Leihen und Borgen bringt Kummer und Sorgen.
Sprichwort
Banken verleihen Geld an Privatleute, Unternehmen und Regierungen und leihen sich ihrerseits Geld von Privatleuten und Unternehmen, einschließlich anderen Banken. Um Banken zu verstehen, muss man Kredite und Schulden verstehen. In diesem und dem folgenden Kapitel diskutieren wir, wie Kredite und Schulden funktionieren und wie Verschuldung sich auf das Risiko auswirkt. Wir diskutieren dies allgemein, für jegliche Form von privaten Schulden, nicht nur für die Verschuldung von Banken.1
Privatpersonen leihen sich Geld, um so Dinge wie ein Auto oder ein Haus zu kaufen, sodass sie diese früher besitzen und genießen können, als wenn sie den Kaufpreis selbst aufbringen müssten.2 Privatpersonen und Unternehmen leihen sich auch Geld, um Investitionen zu tätigen. So könnte eine Privatperson das geliehene Geld zur Finanzierung ihrer Ausbildung verwenden und ein Unternehmen könnte in eine neue Fabrik oder die Entwicklung eines neuen Produkts investieren. Die Schuldner hoffen, dass sie später genug Geld haben werden, um ihre Schulden zurückzuzahlen, zum Beispiel, weil ihre Investitionen sich bezahlt machen.
Kredite erzeugen eine Hebelwirkung. Indem Einzelpersonen und Unternehmen sich Geld leihen, können sie größere Investitionen tätigen, als sie mit eigenem Geld bezahlen könnten. Diese Hebelwirkung erzeugt Chancen für den Schuldner, aber sie erhöht auch sein Risiko. Der Schuldner verspricht, seinen Gläubigern zu bestimmten Zeitpunkten in der Zukunft jeweils bestimmte Geldbeträge zu zahlen. Alles Geld, was nach diesen Zahlungen übrig bleibt, gehört ihm. Sind seine Investitionen ein Erfolg, so vegrößert die Hebelwirkung des Kredits seinen Gewinn. Sind seine Investitionen aber ein Misserfolg, so erhöht die gleiche Hebelwirkung seine Verluste. Je mehr er sich leiht, desto größer ist sein Risiko.
Für Privatpersonen und kleinere oder mittlere Unternehmen ist ein Kredit möglicherweise die einzige Möglichkeit, um mehr zu investieren, als sie sich mit ihren eigenen Mitteln leisten können. Unternehmen, die als Körperschaften organisiert sind, vor allem Aktiengesellschaften, haben jedoch noch andere Möglichkeiten, um Investitionen und Wachstum zu finanzieren. Sie können sich zum Beispiel frisches Kapital beschaffen, indem sie neue Unternehmensanteile ausgeben und verkaufen. Wenn solche Unternehmen investieren wollen, müssen sie immer auch entscheiden, welchen Anteil der Investition sie mit Krediten und welchen Anteil sie mit Eigenkapital finanzieren wollen.
Kate möchte ein Haus kaufen, das 300.000 Dollar kostet. Sie hat nicht genug Geld, um es bar zu bezahlen, sie kann aber einen Hypothekenkredit von bis zu 270.000 Dollar bekommen. Mindestens 30.000 Dollar oder 10 Prozent des Kaufpreises muss sie aus eigenen Mitteln aufbringen.
Kates Hauskauf lässt sich gut anhand eines Bilanzdiagramms veranschaulichen (siehe Abbildung 2.1). Die Box auf der linken Seite entspricht der Investition in das Haus, das 300.000 Dollar kostet. Die Positionen auf der rechten Seite entsprechen den verschiedenen Geldquellen für diese Investition, nämlich 270.000 Dollar aus dem Hypothekenkredit und 30.000 Dollar eigene Mittel. Die Differenz zwischen dem Wert des Hauses und dem Wert des Kredits, den Kate aufgenommen hat, ist ihr Eigenkapital (»equity«) an diesem Haus. Zum Zeitpunkt des Hauskaufs ist dieses Eigenkapital gerade gleich Kates Eigenanteil von 30.000 Dollar.
Abbildung 2.1: Bilanzdiagramm für einen Hauskauf
Der Hypothekenkreditvertrag spezifiziert genau, was Kate zu verschiedenen Zeitpunkten für Zinsen und Tilgung zu bezahlen hat. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass Kate während des hier betrachteten Zeitraums selbst in dem Haus lebt und lediglich Zinsen bezahlt, also nichts von den 270.000 Dollar zurückbezahlt.
Nach einem Jahr möchte Kate umziehen und verkauft das Haus. Um den Hypothekenkredit abzulösen, muss sie 270.000 Dollar bezahlen. Wenn sie das Haus für mehr als das verkaufen kann, gehört die Differenz ihr.
Ist der Wert des Hauses noch derselbe, so kann Kate es für 300.000 Dollar wieder verkaufen. Nach der Rückzahlung ihres Hypothekenkredits bleiben ihr 30.000 Dollar, was ihrem Eigenanteil beim Kauf des Hauses entspricht. Sie musste Zinsen auf den Hypothekenkredit zahlen, außerdem sind ihr Erträge entgangen, die sie bekommen hätte, wenn sie ihre 30.000 Dollar woanders angelegt hätte. Aber wenn sie gerne in dem Haus gelebt hat, ist sie vielleicht gleichwohl mit dieser Investition zufrieden. Die Zinsen auf die Hypothek und entgangenen Erträge auf ihre eigenen Mittel sind an die Stelle der Miete getreten, die sie hätte bezahlen müssen, wenn ihr das Haus nicht gehört hätte.
Natürlich wird Kate noch zufriedener sein, wenn der Wert ihres Hauses in diesem Jahr gestiegen ist. Nehmen wir an, der Wert des Hauses sei um 5 Prozent auf 315.000 Dollar gestiegen. Nach Abzug der 270.000 Dollar für die Kreditrückzahlung bleiben Kate 45.000 Dollar, also 15.000 Dollar mehr, als sie ursprünglich aus eigenen Mitteln zum Kauf des Hauses beigesteuert hat. Der Hypothekenkredit hatte ihr ermöglicht, ein Haus zu kaufen, das sie sich aus eigenen Mitteln nicht hätte leisten können, und zusätzlich hat sie eine großartige Rendite auf ihre eigenen Mittel erzielt. Schulden sind wunderbar, wenn das geliehene Geld in etwas investiert wird, dessen Wert steigt.
Doch was wäre, wenn Kates Haus in diesem einen Jahr an Wert verloren hätte? Nehmen wir an, der Wert des Hauses sei um 5 Prozent gesunken, sodass sie es lediglich für 285.000 Dollar hätte verkaufen können. In diesem Fall bleiben ihr nach Rückzahlung der 270.000 Dollar nur noch 15.000 von den 30.000 Dollar, die sie selbst eingesetzt hat. Sie hat einen Verlust von 15.000 Dollar oder 50 Prozent ihrer eingesetzten Mittel erlitten.
An diesem einfachen Beispiel können wir bereits erkennen, wie Verschuldung eine Hebelwirkung erzeugt, die Ertragschancen und Risiken vervielfacht. Schon eine kleine Veränderung des Immobilienwerts hat dramatische Auswirkungen auf Kates Vermögen: Bei einem Wertzuwachs von 5 Prozent macht Kate einen Gewinn von 50 Prozent, bei einem Wertverlust von 5 Prozent macht sie einen Verlust von 50 Prozent ihres Eigenanteils beim Kauf des Hauses. So wie ein Hebel die Kraft vervielfacht, mit der man versucht, einen Felsblock zu bewegen, so vervielfachen Kredite die Vermögenswerte, die der Schuldner bezahlen kann, aber sie vervielfachen auch die Gewinne und Verluste, die dem Schuldner pro Dollar der eingesetzten eigenen Mittel entstehen können.
Nach oben hin, wenn der Wert des Hauses steigt, kann Kate den gesamten Gewinn behalten. Nach unten hin aber kann schon ein kleiner Wertverlust des Hauses die von Kate eingesetzten Mittel aufzehren, denn der Betrag, den sie schuldet, ist fest vorgegeben. Der Wertverlust ihres Hauses geht voll zulasten ihres Eigenkapitals – zumindest bis dieses aufgezehrt ist. Schon bei einem Wertverlust von 5 Prozent verliert Kate die Hälfte ihrer eingesetzten Mittel.
Die unterschiedlichen Möglichkeiten, je nachdem, ob der Wert des Hauses gestiegen oder gesunken ist, werden in Abbildung 2.2 veranschaulicht. Das linke Bilanzdiagramm gibt Kates Position zum Zeitpunkt des Hauskaufs wieder, entsprechend Abbildung 2.1. Zu diesem Zeitpunkt entsprach ihr Eigenkapital den 30.000 Dollar, die sie selbst zum Hauskauf beisteuerte. Die beiden anderen Diagramme veranschaulichen die Situation nach einem Jahr, wobei im mittleren Bilanzdiagramm ein Wertzuwachs unterstellt wird und im rechten ein Wertverlust. Der Wert von Kates Hypothekenschuld ist in beiden Fällen derselbe. Der Wert von Kates Eigenkapitalposition verändert sich daher um denselben Betrag wie der Wert des Hauses. Da der Wert ihres anfänglichen Eigenkapitals niedriger war als der Wert des Hauses, ist die Veränderung beim Eigenkapital in Prozentsätzen gerechnet größer als beim Wert des Hauses.
Abbildung 2.2: Bilanzdiagramm für einen Hauskauf und Verkauf ein Jahr später
Kates Position ist noch schlechter, wenn der Wertverlust bei ihrem Haus noch größer ist. Nehmen wir beispielsweise an, der Wert ihres Hauses sei um 15 Prozent zurückgegangen. Dann kann Kate das Haus nur für 255.000 Dollar verkaufen und das ist weniger als der Betrag, den sie schuldet. In diesem Fall verliert sie die gesamten 30.000 Dollar Eigenanteil und schuldet sogar mehr, als sie beim Verkauf des Hauses erzielen kann.
Wenn Kates Haus weniger wert ist als der Betrag, den sie schuldet, hängt alles Weitere davon ab, ob ihr Gläubiger verlangen kann, dass sie die Differenz aus anderen Vermögenswerten begleicht, oder ob er sogar Zugriff auf zukünftige Gehaltszahlungen nehmen kann.3 In vielen europäischen Ländern sowie in einigen US-Bundesstaaten können Hypothekengläubiger verlangen, zumindest aus einem Teil des sonstigen Vermögens des Schuldners bedient zu werden, so zum Beispiel Bankguthaben, Autos, Gemälde oder Schmuck.4 Unter diesen Bedingungen könnte Kate gezwungen werden, die gesamten 270.000 Dollar zurückzuzahlen, und nicht nur die 255.000 Dollar, die sie mit dem Verkauf des Hauses erzielt hat. Wenn sie keine ausreichenden sonstigen Vermögenswerte besitzt, muss sie möglicherweise Privatinsolvenz anmelden.
In einigen US-Bundesstaaten jedoch enthalten Hypothekenkreditverträge eine sogenannte Non-Recourse-Klausel, die dem Hausbesitzer das Recht gibt, das Haus seinem Gläubiger zu überlassen, ohne noch weitere Zahlungen zu leisten. 5 In diesem Fall erhält der Gläubiger das Haus und der Kredit wird nicht voll zurückgezahlt.6
Was würde sich ergeben, wenn Kates Eigenanteil 60.000 anstatt 30.000 Dollar betragen hätte? In diesem Fall hätte Kate sich nur 240.000 Dollar leihen müssen, um das Haus zu erwerben. Und selbstverständlich wären die Kreditzinsen, die sie in dem einen Jahr, in dem sie in dem Haus gelebt hat, niedriger ausgefallen, aber statt 30.000 hätte sie 60.000 Dollar in ihrem Haus angelegt.
Wenn Kates Eigenanteil beim Hauskauf größer war, so ist die Hebelwirkung kleiner als bei einem niedrigeren Eigenanteil. Steigt der Wert des Hauses um 5 Prozent und kann sie das Haus für 315.000 Dollar verkaufen, so bleiben ihr nach Rückzahlung der 240.000 Dollar noch 75.000 Dollar – ein Gewinn in Höhe von 25 Prozent auf die von ihr eingesetzten eigenen Mittel. Verliert das Haus 5 Prozent seines Wertes und verkauft sie es für 285.000 Dollar, so bleiben ihr nach Rückzahlung der 240.000 Dollar noch 45.000 Dollar. In diesem Fall macht ihr Verlust 25 Prozent des Eigenanteils von 60.000 Dollar aus.
In absoluten Beträgen ausgedrückt sind Gewinn und Verlust auf die Gesamtinvestition gleich hoch wie zuvor, aber im Verhältnis zu Kates anfänglichem Eigenkapital sind beide kleiner, wenn sie sich weniger Geld geliehen hat. Je mehr Kate sich verschuldet, desto größer ist die Hebelwirkung, das heißt die Vervielfachung des prozentualen Gewinns oder Verlusts auf die Mittel, die sie selber einsetzt. Würde Kate das Haus ohne Kredit vollständig aus eigenen Mitteln bezahlen, so ist ihr Eigenkapital von Anfang an 100 Prozent und der prozentuale Gewinn oder Verlust entspricht eins zu eins dem prozentualen Wertzuwachs oder Wertverlust der Immobilie. In diesem Fall entspräche ein Verlust von 5 Prozent beim Verkauf des Hauses einem Verlust von 5 Prozent der von Kate eingesetzten Mittel; es gäbe keinerlei Hebelwirkung und keine Vervielfachung des prozentualen Gewinns oder Verlusts.
