt zwischen willentlichem, freudvollem Liebesspiel und dem brutal an einem kleineren, schutzlosen Mitmenschen ausgeübten Akt. Und mir kommt noch eine weitere Idee, doch finde ich es unnötig, sie Euch mitzuteilen.«

»Eure Macht ist größer als die meine«, sagte Vidyasagar. »Jedenfalls zurzeit. Ich kann Euch nicht aufhalten. Tut, wie es Euch beliebt. Und wie mir die Fortdauer Eurer unmöglichen Jugend verrät, ist der Göttin Geschenk Eurer Langlebigkeit real und beeindruckend. Bitte nehmt zur Kenntnis, dass ich die Götter bitten werde, mir ein gleichermaßen langes Leben zu schenken, damit ich mich Euch und Eurer dekadenten Art widersetzen kann, solange es uns beide gibt.«

Und so, mit einem Wort, wurden Pampa Kampana und Vidyasagar zu Feinden.

Dies war Pampa Kampanas »weitere Idee«: die erotische Kunst vom religiösen Zusammenhang zu befreien, in dem sie bislang ausschließlich zu sehen war, von der Notwendigkeit, sie durch einen Bezug auf alte Texte zu rechtfertigen, ob nun jene der Traditionen des Tantra, des Kamasutra oder der Upanischaden , ob hinduistischer, buddhistischer oder jainistischer Bezüge, sie vom Hochphilosophischen und von mystischen Konzepten zu trennen und in eine Feier des alltäglichen Lebens zu verwandeln. Bukka, ein König, der an das Lustprinzip glaubte, gewährte ihr seine volle Unterstützung; und in den folgenden Monaten und Jahren begann man, Abbildungen der devadasis und ihrer männlichen Gespielen an den Mauern der Wohnquartiere zu sehen, über der Theke der Bar Cashew und in anderen Wirtshäusern, an den Außen- und Innenwänden von Geschäften im Basar, kurz gesagt überall.

Pampa half, eine neue Generation weiblicher Bildschnitzer und Steinmetze zu entdecken und auszubilden, denn die meisten weltlichen Gebäude in Bisnaga, selbst große Teile der Palastanlage, waren aus Holz, und was das Erotische anging, hatten Frauen einfach ausgeklügeltere und interessantere Ideen als Männer. In jenen Jahren, in denen ihre Söhne geboren wurden, erfreuten sie und Bukka sich aneinander – in einer mit Hukka nie gekannten Weise –, und sie machte sich daran, Bisnaga aus jener puritanischen Welt, die Vidyasagar vorschwebte und die er Hukka als eine wünschenswerte Welt weismachen konnte, in einen Ort des Glücks, des Gelächters und der häufigen, vielfältigen sexuellen Freuden zu verwandeln. Dieses Projekt war ihre Art, das für sich selbst gefundene Glück – das es ihr erlaubte, Domingo Nunes dem Reich der Erinnerung zu überlassen statt jenem der Schmerzen – als Geschenk an das allgemeine Volk weiterzugeben. Gut möglich, dass ihr Projekt nicht ganz unschuldig, sondern auch eine Art Rache war, ein Projekt, das sie ebendeshalb verwirklichte, weil es dem großen Priester missfallen würde – dem heute verehrten Priester, der einmal ein Mönch gewesen war, der sich in der Höhle von Mandana aber gar nicht so klösterlich benommen hatte, wie er alle Welt glauben machte.

Es war Haleya Kote, der sich an Bukka wandte und ihm sagte, dass ihr Plan nach hinten losgehen könnte.