Tabelle 2.1 fasst das Beispiel zusammen und zeigt, was die verschiedenen Szenarien für Kate bedeuten: in der oberen Hälfte die anfänglich betrachtete Konstellation, in der Kate 30.000 Dollar selbst zum Kauf des Hauses beisteuert und sich 270.000 Dollar leiht, in der unteren Hälfte die Konstellation mit einem Eigenanteil von 60.000 Dollar und einem Kredit von 240.000 Dollar.7
Immobilienerwerb mit einem Eigenanteil von 30.000 Dollar (Anfangskapital) |
||||
Hauspreis nach einem Jahr (in Dollar) |
Prozentuale Veränderung des Hauspreises |
Hypothekenschulden (in Dollar) |
Verbleibendes Eigenkapital (in Dollar) |
Eigenkapitalrendite (in Prozent) |
345.000 315.000 300.000 285.000 255.000 |
15 5 0 –5 –15 |
270.000 270.000 270.000 270.000 270.000 |
75.000 45.000 30.000 15.000 0 |
150 50 0 –50 –150 |
Immobilienerwerb mit einem Eigenanteil von 60.000 Dollar (Anfangskapital) |
||||
Hauspreis nach einem Jahr (in Dollar) |
Prozentuale Veränderung des Hauspreises |
Hypothekenschulden (in Dollar) |
Verbleibendes Eigenkapital (in Dollar) |
Eigenkapitalrendite (in Prozent) |
345.000 315.000 300.000 285.000 255.000 |
15 5 0 –5 –15 |
240.000 240.000 240.000 240.000 240.000 |
105.000 75.000 60.000 45.000 15.000 |
75 25 0 –25 –75 |
Tabelle 2.1: Entwicklung von Schulden und Eigenkapital beim Kauf einer Immobilie im Wert von 300.000 Dollar in zwei unterschiedlichen Eigenkapitalszenarien (unter Verwendung eines Hypothekenkredits mit Non-Recourse-Klausel)
Um die Hebelwirkung besonders deutlich zu machen, haben wir jeweils noch ein Szenario eingefügt, in dem der Wert des Hauses um 15 Prozent auf 345.000 Dollar ansteigt. Im ersten Fall, in dem Kate den höheren Hypothekenkredit aufgenommen und nur 30.000 Dollar Eigenanteil geleistet hat, bleiben ihr nach dem Verkauf des Hauses und der Ablösung des Kredits noch 75.000 Dollar. In diesem Fall hat sie auf die von ihr eingesetzten 30.000 Dollar eine Eigenkapitalrendite von 150 Prozent erzielt, was ganz außergewöhnlich ist. Im zweiten Fall, in dem der Kredit kleiner und der Eigenanteil mit 60.000 Dollar größer ist, beträgt ihre Eigenkapitalrendite »nur« 75 Prozent. Wenn alles gut geht, ist die Hebelwirkung großartig.8 Bei Verlusten aber steht Kate besser da, wenn sie einen geringeren Kredit aufgenommen hat – wie im unteren Teil der Tabelle dargestellt –, denn dann verliert sie einen geringeren Teil ihres Einsatzes.9
Wenn alle Beteiligten davon ausgehen, dass Immobilienpreise nur steigen können, dann werden sie Verlustszenarien als irrelevant ansehen. Wie wir gesehen haben, kann es aber auch vorkommen, dass Immobilienpreise sinken, und das, obwohl Kreditgeber und Hausbesitzer das für unmöglich gehalten haben.
Unser Beispiel veanschaulicht die wichtige Rolle von Kates eigenem Beitrag zum Kauf des Hauses, ihrem anfänglichen Eigenkapital. Als Kate das Haus kaufte, entsprach ihr Eigenkapital gerade dem Teil des Wertes des Hauses, den sie nicht mit geliehenem Geld bezahlte. Zu jedem späteren Zeitpunkt ist Kates Eigenkapital die Differenz zwischen dem Immobilienwert und dem Betrag, den sie benötigt, um ihre Schulden zu tilgen. Das Eigenkapital dient als Puffer, um Wertverluste aufzufangen. Je höher Kates Eigenkapital ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Wert des Hauses nicht unter den Wert ihrer Schulden sinkt, sodass ihr selbst dann noch ein wenig Geld übrig bleibt, wenn das Haus an Wert verliert.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Verschuldung eine Hebelwirkung erzeugt, durch die die Eigenkapitalinvestition des Schuldners riskanter wird. Je höher die Verschuldung des Kreditnehmers, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er seinen gesamten Einsatz verliert. Enthält der Kreditvertrag eine Non-Recourse-Klausel, ist sein Verlust auf 100 Prozent seines anfänglichen Eigenkapitals begrenzt. Jeder darüber hinausgehende Verlust trifft dann den Gläubiger und nicht den Schuldner.
In unserem vereinfachten Beispiel wird Kates Haus nach einem Jahr verkauft. In diesem einen Jahr, in dem sie selbst in der Immobilie gewohnt hat, hat sie lediglich Zinsen bezahlt, sodass der Betrag, den sie zur Ablösung ihrer Schuld benötigt, gerade dem ursprünglichen Kredit entspricht. In einem realistischeren Szenario würde Kate das Haus wohl für einige Jahre besitzen und in dieser Zeit die Schuld auch teilweise tilgen. Vielleicht würde sie den Kredit auch zu irgendeinem Zeitpunkt refinanzieren, das heißt einen anderen Kredit aufnehmen und den ersten Kredit zurückzahlen. Und vermutlich würde sie auch verschiedene Instandhaltungs- und Verbesserungs- oder Umbauarbeiten an ihrem Haus durchführen lassen. Über die Zeit verändern sich sowohl der Wert des Hauses als auch die Höhe von Kates Hypothekenschulden und ihr Eigenkapital. All diese Veränderungen lassen sich im Bilanzdiagramm durch Veränderungen der Größe der verschiedenen Boxen beziehungsweise Kategorien in der Bilanz darstellen. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt gilt jedoch: Kates Eigenkapital ist gleich der Differenz zwischen dem Wert des Hauses und dem Betrag, den sie schuldet, und je größer ihr Eigenkapital ist relativ zu dem, was sie schuldet, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein nachfolgender Wertverlust ihr Eigenkapital vernichtet.
Bisher sind wir in unserem Beispiel davon ausgegangen, dass die Beträge von 300.000 Dollar für den Kauf des Hauses und 30.000 beziehungsweise 60.000 Dollar für Kates Eigenanteil fest vorgegeben sind. Wenn Kate ein Haus für 300.000 Dollar kaufen will und nur 30.000 Dollar Eigenkapital hat, so muss sie mit dem Risiko leben, dem sie sich aussetzt, wenn sie sich für 90 Prozent des Kaufpreises verschuldet. Dieses Risiko könnte sie aber senken, wenn sie ein billigeres Haus kaufte. Würde sie bei einem Eigenanteil von 30.000 Dollar ein Haus für 150.000 Dollar kaufen, so läge ihr Eigenkapital bei 20 Prozent des Kaufpreises. Das ist derselbe Prozentsatz, wie wenn sie mit einem Eigenanteil von 60.000 Dollar ein Haus für 300.000 Dollar kauft.
Wenn Kate bei einem Eigenanteil von 30.000 Dollar ein Haus für 150.000 Dollar kauft, sind ihre prozentualen Gewinne oder Verluste auf ihre eingesetzten Mittel dieselben, wie sie im unteren Teil der Tabelle 2.1 für den Kauf eines Hauses für 300.000 Dollar bei 60.000 Dollar Eigenantail dargestellt werden. Während Kate ihr gesamtes anfängliches Eigenkapital in Höhe von 30.000 Dollar verliert, wenn sie ein Haus für 300.000 Dollar kauft und dieses einen Wertverlust von 15 Prozent erfährt, verliert sie ihren Einsatz bei einem Wertverlust des Hauses von 15 Prozent nicht vollständig, wenn sie nur 150.000 Dollar für das Haus bezahlt hat. Bei der Entscheidung, welches Haus sie kaufen soll, wenn sie nur 30.000 Dollar Eigenkapital besitzt, muss Kate die Vorteile eines größeren Hauses gegen die wesentlich höheren Zinsen abwägen, die sie bei einem höheren Kredit zahlen muss, sowie gegen das erhöhte Risiko, einen größeren Teil ihres eigenen Einsatzes zu verlieren.
Ein großer Teil der vorstehenden Überlegungen gilt auch für Unternehmenskredite. Wenn Kate als alleinige Eigentümerin ein Unternehmen führt, geben Kredite ihr die Möglichkeit, mehr Maschinen oder mehr Räumlichkeiten zu erwerben, als es ihr aus eigenen Mitteln möglich wäre. Sie könnte auch Geld leihen, um ihre Mitarbeiter zu bezahlen, noch ehe sie die Ergebnisse von deren Mitarbeit verkauft.
Das Bilanzdiagramm lässt sich für Kates Unternehmen genauso gut verwenden wie für ihren Hauskauf. Die Box auf der linken Seite der Abbildung 2.3 entspricht dem Wert von allem, was dem Unternehmen gehört, also den Aktiva des Unternehmens, die obere Box auf der rechten entspricht den Schulden des Unternehmens, die untere Box auf der rechten Seite entspricht Kates Eigenkapital im Unternehmen.
Ebenso wie die Bilanz für Kates Haus verändert sich auch die Bilanz ihres Unternehmens über die Zeit. Die Veränderungen sind nicht nur darauf zurückzuführen, dass die Preise der Dinge, die dem Unternehmen gehören, sich verändern, sondern auch darauf, dass diese Dinge selbst sich verändern. Wenn Güter produziert werden, steigen Kates Lagerbestände, und wenn sie Güter verkauft, sinken ihre Lagerbestände und steigt ihr Bargeldbestand. Wenn Kate ihre Mitarbeiter bezahlt, nehmen ihre Bargeldbestände ab. Diese Situation ist komplizierter als die im vorherigen Beispiel, wo es nur um Änderungen im Wert des Hauses ging, aber die zugrunde liegende Logik ist dieselbe.
Abbildung 2.3: Bilanzdiagramm eines Unternehmens
Wie in dem Beispiel mit dem Haus ist auch hier die Differenz zwischen Kates Aktiva und ihren Schulden ihr Eigenkapital – gelegentlich auch als Nettovermögen bezeichnet. In beiden Fällen weiß Kate im Vorhinein nicht, wie sich der Wert ihrer Aktiva – im Immobilienbeispiel der Wert des Hauses – entwickeln wird. Die Entwicklung des Immobilienwerts und die Entwicklung des Unternehmens sind beide ungewiss. In beiden Fällen wirken sich Veränderungen des Werts der Aktiva auf Kates Eigenkapital aus. Wenn Kate einen Gewinn erzielt, weil ihre Einnahmen aus Verkäufen höher sind als ihre Kosten, wird der Wert der Aktiva ihres Unternehmens steigen und damit auch ihr Eigenkapital. Hat sie kein Glück und ihre Einnahmen bleiben hinter ihren Kosten zurück, so sinkt ihr Eigenkapital. Kates Schulden sind allerdings immer noch dieselben, es sei denn, sie leiht sich noch mehr Geld oder zahlt einen Teil ihrer Schulden zurück.
Wie im Beispiel des Hypothekenkredits erzeugt auch hier die Verschuldung eine Hebelwirkung und vergrößert das Risiko. Jeder Wertzuwachs oder Wertverlust bei den Aktiva impliziert eine gleich hohe Veränderung bei Kates Eigenkapital. In Prozentsätzen gerechnet beträgt die Veränderung der Höhe ihres Eigenkapitals jedoch ein Vielfaches der Veränderung des Wertes ihrer Aktiva. Diese Hebelwirkung fällt umso dramatischer aus, je mehr Schulden Kate hat und je geringer ihr Eigenkapital ist.
Als Alleineigentümerin ihres Unternehmens ist Kate von keiner Non-Recourse-Klausel geschützt. Wenn ihr Unternehmen Verluste macht, kann sie es nicht einfach schließen, ohne ihre Schulden zu bezahlen. Wenn sie die Schulden ihres Unternehmens nicht vollständig bezahlen kann, ist sie möglicherweise gezwungen, Insolvenz anzumelden. Sie kann ihr persönliches Vermögen vor den Risiken ihres Unternehmens schützen, wenn sie für ihr Unternehmen eine Rechtsform wählt, bei der sie nicht persönlich haftet.10 In diesem Fall legt die Gesellschaftssatzung fest, mit welchem Betrag Kate maximal haftet. Über diesen Betrag hinaus ist Kate wie bei der Non-Recourse-Klausel vor einem weiteren Zugriff der Gläubiger geschützt.
Eine Beschränkung der Haftung hat aber auch Nachteile. Wenn Kate nicht persönlich für ihre Schulden haftet, wird sie nicht so leicht einen Kreditgeber für ihr Unternehmen finden.11 Und die Kunden des Unternehmens sorgen sich womöglich, wie sie etwaige Ansprüche durchsetzen können, falls Kates Produkte zu wünschen übrig lassen. Bei unbeschränkter Haftung ist Kate zwar einem größeren persönlichen Risiko ausgesetzt, aber das gibt anderen das Vertrauen, dass sie einen Anreiz hat, für den Erfolg ihres Unternehmens zu sorgen.
Unternehmen mit beschränkter Haftung sind gewöhnlich als Körperschaften organisiert. Eine Körperschaft ist eine Institution mit einer Satzung, die festlegt, wie die Institution arbeitet, zum Beispiel, welches die Rechte und Pflichten des Leitungs- und Aufsichtsgremiums und der Anteilseigner oder Gesellschafter sind. In vielen Zusammenhängen behandelt das Rechtssystem eine solche Institution so, als handle es sich um einen Menschen. Sie kann daher Verträge mit Dritten schließen, Geld leihen, Mitarbeiter einstellen und Produkte verkaufen. Man spricht hier von einer »juristischen Person«. Tatsächlich sind die Entscheidungen und Handlungen einer juristischen Person das Ergebnis der Entscheidungen und Handlungen der verantwortlichen Personen, etwa der Manager oder der Mitglieder von Leitungs- und Aufsichtsgremien.
Wenn Kate ihr Unternehmen in eine Körperschaft umwandelt, wird das Eigenkapital des Unternehmens ihr zunächst allein gehören und sie wird ihr Unternehmen auch selber leiten. Das muss sie aber nicht. Vielleicht will Kate einen Teil des Eigenkapitals an diesem Unternehmen an jemand anders verkaufen oder Familienmitgliedern, Freunden oder wichtigen Mitarbeitern übertragen. Vielleicht möchte sie aber auch alle Anteile behalten, aber einer anderen Person die Unternehmensführung übertragen. Beides lässt der gesetzliche Rahmen für Körperschaften zu. Das Eigentum am Eigenkapital des Unternehmens und die Unternehmensführung müssen nicht notwendigerweise bei denselben Personen liegen.
Die größten Unternehmen sind Aktiengesellschaften. Bei ihnen geht die Trennung von Anteilseigentum und Unternehmensführung besonders weit. Zumeist werden die Aktien, das heißt die Anteile an der Gesellschaft, an der Börse ge- und verkauft, ohne dass die Aktionäre etwas mit dem Unternehmen zu tun hätten.
Genau wie natürliche Personen können sich auch juristische Personen Geld leihen. Wenn sie das tun, erhalten sie ebenfalls einen Geldbetrag im Austausch gegen eine rechtliche Verpflichtung zur Rückzahlung bestimmter Beträge zu bestimmten Terminen in der Zukunft. Diese Verpflichtung wird nur erfüllt, wenn das Unternehmen zahlen kann. Kann es nicht zahlen und kann es die Zahlungsbedingungen nicht neu aushandeln, muss es möglicherweise Insolvenz anmelden. In diesem Fall sind die Anteilseigner nicht verpflichtet, zusätzliche Zahlungen zu leisten. Ihre Haftung beschränkt sich auf die in der Satzung genannten und von ihnen investierten Summen. Die Schulden der Körperschaft werden allein aus ihren Vermögenswerten beglichen, sofern diese dazu ausreichen.
Die finanzielle Lage einer Aktiengesellschaft – oder anderen juristischen Person – lässt sich wieder in einem Bilanzdiagramm darstellen. Die in Abbildung 2.4 dargestellte Bilanz ist die gleiche wie in Abbildung 2.3, mit einem Unterschied: Die Differenz zwischen den Aktiva und Schulden wird nun als Aktionärskapital/Eigenkapital der Gesellschaft bezeichnet.12
Abbildung 2.4: Bilanzdiagramm einer Aktiengesellschaft
Das Eigenkapital einer Aktiengesellschaft ist die Differenz zwischen dem Wert der Aktiva des Unternehmens und den Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern. Wie zuvor spiegelt die Entwicklung des Aktionärskapitals über die Zeit die Gewinne und Verluste wider, die mit den Unternehmensinvestitionen erzielt wurden; auch hier gibt es eine Hebelwirkung der Verschuldung. Je höher das Eigenkapital einer Aktiengesellschaft in Relation zu seinen Vermögenswerten ist, desto höhere Verluste kann es absorbieren, ohne ganz verloren zu gehen. Aktiengesellschaften mit einem geringen Eigenkapital sind wie Hausbesitzer, die einen hohen Kredit aufgenommen haben. Je geringer der Eigenkapitalanteil, desto größer ist das Risiko, dass das Eigenkapital durch eine Wertminderung der Vermögenswerte vernichtet wird.
Natürliche Personen können meist nur so viel investieren, wie sie aus ihrem eigenen Vermögen oder mithilfe von Krediten bezahlen können. Eine Aktiengesellschaft dagegen kann sich auch Geld beschaffen, indem sie neue Aktien ausgibt und verkauft. Aktiengesellschaften können daher schnell wachsen, ohne sich Geld leihen zu müssen.
Der Anteil, den ein Aktionär am Eigenkapital des Unternehmens hat, hängt davon ab, wie viele Aktien er erworben hat. Wenn das Unternehmen einen Gewinn erzielt und diesen ganz oder teilweise in Form von Dividenden ausschüttet, haben die Aktionäre Anspruch auf einen Anteil an dieser Ausschüttung, der ihrem Anteil am Aktienkapital entspricht. Deshalb sind Anleger bereit, Geld zum Kauf dieser Aktien aufzuwenden, je nachdem, welche Dividenden sie für die Zunkunft erwarten.
Die Aktiengesellschaft kann sich daher Mittel beschaffen, indem sie Aktien emittiert und an Investoren verkauft. Die Aktionäre selbst können ihre Anteile auch verkaufen.13 Das ist besonders einfach, wenn die Aktien an einer aktiven Börse gehandelt werden. Die Eigentümerstruktur von Aktiengesellschaften ist sehr flexibel und diese Flexibilität hat zum Erfolg dieser Unternehmensform beigetragen.
Wenn eine Aktiengesellschaft neue Aktien ausgibt, reduziert sich der Anteil der vorher bestehenden Aktien am Eigenkapital der Gesellschaft. Wenn zum Beispiel ein Unternehmen ursprünglich vier Millionen Aktien ausstehen hatte und anschließend eine Million neue Aktien ausgibt und verkauft, befinden sich nachher fünf Millionen Unternehmensaktien im Umlauf. Die vier Millionen alten Aktien machen dann nur noch 80 Prozent des Eigenkapitals aus, die neuen Aktien 20 Prozent.
Die Verringerung des Anteils der alten Aktien am Eigenkapital wird gelegentlich als Verwässerung bezeichnet, womit suggeriert werden soll, dass sich die Position der ursprünglichen Aktionäre irgendwie verschlechtert. Jedoch hat das Unternehmen nach der Ausgabe der neuen Aktien mehr Ressourcen. Das Geld, das die neuen Aktionäre für ihre Aktien bezahlen, steht dem Unternehmen für weitere Investitionen zur Verfügung. Die Aktiva des Unternehmens nehmen zu und die linke Seite der Unternehmensbilanz wächst um genau den Betrag, den das Unternehmen für seine neuen Aktien erhält.
Welchen Effekt hat also die Kapitalerhöhung durch Ausgabe neuer Aktien auf die Alt-Aktionäre? Die Antwort hängt davon ab, ob sie mit einem größeren Anteil an einem kleineren Unternehmen besser fahren oder mit einem kleineren Anteil an einem größeren Unternehmen. Wenn das Unternehmen das zusätzliche Geld sinnvoll verwenden, seinen Gewinn steigern und seine Wachstumschancen verbessern kann, so sind die alten Aktionäre mit der Ausgabe neuer Aktien besser gestellt als ohne sie.14 Ein kleinerer Anteil an einem größeren und schneller wachsenden Unternehmen kann wertvoller und attraktiver sein als ein größerer Anteil an einem kleineren Unternehmen.15
Der Wert der alten Aktien kann sich aber verringern, wenn die Erlöse aus dem Verkauf der neuen Aktien für Dinge eingesetzt werden, die den Aktionären keinen Vorteil bringen. Das könnte der Fall sein, weil das Unternehmen versucht zu wachsen, indem es ein anderes Unternehmen zu einem überzogenen Preis kauft. Es könnte auch sein, dass die zusätzlichen Mittel vor allem den Gläubigern des Unternehmens zugute kommen, sodass am Ende die Aktionäre nur wenig davon haben.16
Da Aktiengesellschaften sowohl Aktien ausgeben als auch Kredite aufnehmen können, hängt ihre Verschuldung nicht nur davon ab, wie viel sie investieren wollen, sondern auch davon, welche Mischung aus Eigen- und Fremdkapital sie zur Finanzierung der Investitionen verwenden wollen. In dieser Hinsicht sind Aktiengesellschaften sehr anders als natürliche Personen.
Beide, private Unternehmen und Aktiengesellschaften, können investieren und wachsen, ohne sich zu verschulden, indem sie ihre Gewinne einbehalten und reinvestieren. Geld, das den Eigentümern oder Aktionären ausgezahlt wird, steht dem Unternehmen nicht mehr zur Verfügung. Für Investitionen, die mit einbehaltenen Gewinnen finanziert werden, ist aber keine zusätzliche Schuldenaufnahme nötig. Durch diese Investitionen wird daher das Eigenkapital des Unternehmens erhöht. Eine Ausgabe neuer Aktien ist dazu nicht erforderlich. Aktionäre erwarten eine Rendite auf ihre Investition in die Aktiengesellschaft. Wenn diese ihre Gewinne einbehält und schlechte Investitionsentscheidungen trifft oder das Geld verschwendet, sind die Aktionäre unzufrieden und das spiegelt sich in einem niedrigen Aktienkurs wider. Die Unternehmensführung und die Aktionäre sind gelegentlich nicht einer Meinung über die Verwendung der Gewinne, wobei die Aktionäre gern höhere Ausschüttungen haben möchten.17
Manchmal allerdings ziehen die Aktionäre eine Einbehaltung und Reinvestition der Gewinne vor. Das ist der Fall, wenn das Unternehmen große Wachstumschancen hat. Die Aktionäre möchten, dass es diese Chancen nutzt. Sind die Investitionen erfolgreich, so wird sich dieser Erfolg mit der Zeit in höheren Aktienkursen und höheren Dividenden widerspiegeln. Etliche Unternehmen zahlen ihren Aktionären über längere Zeiträume keine Dividende und diese sind trotzdem zufrieden. Beispielsweise zahlte Apple von Dezember 1995 bis August 2012 überhaupt keine Dividenden. Wenn solche Wachstumsunternehmen keine Dividenden zahlen, können die Aktionäre gleichwohl eine Art Eigenbau-Dividende erzielen, indem sie einen Teil ihrer Aktien verkaufen und von den Kursgewinnen profitieren.18
Ausschüttungen an Eigentümer oder Aktionäre können auf zwei verschiedene Weisen erfolgen. Wenn das Unternehmen Dividenden zahlt, bekommt jeder Aktionär einen Anteil entsprechend seinem Aktienanteil. Alternativ dazu kann das Unternehmen auch einen Teil seiner Aktien zurückkaufen. In diesem Fall erhalten einige Aktionäre bares Geld, die anderen aber profitieren davon, dass ihr Anteil am Unternehmen steigt, weil nun weniger Aktien im Umlauf sind. Das lässt den Kurs ansteigen. In beiden Fällen allerdings verringern die Ausschüttungen das Eigenkapital des Unternehmens und damit seine Fähigkeit, Verluste zu absorbieren.
Die Verschuldung von Unternehmen variiert sehr stark. Einige wie Apple oder Bed Bath & Beyond haben kaum Schulden. Die meisten anderen Unternehmen sind etwas verschuldet, aber nicht sehr viel. Europäische Unternehmen sind meist stärker verschuldet als US-amerikanische, wobei ihre Kredite vor allem von Banken kommen. Doch selbst in Europa existiert praktisch kein gesundes Großunternehmen mit weniger als 30 Prozent Eigenkapital. Wenn Banken Kredite an Unternehmen vergeben, bestehen sie darauf, dass die Unternehmen über genügend Eigenkapital verfügen, um Verluste verkraften zu können.19 Im Gegensatz dazu neigen Banken selbst dazu, sich sehr hoch zu verschulden. Üblicherweise macht ihr Eigenkapital weniger als 10 Prozent ihrer Aktiva aus, bei vielen sogar nur 5 Prozent oder noch weniger.