»Ein Leben der Freuden schaffen zu wollen«, erzählte der alte Soldat dem König, während sie durch die Laubengänge des Palastgartens wandelten, »so was funktioniert nicht, wenn man es von oben vorgibt. Die Menschen wollen keinen Spaß, nur weil ihnen die Königin dazu rät, auch nicht wo und wann und in der Art und Weise, die sie empfiehlt.«

»Aber sie sagt ihnen doch gar nicht, was sie tun sollen«, protestierte Bukka. »Sie schafft nur ein anregendes Umfeld, möchte eine Inspiration sein.«

»Es gibt Omas«, fuhr Haleya fort, »denen gefällt es nicht, an der Wand über ihrem Bett einen in Holz geschnitzten Dreier zu sehen. Es gibt Frauen, für die ist es nicht einfach, wenn ihre Männer lang und aufmerksam die neuen Skulpturen mustern, und es gibt Männer, die sich fragen, ob die hölzernen Kerle in diesen Reliefs und Friesen ihre Frauen erregen – oder auch die hölzernen Frauen. Es gibt Eltern, denen es schwerfällt, ihren Kindern zu erklären, was genau die Schnitzereien zeigen. Es gibt traurige alte Knacker und Einsame, die die vielen Darstellungen anderer Leute Lust zu noch traurigeren Knackern und noch einsameren Menschen machen. Sogar Chandrashekhar« – das war der Barkeeper im Cashew – »sagt, seit er Tag für Tag diese Perfektion von Schönheit und Körperlichkeit sehe, komme er sich unzulänglich vor, denn welch gewöhnlicher Mann könne mit solch gymnastischen Verrenkungen schon mithalten. Ihr seht also, es ist kompliziert.«

»Chandra hat das gesagt?«

»Hat er.«

»Wie undankbar die Menschen doch sind«, sinnierte Bukka, »selbst das schlichte Angebot öffentlicher Schönheit, Kunst und Freude müssen sie verkomplizieren.«

»Des einen Kunst ist des anderen Porno«, sagte Haleya Kote. »Es gibt in Bisnaga immer noch viele Anhänger von Vidyasagar, und Ihr wisst ja, was man über die Bilder sagt, von denen es jetzt in den Tempeln wimmelt und die sich wie die Pest in unseren Straßen verbreiten.«

»Wimmeln? Pest? Reden wir hier von Kakerlaken?«

»Ja«, sagte Haleya Kote. »Das ist genau das Wort, das er gebraucht. Er ermutigt seine Anhänger, diese Invasion schmutzigen, in Holz und Stein fickenden Ungeziefers auszumerzen. Viele der neuen Skulpturen wurden bereits entstellt.«

»Verstehe«, sagte Bukka. »Und nun? Wie lautet Euer Rat?«

»Das fällt nicht in meinen Aufgabenbereich«, sagte Haleya Kote, der vor einer möglichen Konfrontation mit Pampa Kampana zurückschreckte. »Ihr solltet das mit Ihrer Majestät, der Königin, besprechen, aber …«, doch er verstummte.

»Aber was?«, hakte Bukka nach.

»Aber vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn die Politik des Reiches die Menschen nicht teilt, sondern eint.«

»Ich werde drüber nachdenken«, sagte der König.

»Ich weiß ja«, sagte er an diesem Abend im königlichen Schlafgemach zu Pampa Kampana, »dass der körperliche Liebesakt für Euch Ausdruck spiritueller Vollkommenheit ist, aber offenbar sehen das nicht alle so.«

»Was für eine Schande«, erwiderte sie. »Stellt Ihr Euch jetzt auf eine Seite mit diesem alten kahlköpfigen, fetten Heuchler und wendet Euch gegen mich? Denn er ist es, der die Sinne der Menschen vergiftet, nicht ich.«

»Es könnte doch sein«, erklärte der König in sanftem Ton, »dass Eure Ideen für das vierzehnte Jahrhundert zu fortschrittlich sind. Ihr seid unserer Zeit womöglich ein wenig voraus.«

»Einem mächtigen Reich wie dem Euren«, gab sie zurück, »steht es gut an, den Menschen den Weg in die Zukunft zu weisen. Soll doch überall das vierzehnte Jahrhundert herrschen, wir aber werden im fünfzehnten leben.«