Das war nicht immer so. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Banken überwiegend Einzelunternehmen oder Gesellschaften mit unbeschränkter Haftung. Die Bankeigentümer mussten ihre Schulden gegenüber Einlagenkunden und anderen Gläubigern nicht nur aus dem Vermögen der Bank, sondern gegebenenfalls auch aus ihrem eigenen Vermögen bezahlen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war ein Eigenkapital von 40 bis 50 Prozent der gesamten Bankaktiva üblich.20 Damals achteten Banker sehr darauf, dass sie keine zu großen Risiken eingingen, da sie die Folgen schlechter Geschäftsergebnisse selbst zu tragen hatten.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildeten sich in den USA und in zahlreichen europäischen Ländern zunehmend Unternehmen mit beschränkter Haftung, vorwiegend Aktiengesellschaften. In einigen Ländern hat sich diese Unternehmensform bei Banken langsamer verbreitet als in anderen Branchen. In Großbritannien zum Beispiel waren viele Banken zunächst nicht besonders geneigt, neue rechtliche Regeln zu nutzen, die ihnen die Möglichkeit gaben, die Haftung der Eigentümer zu beschränken. Ein Bankexperte erklärte damals, »ein Kunde würde sein Geld viel eher einer Bank anvertrauen«, wenn die Anteilseigner unbeschränkt hafteten.21 Auch in den USA waren die meisten Banken aufgrund einer Kombination von rechtlichen Regeln und privaten Verträgen bis in die 1930er-Jahre nicht wirklich bereit, die beschränkte Haftung zu übernehmen, obwohl diese in anderen Branchen der USA längst üblich war.22
Bei unbeschränkter Haftung können Banken ihre Anteilseigner völlig ruinieren, wenn sie in eine Schieflage geraten. Das galt als Hindernis, welches vermögende Privatpersonen davon abhielt, Bankbeteiligungen zu erwerben. Solange Banken als Unternehmen mit unbeschränkter Eigentümerhaftung organisiert waren, konnten sie nicht sehr groß werden. Nach dem Zusammenbruch der City of Glasgow Bank im Jahr 1878, der die Bankkunden ungeschoren ließ, 80 Prozent der Bankaktionäre aber in den persönlichen Konkurs trieb, beschleunigte sich der Trend zur Haftungsbeschränkung der Bankeigentümer. Jedoch bestand noch bis weit in das 20. Jahrhundert oft eine erweiterte Haftung, sodass die Aktionäre auch für Verluste aufkommen mussten, die das jeweils einbezahlte Aktienkapital überstiegen.23
In der Großen Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er-Jahre allerdings konnte die erweiterte Haftung der Bankeigentümer nicht verhindern, dass es zu Bank Runs und zu Verlusten der Einleger kam, denn viele Bankeigentümer gingen selbst bankrott.24 Nach dieser Erfahrung schufen die USA eine staatliche Einlagenversicherung und gründeten dazu die Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC) als Einlagensicherungsbehörde. Banken, die Mitglied der FDIC sind, bezahlen eine Prämie und die Bankeinlagen ihrer Kunden sind dafür bis zu einer Obergrenze vom Staat garantiert; die Obergrenze beträgt derzeit 250.000 Dollar. Ähnliche Einrichtungen wurden auch in vielen anderen Ländern geschaffen.25
Der auffälligste Trend in der Finanzierung von Banken seit Mitte des 19. Jahrhunderts liegt jedoch in der stetigen Abnahme der Eigenkapitalfinanzierung relativ zur Fremdkapitalfinanzierung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es noch üblich, dass das Eigenkapital von Banken 25 Prozent ihrer gesamten Aktiva ausmachte. Dieser Prozentsatz ist mit der Zeit in den einstelligen Bereich abgerutscht und lag Anfang der 1990er-Jahre in den USA zwischen 6 und 8 Prozent.26 In anderen Ländern waren ähnliche Entwicklungen zu beobachten.27 Im Vorfeld der großen Finanzkrise von 2007 bis 2009 stieg die Verschuldung zahlreicher Banken sogar noch weiter.28
Wenn Privatpersonen oder Unternehmensführer beschließen, sich Geld zu leihen, sehen sie in erster Linie die helle Seite des Schuldenmachens, das heißt die Fähigkeit, größere Investitionen zu tätigen und eine höhere Investitionsrendite zu erzielen, wenn die Investitionen erfolgreich sind. Die Hebelwirkung von Fremdkapital macht sich jedoch nicht nur bei einer positiven, sondern auch bei einer negativen Entwicklung bemerkbar. Je größer der Anteil der Vermögenswerte, die mit Fremdkapital finanziert sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kreditnehmer, der Kreditgeber und möglicherweise Dritte die dunkle Seite des Schuldenmachens erfahren. Im nächsten Kapitel werden wir diese dunkle Seite etwas näher ansehen und untersuchen, was geschieht, wenn der Schuldner in eine finanzielle Notlage gerät und seine Schulden möglicherweise nicht mehr bedienen kann. Zwar gehen wir erst in den daran anschließenden Kapiteln speziell auf Banken ein, doch ist das folgende Kapitel ein zentraler Teil des Buches, da die dunkle Seite des Schuldenmachens vieles von dem erklärt, was heute bei Banken schiefläuft.
Der gute alte John Sedley war ein ruinierter Mann. An der Börse hatte man seinen Namen öffentlich als säumigen Schuldner bekannt gemacht … Das Haus und die Möbel vom Russell Square wurden beschlagnahmt und verkauft und er und seine Familie wurden auf die Straße gesetzt … auf dass sie Unterschlupf finden mochten, wo es ihnen beliebte.
William Makepeace Thackeray (1811–1863), Jahrmarkt der Eitelkeiten
Schulden sind ein Versprechen. Nachdem sie aufgenommen wurden, müssen Schuldner und Gläubiger sehen, wie sie damit zurechtkommen. Manchmal ist die Belastung für den Schuldner zu schwer oder eine Erfüllung des Versprechens ist unmöglich. Das gilt für die Schulden von Privatpersonen und von Unternehmen und gelegentlich auch für Staatsschulden. Die Belastung durch Schulden kann dem Schuldner, dem Gläubiger und gelegentlich auch Dritten Probleme bereiten.
Betrachten wir wieder Kate. Wenn Kate ihrer Zahlungsverpflichtung nicht nachkommt, kann das gravierende Konsequenzen für ihr Leben und ihr Unternehmen haben. Kate könnte versuchen, einen zustzälichen Kredit zu bekommen, was bedeutet, dass sie neue Schulden macht, um ihre bisherigen Schulden zu bedienen. Damit sie aber neue Schulden machen kann, müssen ihre Gläubiger überzeugt sein, dass sie nur vorübergehend in Schwierigkeiten ist und dass sie irgendwann später in der Lage sein wird, die neuen ebenso wie die alten Kredite zurückzuzahlen.
Wenn Kate als Schuldnerin in Schwierigkeiten kommt, möchte sie ihre Gläubiger gerne glauben machen, dass sie nur ein vorübergehendes Liquiditätsproblem hat und zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage sein wird, ihre Schulden vollständig zurückzuzahlen. Sie möchte nicht, dass ihre Solvenz – die Fähigkeit, die Schulden irgendwann überhaupt zurückzuzahlen – infrage gestellt wird. Wenn die Gläubiger ihr glauben, sind sie vielleicht bereit, ihre Kredite zu erneuern. Jedoch kommt es immer wieder vor, dass Schuldner mit angeblich vorübergehenden Liquiditätsproblemen am Ende doch bankrottgehen.
Spielt es eine Rolle, ob Kate nur ein Liquiditätsproblem oder ein Solvenzproblem hat? Wenn Kate wenig Hoffnung auf eine Besserung ihrer Finanzlage hat und ihre Gläubiger zulassen, dass sie sich munter weiter verschuldet und mit dem Geld macht, was sie will, dann könnte Kate leichtsinnig werden. Zocken, um wieder auf die Beine zu kommen, nach dem Grundsatz »Kopf, ich gewinne, Zahl, meine Gläubiger verlieren«, kann verlockend sein, wenn es sonst nicht möglich ist, den Bankrott zu vermeiden.
Die Auswirkungen einer hohen Verschuldung zeigen sich oft schon lange, bevor ein Schuldner pleitegeht. Aufgrund ihrer hohen Verschuldung treffen Schuldner schlechtere Entscheidungen, als wenn sie nicht so hoch verschuldet wären. In einer finanziellen Schieflage sind sie möglicherweise übermäßig vorsichtig oder übermäßig leichtsinnig. Beides kann für sie, ihre Gläubiger und Dritte sehr teuer sein.
Die dunkle Seite des Schuldenmachens erklärt, warum sich die meisten Unternehmen nur begrenzt verschulden. Banken jedoch erleben die Belastung durch Schulden anders als andere Schuldner. Sie sehen in erster Linie die helle Seite des Schuldenmachens. Daher verschulden sich Banken in erheblich höherem Maße als andere Unternehmen. Die dunkle Seite des Schuldenmachens ist für sie weniger dunkel, da ein Teil der Kosten von Dritten getragen wird. Durch ihre hohe Verschuldung aber werfen sie einen dunklen Schatten auf die gesamte Volkswirtschaft.
Kommen wir noch einmal auf Kate und ihren Hypothekenkredit von 270.000 Dollar zurück. Im letzten Kapitel sind wir davon ausgegangen, dass sie diesen Kredit aufnimmt, um ein Haus für 300.000 Dollar zu kaufen. Kate lebt ein Jahr lang in dem Haus und zahlt in dieser Zeit lediglich Zinsen. Dann verkauft sie das Haus und löst den Hypothekenkredit ab. In einem realistischeren Szenario würde Kate mit ihren monatlichen Raten nicht nur die Zinsen bezahlen, sondern auch jeweils einen Teil der Schuld tilgen. Im Lauf der Zeit würden Kates verbleibende Schulden und die Zinsen darauf sinken und der Tilgungsanteil an ihren Zahlungen würde steigen.
Wenn sie den Kredit bekommen hat, muss Kate die im Kreditvertrag festgelegten Zahlungen leisten. Wenn Kate eine gut bezahlte Stelle hat, fällt ihr das möglicherweise leicht. Doch was geschieht, wenn sie ihren Arbeitsplatz verliert oder durch eine Krankheit oder einen Unfall arbeitsunfähig wird? Dann werden die Zahlungen für ihre Hypothek zu einer schweren Last und Kate hat vielleicht nicht mehr genug, um ihren Lebenshalt zu finanzieren und den Kredit abzubezahlen.
Möglicherweise ist Kates Bank bereit, ihr einen Aufschub zu gewähren und die Zahlungsansprüche für eine Weile auszusetzen. Kate könnte auch einen weiteren Kredit aufnehmen. Aber das würde ihr Problem nicht wirklich lösen, denn danach müsste sie noch höhere Zinsen zahlen, nämlich für den neuen und für den alten Kredit. Neue Schulden aufzunehmen, um bestehende Schulden zu bedienen, kann der Beginn eines Teufelskreises sein, eine Schuldenfalle, in der die Zahlungsverpflichtungen ständig weiter anwachsen. Dasselbe könnte passieren, wenn Kate eine zweite Hypothek auf ihr Haus aufgenommen hätte, um eine Reise ans Mittelmeer zu bezahlen. Mit dieser zweiten Hypothek würde sie ihre Schulden erhöhen und ihr Eigenkapital an ihrem Haus verringern.
Noch größer ist das Risiko für Kate, wenn der Zinssatz auf ihren Kredit variabel ist und von Zeit zu Zeit an die Marktentwicklung angepasst wird. In den 1980er-Jahren wurden in den USA oft variabel verzinsliche Hypothekenkredite, sogenannte ARM-Kredite (Adjustable-Rate Mortgage), vergeben, da die Banken fürchteten, die Zinssätze, zu denen sie sich selber Geld liehen, könnten sich ändern. Auch im Vorfeld der Finanzkrise gab es viele ARM-Kredite, wobei die Kreditnehmer mit sogenannten »Teaser Rates« gelockt wurden – besonders niedrigen Zinssätzen am Anfang, die jeweils nach zwei Jahren deutlich erhöht wurden. Wenn eine solche Anpassung bei Kate stattfindet und die Zinssätze auf ihren Hypothekenkredit steigen, erhöhen sich auch ihre monatlichen Raten. Damit wächst die Schuldenlast, und zwar möglicherweise ganz erheblich.
Ende der 1980er-Jahre machten viele Leute diese Erfahrung. Da es kaum Wohnungen zu mieten gab, hatten viele Leute Wohnungen gekauft und sich dabei hoch verschuldet. Die Hypothekenkredite wurden variabel verzinst. Als 1989 die Zinssätze drastisch anstiegen, stiegen auch die monatlichen Raten der Hypothekenschuldner und viele von ihnen konnten die höheren Raten nicht bezahlen. In den Jahren 1990 und 1991 kam es zu einer Welle von Zahlungsausfällen und Zwangsversteigerungen.1 Ähnliche Erfahrungen machten viele Schuldner mit zahlreichen variabel verzinsten Krediten und Hypotheken in den USA, als die Zinssätze Ende der 1980er-Jahre und erneut zwischen 2005 und 2007 sprunghaft anstiegen.2
Mit dem Risiko zu leben, dass sie ihre Schulden möglicherweise nicht zurückzahlen kann, ist für Kate unangenehm. Um das zu vermeiden, kann sie eine Barreserve vorhalten. Sie hätte sich auch von vornherein weniger Geld leihen können. Vielleicht aber hatte sie gar keine Wahl, zum Beispiel, weil sie aufgrund ihrer Stelle gezwungen war, in einer bestimmten Stadt zu wohnen. Wenn die Häuser in dieser Stadt sehr teuer sind und Kate keine vergleichbare Arbeit in einer billigeren Gegend finden konnte, so war sie vielleicht gezwungen, sich so hoch zu verschulden und das Risiko in Kauf zu nehmen.
Unternehmen, auch Aktiengesellschaften, stehen vor ähnlichen Problemen. Die Überschüsse eines Unternehmens sind meist unsicherer als das Einkommen eines Arbeitnehmers. Daher können die Risiken der Verschuldung für Unternehmen noch gefährlicher sein als für Privatpersonen. Wir erleben oft, dass Unternehmen, die eine Zeit lang erfolgreich gewesen sind, irgendwann ihre Kunden verlieren und dann nichts mehr verdienen. Wie Privatpersonen können auch Unternehmen die Risiken der Verschuldung vorübergehend durch zusätzliche Kredite ausgleichen, aber das kann auch bei ihnen der Beginn einer gefährlichen Abwärtsspirale sein.
Für Unternehmen können Verteidigungsstrategien zur Abwehr von Risiken kostspieliger sein als für Privatpersonen. Für Leute, die einen Kredit für ihren persönlichen Konsum aufnehmen, ist meist ein Konsumverzicht eine realistische Alternative. Der Investitionsbedarf eines Unternehmens aber wird zum Teil von den Notwendigkeiten seines Geschäfts bestimmt und lässt sich oft nicht senken, ohne dass das Geschäft Schaden nimmt. Ein Automobilhersteller muss eine Montagestraße haben. Ein Arzt braucht bestimmte medizinische Apparate und Personal für seine Praxis. Mit einer halben Montagestraße oder weniger Apparaten und ohne Empfangskraft könnten sie kaum arbeiten. Oft muss ein Unternehmen auch neue Investitionen tätigen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wenn hohe Schulden den Schuldner von solchen Investitionen abhalten, hat er ein Problem. Das Gesellschaftsspiel Monopoly gibt uns einen Eindruck von diesem Dilemma. Wenn ein Spieler bei diesem Spiel Gefahr läuft, dass ihm das Geld ausgeht, wird er möglicherweise keine teuren Grundstücke kaufen, obwohl diese normalerweise sehr profitabel wären.
Wie in Kapitel 2 besprochen, können sich Aktiengesellschaften Mittel beschaffen, indem sie neue Aktien ausgeben, statt Schulden aufzunehmen. Sie besitzen eine größere Flexibilität als Privatpersonen oder kleinere Unternehmen und können eine übermäßige Belastung durch Schulden eher vermeiden. Wenn eine Aktiengesellschaft allerdings nicht genügend Aktien ausgibt und verkauft oder wenn ihr Eigenkapital durch massive Verluste aufgezehrt wird, so könnte sie ebenfalls feststellen, dass eine hohe Schuldenlast eine große Gefahr für die Zukunft bedeutet.
Wie sehr ein Schuldner sich auch anstrengen mag, es kann passieren, dass er seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann. Was dann geschieht, hängt von den jeweiligen rechtlichen Regeln ab und davon, wie die Gläubiger und das Insolvenzgericht mit der Situation umgehen.
Wenn ein Schuldner einmal nicht zahlt, wartet sein Gläubiger gewöhnlich erst einmal ab, ob die Zahlung nur verspätet ist und dann doch noch kommt. In diesem Fall verlangt er vielleicht Verzugszinsen. Die Schulden über den Gerichtsvollzieher einzutreiben oder einen Vermögenswert zu konfiszieren, der als Kreditsicherheit dient, würde ihn viel Zeit und Geld kosten. Nimmt der Schuldner den Schuldendienst nicht wieder auf, leitet der Gläubiger am Ende wahrscheinlich doch rechtliche Schritte ein, um seine Forderungen durchzusetzen oder ein Insolvenzverfahren in Gang zu bringen. Sind mehrere Gläubiger betroffen, werden sie nicht so lange warten, denn jeder von ihnen muss auch befürchten, dass einer der anderen Gläubiger ihm zuvorkommt und Vermögenswerte des Schuldners konfisziert, was auch zulasten der Gläubiger geht, die mehr Geduld mit dem Schuldner aufbringen.
Es macht natürlich einen Unterschied, ob die Schulden 50.000 Dollar oder 50 Millionen Dollar betragen, und es kommt darauf an, wie hoch sie im Verhältnis zu den gesamten Vermögenswerten und Schulden des Schuldners und des Gläubigers sind. Eine Schuld von 50.000 Dollar ist typischerweise nur ein Problem für den Schuldner, eine Schuld von 50 Millionen Dollar dagegen ist auch ein Problem für den Gläubiger.3 Wenn jemand mit 50 Millionen Dollar nicht zahlen kann, so geht der Gläubiger womöglich sehr behutsam vor, um nicht das Unternehmen des Schuldners zu vernichten, in das die 50 Millionen Dollar investiert wurden. Ist er jedoch zu behutsam, so wird er möglicherweise Schwierigkeiten haben, sein Geld wiederzubekommen.
Wenn Gläubiger vor Gericht gehen, hängen die Konsequenzen für den Schuldner von den rechtlichen Regeln ab, die von Land zu Land und von Epoche zu Epoche sehr unterschiedlich sind beziehungsweise waren. Im alten Rom wurde der Besitz eines säumigen Schuldners konfisziert; er und seine Familie konnten als Sklaven verkauft werden.4 Shakespeares Kaufmann von Venedig hatte Anspruch auf ein Pfund Fleisch aus dem Körper seines Schuldners. Im Mittelalter konnten säumige Schuldner in den Schuldturm geworfen werden, bis ihre Familien die Schulden beglichen hatten.5 Säumige Schuldner ins Gefängnis zu stecken war in vielen Ländern bis weit in das 19. Jahrhundert hinein üblich. In den USA schafften die Bundesregierung und die meisten Einzelstaaten diese Praxis in den 1830er-Jahren ab. In einigen US-Bundesstaaten jedoch können säumige Schuldner bis heute noch ins Gefängnis gebracht werden.6
Zahlungseinstellungen und Insolvenzen wirken sehr destruktiv. Unter den heutigen Gesetzen sind ihre Folgen zwar nicht mehr so schrecklich wie im alten Rom oder im Mittelalter, aber die meisten Menschen würden alles tun, um einen Bankrott zu vermeiden.7 Für ein Unternehmen können die Folgen eines Zahlungsausfalls tödlich sein. Wenn ein Gläubiger den Fuhrpark oder die Maschinen des Schuldners konfisziert, kann vielleicht das Unternehmen gar nicht mehr arbeiten. Gibt es mehrere Gläubiger, ist die Gefahr noch größer, denn die Ansprüche der Gläubiger stehen in Konkurrenz zueinander. In diesem Fall hat jeder Gläubiger ein Interesse, einen Vermögenswert zu konfiszieren, bevor es die anderen tun. In dieser Situation kann die Einleitung eines Insolvenzverfahrens verhindern, dass die Gläubiger übereinander herfallen und das Unternehmen völlig zerpflücken.8
Die Wirkungen einer Zahlungseinstellung treffen nicht nur die unmittelbar betroffenen Schuldner und Gläubiger. Auch die Mitarbeiter des Schuldners, dessen Lieferanten und Kunden können betroffen sein.9 Dem Staat entgehen Steuereinnahmen, die Geschäfte am Ort können möglicherweise nicht mehr so viel verkaufen. Die Häuserpreise sinken, wenn viele Mitarbeiter die Stelle wechseln müssen und an einen anderen Ort ziehen. Wenn Mitarbeiter, denen gekündigt wird, ihre eigenen Hauskredite nicht mehr bedienen können und die Banken die Häuser übernehmen, kann es sein, dass diese anschließend leer stehen und verkommen. Eine solche Entwicklung drückt die Preise aller Häuser am Ort.10
Die meisten Länder gestatten den Schuldnern, Insolvenz anzumelden, bevor die Gläubiger aktiv werden. In diesem Fall übernimmt ein Insolvenzgericht oder ein Insolvenzverwalter das Ruder. In der Vergangenheit lag der Zweck eines Insolvenzverfahrens vor allem darin, zu verhindern, dass einzelne Gläubiger etwas tun, das am Ende nicht nur den Schuldner, sondern auch andere Gläubiger schädigen würde. In neuerer Zeit haben viele Länder versucht, ihre Insolvenzverfahren zu ändern, um die zerstörerischen Wirkungen von Insolvenzen und die Schäden für unbeteiligte Dritte zu vermeiden.11
Während es bei Insolvenz- und Konkursverfahren in der Vergangenheit vor allem darum ging, die Vermögenswerte des Schuldners zu verkaufen und die Gläubiger nach der Rangfolge ihrer Ansprüche zu bezahlen, zielt man heute zunächst darauf ab, das betroffene Unternehmen möglichst zu erhalten. Das Insolvenzverfahren wird benutzt, um die Verträge des Unternehmens mit seinen Mitarbeitern, Lieferanten und Gläubigern neu auszuhandeln, auch dazu, unprofitable Geschäftszweige zu schließen oder zu verkaufen, um dem Unternehmen wieder auf die Beine zu helfen. Die Betroffenen sind oft bereit, eine Reduzierung ihrer Ansprüche in Kauf zu nehmen, denn bei einer Zwangsliquidierung des Unternehmens kämen sie noch schlechter weg.
In einigen Wirtschaftszweigen, zum Beispiel bei den Fluggesellschaften, sind diese neuen Verfahren ziemlich erfolgreich. Die Fluggesellschaften setzen dabei ihren Geschäftsbetrieb fort oder werden von anderen Gesellschaften übernommen. Gleichzeitig werden die Arbeits- und sonstigen Verträge des Unternehmens im Insolvenzverfahren mit Blick auf die schlechten Geschäftsergebnisse neu ausgehandelt.12
In anderen Wirtschaftszweigen funktionieren die Insolvenzverfahren nicht so gut. Manchmal sind zu viele Parteien an den Verhandlungen beteiligt und jede Partei setzt auf Konfrontation, um für sich selbst möglichst viel herauszuholen. Angesichts der Schwierigkeiten, die die Insolvenz verursacht, werden die Verhandlungen auch durch die Unsicherheit belastet, wie es um die Zukunftsaussichten des Unternehmens und den Wert seiner Aktiva bestellt ist. Die Verhandlungen mit den verschiedenen Gläubigern mit ihren unterschiedlichen Interessenlagen und Prioritäten können daher viel Zeit in Anspruch nehmen. Während dieser Zeit ist das Unternehmen möglicherweise nicht in der Lage, im Wettbewerb mit anderen seine Kunden zu halten.13 Autokäufer zum Beispiel werden sich scheuen, ein Auto eines Herstellers zu erwerben, der insolvent ist oder kurz vor der Insolvenz steht, denn nach einer Schließung des Unternehmens könnte es schwierig sein, Ersatzteile für Reparaturen zu bekommen oder das Auto später weiterzuverkaufen.14 Solche Reaktionen können für sich schon bewirken, dass das Unternehmen nicht mehr weiterarbeiten kann und schließlich abgewickelt werden muss.
Zwar wirken Insolvenzen und Liquidierungen zerstörerisch, doch sind sie ein notwendiger Bestandteil des Geschehens in einer Marktwirtschaft. In einer Marktwirtschaft hat jeder die Freiheit, ein Unternehmen zu gründen und zu betreiben, wie er will, solange er sich an die Gesetze hält. Er mag mit seiner Unternehmensstrategie scheitern, aber wenn er erfolgreich ist, kann das für Innovation, Wachstum und neue Arbeitsplätze sorgen. Allerdings weiß man nie im Vorhinein, welche Unternehmer, Unternehmen und Strategien Erfolg haben und welche scheitern werden. Das erweist sich erst im Markt. Daher wird es neben den erfolgreichen Unternehmen immer auch erfolglose Unternehmen geben. Insolvenzen und Liquidierungen helfen, mit diesen erfolglosen Unternehmen umzugehen. Dabei werden einige wieder flottgemacht, andere jedoch ganz aufgelöst, um zu verhindern, dass noch mehr Ressourcen auf sie verschwendet werden.
Schuldner, die ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen können, möchten ihre Gläubiger und andere oft glauben machen, es gebe nur einen vorübergehenden Engpass und später würden sie durchaus wieder in der Lage sein, ihre Schulden zu bezahlen. Das hilft den Schuldnern, eine Insolvenz zu vermeiden, und ermöglicht ihnen vielleicht, weitere Kredite aufzunehmen oder andere Wege zu finden, um zusätzliche Investitionen zu finanzieren.
Eine nur vorübergehende Zahlungsunfähigkeit wird gelegentlich als Liquiditätsproblem bezeichnet. Um zu verstehen, was ein Liquiditätsproblem ist und wie es mit Zahlungsunfähigkeit und Insolvenz zusammenhängt, wollen wir annehmen, dass Kate versprochen hat, Paul an einem bestimmten Tag um 23 Uhr 1.000 Dollar in bar zu zahlen, aber vergessen hat, das Geld bei der Bank abzuheben. Nach Geschäftsschluss spuckt der Bankautomat nur 300 Dollar aus. Da Kate nun nicht genügend Geld dabei hat, leistet sie möglicherweise nicht die versprochene Zahlung. Wenn sie keinen Weg findet, sich rechtzeitig das fehlende Geld zu beschaffen oder Paul zu überreden, zu warten oder eine andere Art der Zahlung zu akzeptieren, muss sie ihr Versprechen brechen. Falls Kate jedoch mehr als 1.000 Dollar auf ihrem Bankkonto hat und das Versprechen über 1.000 Dollar ihre einzige Verbindlichkeit ist, dann ist sie durchaus in der Lage, ihr Versprechen zu einem späteren Zeitpunkt zu erfüllen.
Kates Problem in diesem Beispiel kann man als reines Liquiditätsproblem bezeichnen. So ein Problem lässt sich gewöhnlich lösen. Wenn Kate Paul überzeugen kann, dass sie genügend Geld auf dem Bankkonto hat, dann akzeptiert er vielleicht einen Scheck statt Bargeld. Oder Kate findet jemanden, der ihr vorübergehend den fehlenden Betrag leiht. Solange kein Zweifel daran besteht, dass Kate letztlich die erforderlichen Mittel besitzt, lässt sich ein Weg finden, dieses reine Liquiditätsproblem zu lösen.
Zahlungseinstellungen und Insolvenzen entstehen selten aufgrund eines reinen Liquiditätsproblems. Wenn es einfach ist, festzustellen, dass ein Kreditnehmer genügend Vermögenswerte besitzt, um einen neuen Kredit zurückzahlen zu können, führt ein vorübergehendes Liquiditätsproblem normalerweise nicht zu einer Zahlungseinstellung und Insolvenz. Da Zahlungseinstellung und Insolvenz für Schuldner und Gläubiger unangenehm und kostspielig sind, werden beide versuchen, eine andere Lösung zu finden.
In der Praxis ist aber nicht immer klar, wie viel die Aktiva des Schuldners wert sind. Nehmen wir zum Beispiel an, Kate besitze ein Grundstück auf einer kleinen abgelegenen Mittelmeerinsel. Wenn ihre Gläubiger dieses Grundstück nicht kennen, sind sie möglicherweise nicht bereit, ihr weitere Kredite zu gewähren. Wenn Kate kein Bargeld hat, muss sie ihr Grundstück vielleicht verkaufen, um mit dem Verkaufserlös ihre Schulden zu bezahlen. Welchen Kaufpreis sie erzielt und wie schnell sie verkaufen kann, hängt davon ab, wie gut der Grundstücksmarkt auf der Insel funktioniert. Für gewisse Aktiva findet man nicht ohne Weiteres einen Käufer. Wenn Kate das Geld schnell braucht, muss sie das Grundstück möglicherweise unter Wert verkaufen. Damit kann sie zwar ihr Liquiditätsproblem lösen, aber sie nimmt dafür einen Verlust in Kauf, der ihr ebenfalls schadet.
Bei Banken sind Liquditätsprobleme endemisch. Ein großer Teil der Schulden von Banken sind kurzfristige Schulden mit einer Laufzeit von wenigen Monaten, manchmal sogar nur Tagen. Einige Schulden von Banken sind sogar nur Übernachtkredite. Dagegen bestehen die Vermögenswerte der Banken aus langfristigen Krediten und anderen Anlagen mit längeren Laufzeiten. Viele dieser Vermögenswerte werden nicht auf Märkten gehandelt und lassen sich nicht ohne größere Verluste kurzfristig zu Bargeld machen.
Es kommt daher sehr stark darauf an, ob es den Banken immer wieder gelingt, ihre kurzfristigen Schulden zu erneuern oder andere Investoren zu finden, die ihnen frisches Geld leihen, wenn die früheren Schulden fällig werden. Wenn Banken kein neues Geld beschaffen können, um ihre auslaufenden Schulden zu refinanzieren, sind sie womöglich gezwungen, Vermögensgegenstände unter Wert zu verkaufen. Solche Notverkäufe, bei denen die Bank Verluste macht, können bewirken, dass die Schulden am Ende doch nicht zurückgezahlt werden können.
Um Banken bei Liquiditätsproblemen zu helfen, leiht ihnen jeweils die zuständige Zentralbank, in den USA die Federal Reserve, in Europa die Europäische Zentralbank (EZB), das Geld, das sie unmittelbar brauchen. Dazu müssen die Banken bei der Zentralbank Sicherheiten hinterlegen. Die Zentralbank bietet den Geschäftsbanken eine Art Sicherheitsnetz. Dabei unterstellt die Zentralbank, dass sie selbst keinen Verlust erleiden wird, wenn die Sicherheiten genügend werthaltig sind und die Geschäftsbanken nur Liquiditätsprobleme haben. Die Unterstützung der Zentralbank erspart den Banken verlustreiche Notverkäufe und dem Finanzsystem eine mögliche Krise.
Einige Experten meinen, die Finanzkrise von 2007 bis 2009 sei in erster Linie durch Liquiditätsprobleme von Finanzinstitutionen wie US-amerikanischen Investmentbanken verursacht worden, die keinen Zugang zu diesem Sicherheitsnetz hatten. Diese Liquiditätsprobleme seien entstanden, als die Kreditgeber dieser Finanzinstitutionen ihre Gelder abzogen und gleichzeitig der Markt für hypothekenbesicherte Wertpapiere einbrach.15 Die Konzentration auf Liquiditätsprobleme lenkt jedoch von der kritischen Frage ab, welche Probleme bei Investmentbanken wie Bear Stearns und Lehman Brothers die Kreditgeber überhaupt zum Abzug ihrer Gelder veranlassten.
Der Zusammenbruch der Refinanzierung von Investmentbanken und anderen Finanzinstitutionen in den Jahren 2007 bis 2009 kam nicht aus heiterem Himmel. Vielmehr spiegelte sich darin die berechtigte Sorge der Investoren wider, dass die betroffenen Institute auch später nicht in der Lage sein würden, ihre Schulden zurückzuzahlen. Mit anderen Worten, die Investoren befürchteten, die Banken seien überschuldet beziehungsweise insolvent.16
Nehmen wir an, Kate habe Schulden in Höhe von 1 Million Dollar, die sie morgen früh zurückzahlen muss. Ihr gesamtes Vermögen, einschließlich ihres Hauses, ihres Bankguthabens und selbst ihrer zukünftigen Gehaltszahlungen kommt aber nur auf 400.000 Dollar. In diesem Fall reicht Kates Vermögen nicht aus, um ihre Schulden vollständig zurückzuzahlen. Ein Zahlungsausfall ist unvermeidlich.
Und nun eine Abwandlung dieses Beispiels: Wie steht es, wenn Kates Schulden von 1 Million Dollar erst in einem Monat fällig werden und der Wert ihres Vermögens heute nur 400.000 Dollar beträgt? Da ihre Schulden noch nicht fällig sind, hat Kate noch keine Zahlungsverpflichtung verletzt. Man kann sich aber nicht vorstellen, dass sie in der Lage sein wird, ihre Schulden zu bezahlen. Kate ist eindeutig mit dem Kopf unter Wasser, überschuldet beziehungsweise insolvent.
Das Konzept der Überschuldung betrifft die Frage, ob grundsätzlich eine realistische Möglichkeit besteht, dass ein Schuldner seine Schulden bezahlen kann. Die Frage klingt einfach, doch ist es manchmal sehr schwierig, sie zu beantworten. Was ist, wenn ein Wunder geschieht und Kate von einem ihr bisher völlig unbekannten Onkel 10 Millionen Dollar erbt? Dann ist sie sehr wohl in der Lage, ihre Schulden zu begleichen.
In der Praxis ist es nicht leicht, festzustellen, ob ein Schuldner tatsächlich überschuldet ist. Dazu muss man abschätzen, welche Erträge und Gewinne seine Vermögenswerte und sein Unternehmen in Zukunft abwerfen. Diese Einschätzung hängt davon ab, welche Information man hat. Der Schuldner beziehungsweise das Management des betroffenen Unternehmens und die Unternehmenseigentümer haben vermutlich die beste Information, aber sie haben auch ein Interesse, ungünstige Informationen zu verheimlichen.
Eine Überschuldung ist zu vermuten, wenn der geschätzte Wert aller Vermögensgegenstände eines Schuldners nicht viel höher oder sogar niedriger ist als der Wert seiner Verbindlichkeiten. Bei Aktiengesellschaften besteht ein möglicher Test für Überschuldung darin, ob sie die Möglichkeit haben, sich neues Eigenkapital von privaten Investoren zu beschaffen. Wenn sie zu keinem Preis neues Eigenkapital beschaffen können, so ist das ein klares Indiz, dass das Unternehmen schwach und möglicherweise insolvent oder überschuldet ist.17
Selbst wenn ein Schuldner nicht schon insolvent ist, kann er sich trotzdem in einer finanziellen Schieflage befinden. Dann ist das Risiko groß, dass die Insolvenz am Ende tatsächlich eintritt. Schuldner in finanziellen Schwierigkeiten verhalten sich anders als Personen oder Unternehmen mit einer deutlich geringeren Schuldenlast. Dabei kann es zu übertriebener Vorsicht oder zu unverantwortlichem Leichtsinn kommen.
Ein Schuldner wird möglicherweise übervorsichtig, weil er unbedingt einen Zahlungsausfall vermeiden will. Diese übertriebene Vorsicht kann schädlich sein, zum Beispiel wenn der Schuldner eine Investition unterlässt, die für die Wettbewerbsfähigkeit seines Unternehmens wichtig wäre.
Und wenn der Schuldner trotz seiner finanziellen Schwierigkeiten eine Investitionschance wahrnehmen will, kann es sein, dass die Kreditverträge, die er mit seinen Gläubigern geschlossen hat, das nicht erlauben. Um die Gläubiger zu schützen, enthalten manche Kreditverträge Klauseln, nach denen bestimmte Investitionen, die für die Gläubiger ein Risiko mit sich bringen, nur mit deren Zustimmung getätigt werden dürfen. Diese Bedingungen können verhindern, dass der Schuldner eine vielversprechende Investitionschance nutzt, die er wahrnehmen würde, wenn er keine Schulden hätte. Die Flexibilität des Schuldners, Investitionen je nach Bedarf und Erfolgsaussichten zu tätigen, ist deutlich reduziert. In solchen Fällen verringert die Verschuldung die Fähigkeit des Schuldners, produktive neue Investitionen zu tätigen.
Manchmal verzichtet auch der Schuldner selbst auf nützliche Investitionen, weil er hoch verschuldet ist. Um das zu erklären, kehren wir zu Kate zurück, die ein Haus für 300.000 Dollar gekauft hat und sich dafür 270.000 Dollar geliehen hat. Kates Hypothekenkredit enthält eine Non-Recourse-Klausel, sodass sie nicht die gesamte Schuld zurückzahlen muss, wenn sie das Haus nach einem Jahr verlässt und der Wert des Hauses inzwischen unter 270.000 Dollar liegt.
Stellen wir uns vor, im Laufe des Jahres gibt es eine schwere Überschwemmung und der Wert ihres Hauses sinkt um 60.000 Dollar, 20 Prozent. Dann ist Kates Haus nur noch 240.000 Dollar wert. Kate ist nicht gegen Hochwasserschaden versichert. Die Überschwemmung vernichtet ihr Eigenkapital an ihrem Haus und nun ist Kate unter Wasser – im wörtlichen und im übertragenen Sinn.
Wie es der Zufall will, hat Kate einen Freund, der ein Bauunternehmen besitzt. Aus Mitleid macht er Kate das Angebot, ihr Haus zu sanieren, sodass es wieder 300.000 Dollar wert ist. Die Reparatur steigert den Wert des Hauses um 60.000 Dollar, aber er bietet sie Kate zum Sonderpreis von 50.000 Dollar an. Würde Kate 50.000 Dollar aus ihrem eigenen Vermögen investieren wollen? Für sie ist das nicht attraktiv. Da sie eine Hypothekenschuld von 270.000 Dollar hat, beträgt ihr Eigenkapital an dem Haus nach der Sanierung, die den Wert des Hauses wieder auf 300.000 Dollar bringen soll, lediglich 30.000 Dollar. Wenn sie 50.000 Dollar in die Sanierung investiert, verliert sie 20.000 Dollar.
Würde Kate diese Investition tätigen, würde sie ihrem Gläubiger ein Geschenk machen. Ohne die Sanierung erhält der Gläubiger das von ihr überlassene Haus im Wert von 240.000 Dollar. Mit der Sanierung und Wiederherstellung des ursprünglichen Werts bekommt ihr Gläubiger dagegen den vollen Betrag von 270.000 Dollar.18 Da ein großer Teil des Nutzens der Sanierung dem Gläubiger zugute käme, hat Kate kein Interesse daran. Wäre das Haus jedoch nicht von der Hypothek belastet, so würde sie gerne 50.000 Dollar aufwenden, um den Wert des Hauses von 240.000 Dollar wieder auf 300.000 Dollar zu bringen.
In dem Szenario, in dem Kate finanziell unter Wasser steht, wird jede Investition, die sie tätigt, ihrem Gläubiger nutzen. Doch selbst wenn ihr Eigenkapital an dem Haus noch positiv ist, kann ihre hohe Verschuldung sie von Investitionen abhalten, die zumindest teilweise den Gläubigern zugute kämen, während sie selbst die gesamten Kosten tragen müsste. Stellen wir uns etwa vor, Kate würde nach dem Kauf des Hauses für 300.000 Dollar weitere 50.000 Dollar ausgeben, um ein zusätzliches Schlafzimmer einzubauen und die Küche zu vergrößern. Nun ist das Haus 350.000 Dollar wert, wobei Kate insgesamt 80.000 Dollar aus eigenen Mitteln investiert hat – 30.000 Dollar Eigenanteil beim Kauf des Hauses und 50.000 Dollar für Umbauarbeiten.
Von dieser zusätzlichen Investition könnte auch Kates Gläubiger profitieren. Nehmen wir an, ein nachfolgendes Hochwasser verringere den Wert des Hauses um 20 Prozent, von 350.000 Dollar auf 280.000 Dollar. In diesem Fall wäre der Gläubiger von der Überschwemmung nicht betroffen und Kate müsste den gesamten Wertverlust von 70.000 Dollar selber tragen. Hätte Kate die zusätzlichen 50.000 Dollar nicht investiert, so würde sie das durch die Überschwemmung wertgeminderte Haus einfach dem Gläubiger überlassen. Dieser bekäme dann nicht den vollen Betrag zurück. Insofern profitiert auch der Gläubiger, wenn Kate 50.000 Dollar für das zusätzliche Schlafzimmer und den Ausbau der Küche investiert.
Am anderen Ende des Spektrums könnten Schuldner in finanziellen Schwierigkeiten versucht sein, sehr große Risiken einzugehen. Das gilt insbesondere, wenn die Schuldner schon überschuldet sind. Erinnern wir uns an das Beispiel, in dem Kate in einem Monat 1 Million Dollar zurückzahlen muss, aber heute nur Vermögen im Wert von 400.000 Dollar besitzt. Sie könnte auf die Idee kommen, nach Las Vegas zu fahren und mit den 400.000 Dollar im Kasino zu spielen, mit einer minimalen Chance auf einen Riesengewinn. Knackt sie den Jackpot, so kann sie vielleicht am Ende des Monats die 1 Million Dollar bezahlen. Hat sie jedoch kein Glück, so kann sie selbst die 400.000 Dollar verlieren, die ihrem Gläubiger im Falle einer Insolvenz zustünden. In diesem Fall verzockt Kate tatsächlich das Geld ihres Gläubigers.
Wenn sie eine Chance sehen, die Zahlungseinstellung und Insolvenz hinauszuzögern, wollen Schuldner gewöhnlich nicht zugeben, dass sie überschuldet sind.19 Jedoch kann während dieser Verzögerung der Interessenkonflikt zwischen insolventen beziehungsweise insolvenzbedrohten Schuldnern und ihren Gläubigern für alle sehr kostspielig sein. Wenn Schuldner in dieser Zeit ihre eigenen Interessen verfolgen, kann dies Gläubiger schädigen, die ihrerseits nur begrenzt in der Lage sind, ein solches Verhalten der Schuldner zu verhindern. Daher ist es wichtig, eine drohende Überschuldung frühzeitig zu erkennen und ein geordnetes Insolvenzverfahren einzuleiten.
Wir haben gesehen, dass es zwischen Schuldnern und Gläubigern einen Interessenkonflikt geben kann hinsichtlich der Risiken, die der Schuldner eingeht. Wenn eine Insolvenz droht, bietet eine riskante Strategie dem Schuldner die Aussicht, dass im Erfolgsfall er den Nutzen hat, im Misserfolgsfall aber die Gläubiger den Verlust tragen. Eine riskante Investition kann daher für einen Schuldner attraktiver sein, als wenn er die Nachteile des Risikos ebenfalls alleine tragen müsste.
Schuldner beeinflussen die Position des Gläubigers nicht nur durch ihre Investitionen, sondern auch durch ihre weitere Verschuldung. Da mit zunehmender Verschuldung das Risiko des Schuldners steigt, ähnelt die Einstellung der Schuldner zu einer zusätzlichen Verschuldung ihrer Einstellung zu Investitionsrisiken. Wenn sie einmal verschuldet sind, macht es ihnen möglicherweise nichts aus, sich noch weiter zu verschulden, und sie haben wenig Interesse, ihre Schulden zu verringern.
Nehmen wir zum Beispiel an, Kate macht nach der Aufnahme des Hypothekenkredits über 270.000 Dollar und dem Kauf des Hauses für 300.000 Dollar eine Erbschaft und verwendet 50.000 Dollar davon, um einen Teil des Kredits zurückzuzahlen. Wenn anschließend eine Überschwemmung ihr Haus beschädigen und dessen Wert auf 240.000 Dollar reduzieren sollte, würde Kate den vollen Verlust in Höhe von 60.000 Dollar selber tragen. Hätte sie nicht die 50.000 Dollar zur Verringerung ihrer Schulden bezahlt, so wäre ihr Verlust auf ihr anfängliches Eigenkapital von 30.000 Dollar beschränkt.
Aus der Perspektive des Gläubigers ist Kates Entscheidung, ihre Schulden von 270.000 auf 220.000 Dollar zu senken, großartig, weil die verbleibende Schuldensumme damit sicherer wird. Aus Kates Perspektive hat diese Schuldenrückzahlung jedoch den Nachteil, dass ihr Anteil an jeglichem nachfolgendem Verlust größer wird. Außer wenn der Gläubiger bereit ist, mit Rücksicht auf das geringere Ausfallrisiko die Zinsen auf die verbleibenden Schulden zu senken, wird Kate kaum Lust zu dieser vorzeitigen Rückzahlung haben.20
Kate will ihre Schulden nicht verringern. Wird sie sie vielleicht erhöhen wollen? Das ist durchaus möglich. Eine Möglichkeit, wie sie ihre Schulden erhöhen kann, ist, eine zweite Hypothek auf ihr Haus aufzunehmen. Nehmen wir zum Beispiel an, Kates Haus erfahre schon bald nach ihrem Einzug einen Wertzuwachs auf 315.000 Dollar. Damit könnte sie eine zweite Hypothek über 15.000 Dollar aufnehmen. Damit bliebe ihr Eigenkapital unverändert bei 30.000 Dollar, aber bei einem Wert des Hauses von nunmehr 315.000 Dollar betragen ihre Schulden nun 285.000 Dollar.
Kate hat ihre Schulden erhöht, weil sie Geld für andere Dinge braucht. Mit diesen beiden Hypotheken ist aber nun die Wahrscheinlichkeit, dass Kate in die roten Zahlen gerät, größer, denn das wird automatisch passieren, wenn der Wert ihrer Immobilie unter 285.000 Dollar sinkt. Ohne die zweite Hypothek würden ihre Schulden lediglich 270.000 Dollar betragen. Und das Risiko, dass sie alles verliert, wäre geringer.21
Aus Kates Perspektive jedoch sind die 15.000 Dollar, die sie mit dem zweiten Hypothekenkredit erhält, vor zukünftigen Verlusten geschützt. Sollte der Wert des Hauses zum Beispiel auf 270.000 Dollar sinken, so würde sie ohne die zweite Hypothek die gesamten 45.000 Dollar verlieren, auf die sich ihr Eigenanteil an dem Haus im Wert von 315.000 Dollar beläuft. Indem sie die zweite Hypothek aufnimmt, begrenzt sie ihren Verlust in diesem Szenario auf die 30.000 Dollar Eigenkapital, die sie nach der zweiten Hypothek noch an dem Haus hat.22
Der in diesem Beispiel beschriebene Effekt zeigt, dass Schuldenmachen zur Sucht werden kann. Hat man einmal einen Kredit aufgenommen, so hat man möglicherweise ein Interesse, sich immer weiter zu verschulden. Jedoch haben Schuldner oft kein Interesse, ihre Schulden zu reduzieren.
In Kapitel 2 erwähnten wir, dass sich Banken wesentlich höher verschulden als jedes andere Unternehmen. Gibt es irgendeine Besonderheit am Bankgeschäft, die es erforderlich macht, dass Banken sich so viel Geld leihen? Und wie wirkt sich die dunkle Seite des Schuldenmachens auf die Banken und andere Finanzinstitutionen aus? Um diese Frage beantworten zu können, muss man verstehen, was Banken genau machen.
Nichts ist so verantwortlich für die gute alte Zeit wie ein schlechtes Gedächtnis.
Franklin Pierce Adams (1881–1960)
Viele Leute, die über die Finanzturbulenzen der Jahre 2007 bis 2009 empört sind, denken mit Nostalgie an die gute alte Zeit zurück, als das Bankgeschäft noch einfach war und die Banken den Menschen und Unternehmen am Ort dienten. Ein Modell dafür ist der Bankier George Bailey in dem Film Ist das Leben nicht schön? von 1946.1 Im Film leitet George Bailey die Bailey Building and Loan Association, die den einfachen Leuten in einer amerikanischen Kleinstadt die Möglichkeit bietet, ein eigenes Heim zu erwerben, sodass sie nicht mehr auf Mr. Potter, den Immobilienhai der Stadt, angewiesen sind, der nur an seine Gewinne denkt und exorbitante Mieten verlangt.
Die Bailey Building and Loan Association im Film ist eine Art Bausparkasse, die sich darauf beschränkt, Spareinlagen entgegenzunehmen und Kredite für den Bau oder den Kauf von Häusern zu vergeben.2 Sie betreibt keine anderen Geschäfte. Vor allem handelt sie nicht mit Aktien und anderen Wertpapieren und fungiert auch nicht als Börsenmakler bei Wertpapierkäufen oder -verkäufen ihrer Kunden. In den Jahren zwischen 1933 und 1999 waren den Banken und Sparkassen in den USA, die sich durch die Hereinnahme von Einlagen finanzierten, durch das sogenannte Glass-Steagall-Gesetz alle Aktivitäten untersagt, die mit Wertpapieren zu tun hatten. Solche Aktivitäten durften nur von speziellen Investmentbanken und von Maklerfirmen betrieben werden.
Das Glass-Steagall-Gesetz – und damit die Trennung von Einlagengeschäft und Investment- beziehungsweise Wertpapiergeschäft – wurde 1999 aufgehoben. Seither dürfen in den USA auch Banken, die sich mit Einlagen finanzieren, wieder als Investmentbanken tätig sein.3 Die Nostalgie und die Sehnsucht nach der guten alten Zeit gründen sich teilweise auf die Vorstellung, dass die Banken vor der Aufhebung des Glass-Steagall-Gesetzes sicherer waren. Doch selbst im Film war die gute alte Zeit nicht so gut und die Bank nicht so sicher. An einem Punkt der Geschichte löst das Gerücht, die Bailey Building and Loan Association werde bankrottgehen, einen Bank Run aus, einen Ansturm der Kunden, die plötzlich alle ihr Geld zurückhaben wollen. Später wird erneut die Gefahr eines Bankrotts heraufbeschworen, als der Bank 8.000 Dollar gestohlen werden.
Im Film stoppt George Bailey den Bank Run, indem er die Kunden von dem Geld ausbezahlt, das er für seine Hochzeitsreise gespart hatte. Und das Loch, das durch den Diebstahl entstand, wird mithilfe von Freunden und Verwandten gefüllt. Der Film hat dann ein Happy End, aber man muss sich fragen, ob die Bailey Building and Loan Association wirklich als Ideal einer Bank anzusehen ist. Was wäre geschehen, wenn das benötigte Geld nicht im letzten Moment herbeigeschafft worden wäre?
Im wirklichen Leben kamen traditionelle Geschäftsbanken und Sparkassen oft nicht so glimpflich davon. Das Happy End des Hollywoodfilms stand in krassem Gegensatz zu den Erfahrungen, die Geschäftsbanken und Sparkassen während der Weltwirtschaftskrise gemacht hatten. Auch in jüngerer Zeit, in den 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre, machten zahlreiche Sparinstitute in den USA Bankrott. Und während wir dieses Buch schreiben, befinden sich zahlreiche regionale Sparkassen in Spanien in Bedrängnis. Die Krisen der amerikanischen Sparkassen in den 1980er- und 1990er-Jahren und der spanischen Sparkassen heute wurden beide von Risiken aus der Vergabe von Immobilienkrediten verursacht.
Bankgeschäfte nach Art eines George Bailey bargen und bergen substanzielle Probleme. Gewiss gingen von 1940 bis 1970 nur wenige Banken bankrott und es gab keine Krisen ganzer Banksysteme. Aber das lag eher daran, dass in diesen Jahrzehnten die Wirtschaft gut lief und die Wechselkurse und Zinssätze kaum schwankten, als daran, dass das Bankwesen in diesen Jahrzehnten so gut funktinierte. Als in den 1970er-Jahren die Wirtschaft nicht mehr so gut lief und Wechselkurse und Zinssätze stark zu schwanken begannen, geriet das traditionelle Bankgeschäft nach Art von George Bailey in eine tiefe Krise.
Wie schon erwähnt, finanzierte sich die Bank von George Bailey im Film mit Einlagen von Kunden und vergab Kredite. Unter dem Glass-Steagall-Gesetz waren auch Geschäftsbanken in den USA fast ausschließlich im Einlagen- und Kreditgeschäft tätig. Die Unterschiede zwischen Geschäftsbanken und Sparkassen unter dem Glass-Steagall-Gesetz sind für unsere Diskussion nicht wichtig. Daher behandeln wir sie im Folgenden zusammen als einen Typ von Bank, deren Geschäfte sich auf Einlagen und Kredite konzentrieren.
Abbildung 4.1 zeigt sehr grob die Kategorien der Bilanz einer typischen Geschäftsbank oder Sparkasse in den USA unter dem Glass-Steagall Act. Diese Kategorien finden sich neben anderen auch in der Bilanz einer sogenannten Universalbank, die alle Arten von Finanzgeschäften betreibt, einschließlich des Wertpapierhandels.
Abbildung 4.1: Bilanz einer traditionellen Geschäftsbank
Auf der Seite der Verbindlichkeiten finden wir als Erstes die Einlagen. Dabei handelt es sich vor allem um Sichteinlagen und Spareinlagen, wie wir sie alle für unsere täglichen Transaktionen und für unsere Ersparnisse verwenden. Auch Unternehmen unterhalten solche Einlagen für ihre Transaktionen. Aus der Sicht der Banken sind Einlagen Schulden gegenüber den Einlegern. Für die meisten Banken bilden Einlagen die wichtigste Finanzierungsquelle.4 Sichteinlagen müssen von der Bank zurückgezahlt werden, wann immer die Kunden das wollen. Spareinlagen können etwas weniger leicht abgehoben werden, aber auch sie stehen den Kuden sehr kurzfristig zur Verfügung.5
Außer durch Einlagen bekommen einige Banken auch Geld, indem sie es sich von anderen Finanzinstitutionen leihen. Dazu greifen sie vor allem auf den sogenannten Geldmarkt zurück; das ist der Markt für sehr kurzfristige Kredite. Die Kreditgeber an diesen Märkten sind meist andere Banken, die überschüssige Mittel haben, oder andere Finanzinstitutionen, wie zum Beispiel Geldmarktfonds, die ihre Mittel nur kurzfristig anlegen. Einige Banken geben auch langfristige Anleihen aus. Diese werden gewöhnlich von institutionellen Investoren wie zum Beispiel Pensionsfonds oder Versicherungsgesellschaften gekauft, die an langfristigen Geldanlagen mit verlässlichen Einnahmeströmen interessiert sind.
Auf der Seite der Aktiva der Bankbilanz in Abbildung 4.1 sehen wir als Erstes Barreserven. Diese Reserven sorgen dafür, dass die Bank Bargeld zur Verfügung hat, wenn ihre Kunden Geld von ihren Konten abheben wollen. Da zu irgendeinem Zeitpunkt jeweils nur wenige Kunden ihr Geld abheben wollen, halten Banken gewöhnlich keine großen Barreserven. Für traditionelle Geschäftsbanken und Sparkassen wie die von George Bailey, auch noch für viele Banken heute, sind Kredite die wichtigste Kategorie auf der Aktivseite ihrer Bilanz. Diese Banken verwenden den größten Teil der Gelder, die sie von Einlegern und anderen Kreditgebern sowie von ihren Eigenkapitalgebern erhalten, um Hypothekenkredite, Verbraucher- und Geschäftskredite, Kredite an andere Banken und Kredite an Staaten und andere öffentliche Institutionen zu vergeben.
Einige Dienstleistungen von Banken, die für uns alle wichtig sind, haben mit dem Einlagengeschäft und dem Zahlungssystem der Volkswirtschaft zu tun. Für die Einleger ist es wichtig, dass die Gelder, die sie zur Bank gebracht haben, jederzeit für sie verfügbar sind, wann und wo sie wollen. Die Girokonten, auf denen sich die Sichteinlagen befinden, ermöglichen den Bankkunden, jederzeit Zahlungen zu erhalten oder zu leisten – per Scheck, Überweisung, Debit- oder Kreditkarte. Im Gegenzug akzeptieren die Einlagenkunden, dass sie auf diese Einlagen weniger Zinsen bekommen als bei anderen Anlageformen.6 Die Bedeutung dieser Dienstleistungen steht hinter einem oft zitierten Ausspruch des früheren amerikanischen Zentralbankpräsidenten Paul Volcker aus dem Jahre 2009, wonach Bankautomaten die einzige wirklich nützliche Finanzinnovation der vorhergehenden 20 Jahre gewesen seien.7
Sichteinlagen und das Zahlungssystem, das auf den Sichteinlagen basiert, machen einen wichtigen Teil der Infrastruktur der Wirtschaft aus, ähnlich dem Straßensystem. Wenn das Zahlungssystem effizient ist, sind Finanztransaktionen billig und leicht durchzuführen und die für Tausch und Arbeitsteilung in der Wirtschaft erforderlichen Transaktionen funktionieren reibungslos. Ist das Zahlungssystem schlecht, sind die Transaktionen mühsam und Tausch und Arbeitsteilung funktionieren nicht gut. Mit einem Zahlungssystem, bei dem die Leute sich nicht treffen müssen, um sich das Geld jeweils persönlich zu übergeben, tragen Banken zum reibungslosen Wirtschaftsgeschehen bei.
Die Kreditvergabe bildet einen zweiten Kern des traditionellen Bankgeschäfts, der für die Wirtschaft wichtig ist.8 Im Film Ist das Leben nicht schön? ist George Bailey ein Held, weil er die Gelder der Bailey Building and Loan Association dazu verwendet, den Einwohnern seiner Stadt zu besseren und billigeren Wohnmöglichkeiten zu verhelfen. Die Kredite, die eine Bank vergibt, können auch dazu dienen, produktive Investitionen von Unternehmen und Privatpersonen zu finanzieren oder den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich Konsumwünsche »auf Kredit« zu erfüllen.
Die Aufgabe einer Bank im Kreditgeschäft ist jedoch nicht, jedem, der es wünscht, für jeden beliebigen Zweck Geld zur Verfügung zu stellen. Vielmehr muss die Bank differenzieren zwischen Krediten, die vergeben werden, und Krediten, die nicht vergeben werden sollten. Das Kreditgeschäft ist mit Risiken verbunden. Um im Kreditgeschäft erfolgreich zu sein, braucht die Bank gute Informationen und viel Geschick. Ein Kreditgeber weiß nicht mit Sicherheit, ob die Kreditnehmer ihre Schulden zurückzahlen werden. Die Kreditnehmer kommen vielleicht in Schwierigkeiten und können dann die Kredite nicht zurückzahlen. Vielleicht sind sie auch leichtsinnig und verschwenderisch oder sie machen sich sogar mit dem Geld aus dem Staub. Oder sie weigern sich einfach, ihre Schulden zurückzuzahlen, und finden Mittel und Wege, um den Kreditgeber nicht an sein Geld kommen zu lassen.
Um Kredite zu vergeben, die sich lohnen, und die Kredite nicht zu vergeben, bei denen es Probleme geben wird, muss der Kreditgeber im Vorhinein die Kreditwürdigkeit jedes Schuldners genau prüfen. Er muss auch bei den Kreditbedingungen der finanziellen Situation des Schuldners und dem Zweck des Kredits Rechnung tragen und nach der Kreditvergabe genau überwachen, ob der Schuldner sich an die Bedingungen hält. Bei der Prüfung der Kreditwürdigkeit muss er sich genau informieren, um die Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls abschätzen zu können. All das erfordert Zeit, Ressourcen und Geschick.
Viele Banken haben besondere Fähigkeiten für das Kreditgeschäft entwickelt. Ihre Kreditsachbearbeiter sind speziell darin geschult, Kreditanträge zu prüfen und die Leistungen der Schuldner zu überwachen. Ein Teil der Information, die sie brauchen, ist sogenannte harte Information, wie zum Beispiel Geschäftspläne, Gewinn- und Verlustrechnungen, Auskünfte und Kennzahlen von Kreditagenturen oder auch Kontoauszüge. Andere Informationen sind eher »weich«, zum Beispiel die Bewertung der Managementfähigkeiten. Selbst so etwas wie lokaler Klatsch kann für die Bewertung der Kreditwürdigkeit eines potenziellen Kreditkunden relevant sein.9
Es sieht so aus, als müsse das Bankgeschäft sehr attraktiv sein, wenn Banken auf ihre Kredite hohe Zinsen verlangen können, zum Beispiel 6 Prozent, und auf ihre Einlagen nur niedrige Zinsen zahlen, zum Beispiel 1 Prozent. Warum umgehen die Einleger die Bank nicht einfach und verleihen ihr Geld direkt an die Personen und Unternehmen, die Kredite haben wollen?10 Dann müssten die Einleger allerdings selbst die Kreditwürdigkeit der potenziellen Kreditnehmer beurteilen. Das ist schwierig und zeitaufwendig und die meisten Menschen besitzen auch nicht die nötigen Fähigkeiten. Daher ist es für die Einleger sinnvoller, ihr Geld der Bank anzuvertrauen und dieser die Prüfung der Kreditwürdigkeit potenzieller Kreditkunden und die Kreditvergabe zu überlassen, zumal wenn jeder Einzelne von ihnen nur einen geringen Betrag anzulegen hat.11
Die Bank fungiert als eine Art Zwischenhändler, der von vielen Tausend Einlegern Geld bekommt und dieses Geld zu den Kreditkunden lenkt. In dieser Rolle trägt sie zur Effizienz der Kreditvergabe bei. Eine einzige gründliche Prüfung eines Kreditkunden durch eine Bank ist wahrscheinlich besser und billiger als eine Vielzahl solcher Prüfungen durch viele kleine Kreditgeber. Hinzu kommt, dass Kreditsachbearbeiter, die ständig mit Kreditanträgen zu tun haben, mit der Zeit auf eine große Erfahrung zurückgreifen können.12
Indem Banken die Effizienz der Kreditvergabe erhöhen, nützen sie der Wirtschaft. Ohne ihre Beteiligung bei der Lenkung der Gelder von den Einlegern zu den Kreditnehmern würden vermutlich mehr schlechte Kredite vergeben und mehr Mittel verschwendet werden. Die Kreditzinsen müssten dann höher sein, womöglich würden auch gar keine Kredite vergeben, weil die Risiken der Kreditvergabe als zu groß erscheinen.13
Bankkredite sind insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen von Bedeutung, die noch keine große Erfolgsbilanz aufweisen können und auch nicht sehr bekannt sind. Da sie nicht sehr bekannt sind, haben diese Unternehmen kaum Zugang zu anderen Finanzierungsquellen. Ohne Kredite von Banken oder anderen Finanzinstitutionen müssten sie vielleicht ihre Investitonen auf das beschränken, was sie mit den Mitteln ihrer Eigentümer und vielleicht noch von Freunden und Verwandten bezahlen könnten.14
Wenn Banken in Schwierigkeiten geraten und keine Kredite mehr vergeben können, kann das gravierende Auswirkungen auf kleinere und mittlere Unternehmen haben. Beschränkungen der Kreditvergabe von Banken an Unternehmen spielen eine große Rolle bei der Übertragung von Problemen des Bankensektors auf die übrige Wirtschaft. Dieser Zusammenhang trug maßgeblich zum Ausmaß der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre bei.15
Die Verwendung von Mitteln aus Einlagen zur Finanzierung von Krediten ist seit Jahrhunderten die normale Praxis von Banken.16 Standardwerke und Lehrbücher über das Bankwesen bezeichnen die sogenannte »Fristentransformation« als eine Kernaufgabe, die die Banken für die Wirtschaft erfüllen.17 Das bedeutet zum einen, dass Banken Vermögenswerte halten, zum Beispiel Forderungen an ihre Kreditnehmer, die über mehrere Jahre laufen und die sich in dieser Zeit nicht gut verkaufen lassen; zum anderen, dass sie sich ihrerseits finanzieren, indem sie Einlagen entgegennehmen, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt abgezogen werden können. In anderen Worten: Hinsichtlich der zeitlichen Bindung der Mittel gibt es eine fundamentale Diskrepanz zwischen den beiden Seiten der Bankbilanz. Die Fristentransformation gilt als nützlich, weil sie den Einlegern die Flexibilität gibt, selbst zu entscheiden, wann sie ihr Geld zurückhaben wollen. Diese Flexibilität ist für die Einleger nützlich, auch wenn sie keinen Wert auf die sonstigen Dienstleistungen der Bank im Zahlungsverkehr legen, etwa wenn sie ihr Geld auf einem Sparkonto haben.18
Auch wenn es seit Jahrhunderten gebräuchlich ist, Einlagen und andere kurzfristige Schulden zur Finanzierung von Krediten zu verwenden, und wenn in Lehrbüchern geschrieben steht, das gehöre zum Bankgeschäft, ist diese Praxis doch sehr riskant. Wenn sich die kurzfristigen Schulden nicht immer wieder erneuern lassen oder wenn die Einlagen abgezogen werden und sich die langfristigen Kredite nicht ohne Weiteres zu Geld machen lassen, kann die betroffene Bank sehr ernsthafte Liquiditätsprobleme bekommen.
Bei Sichteinlagen und vielen Spareinlagen kann die Bank zu jedem beliebigen Zeitpunkt verpflichtet werden, die Einlagen zurückzuzahlen. Das ist kein Problem, wenn sich Einzahlungen und Auszahlungen ungefähr die Waage halten und die Bank genügend Bargeld hält, um etwaige Unterschiede zwischen Auszahlungen und Einzahlungen auszugleichen. Gewöhnliche Zahlungsprozesse sind auf eine Weise teils zufälig, teils vorhersehbar, die es der Bank ermöglichen, ihre Einleger durchweg ohne Schwierigkeiten auszuzahlen, indem sie gewisse Reserven an Bargeld hält.
Probleme entstehen jedoch dann, wenn viele Einleger gleichzeitig ihr Geld zurückfordern. Das könnte geschehen, wenn sich die Kunden Sorgen über die Solvenz der Bank machen und versuchen, ihr Geld zurückzubekommen, bevor es zu spät ist. Wie wir aus der Geschichte der Bailey Building and Loan Association in dem Hollywoodfilm wissen, können diese Befürchtungen einen Bank Run oder Bankenansturm auslösen.
Bank Runs dienen gelegentlich als Beispiele für sich selbst erfüllende Prophezeiungen, das heißt für Prophezeiungen, die nur deshalb wahr werden, weil alle Leute erwarten, dass sie wahr werden, und aufgrund dieser Erwartung handeln. Wenn Einleger befürchten, die anderen Einleger könnten die Bank stürmen und ihr Geld dort abziehen, dann mag es für sie sinnvoll sein, wenn sie ebenfalls die Bank stürmen und ebenfalls versuchen, ihr Geld schnellstmöglich dort abzuziehen. Sie wissen, dass ein großer Teil der Bankengelder in illiquiden Krediten und anderen Vermögenswerten gebunden ist und dass das Versprechen der Bank, die Sichteinlagen jederzeit zurückzuzahlen, sich nicht einlösen lässt, wenn zu viele Kunden gleichzeitig ihr Geld zurückhaben wollen. Die Erwartung eines Bank Run kann also zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Wenn die Bank dann beginnt, Vermögenswerte per Notverkauf abzustoßen, um ihre Auszahlungsverpflichtungen erfüllen zu können, beeinträchtigt der Ansturm selbst auch die Solvenz der Bank.19
Die Vorstellung, es könnte zu einem Bank Run kommen, nur weil die Leute erwarten, dass es zu einem Bank Run kommen kann, ist faszinierend, aber es gibt in der Realität kaum Anhaltspunkte dafür, dass Bank Runs tatsächlich aus heiterem Himmel kommen, ohne einen anderen Grund als den, dass die Leute glauben, dass andere ihre Mittel von der Bank abziehen und dadurch den Zusammenbruch der Bank herbeiführen werden. Die meisten Bank Runs entstehen aufgrund schlechter Nachrichten über die Solvenz der Bank.
In der Weltwirtschaftskrise, als viele Banken gleichzeitig in Schwierigkeiten waren, schienen die Einleger gut unterscheiden zu können, ob ihrer Bank wirklich der Bankrott drohte oder ob sie aus eigener Kraft durch die Krise kommen könnte.20 Damals waren Solvenzprobleme bei Banken so weit verbreitet und die Panik war so groß, dass sich ein US-Bundesstaat nach dem anderen gezwungen sah, sogenannte Bankfeiertage anzuordnen, um den Massenabhebungen Einhalt zu gebieten. Am 6. März 1933 schließlich ordnete die US-Bundesregierung solche »Feiertage« für alle Banken des Landes an.21 Das setzte der Panik ein Ende, aber der Zusammenbruch des gesamten Zahlungsverkehrs fügte der Wirtschaft schwersten Schaden zu.
Im Jahr 1935, nach der Weltwirtschaftskrise, schufen die USA ein staatlich garantiertes Einlagensicherungssystem, um Einleger vor den Konsequenzen von Bankzusammenbrüchen zu schützen und Bank Runs zu verhindern.22 Wird eine versicherte Bank insolvent, springt die für diese Einlagensicherung zuständige Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC) ein und wickelt die Bank ab, ohne dass die Einleger einen Schaden erleiden.23 Inzwischen funktioniert das so gut, dass Bankkunden nicht einmal einen Tag lang auf den Zugang zu ihren Bankguthaben verzichten müssen. Weil sie keine Verluste befürchten müssen und ein Bankenwechsel mühselig und aufwendig wäre, neigen Bankkunden inzwischen dazu, über lange Zeiträume bei derselben Bank zu bleiben. In anderen Ländern ist die Einlagensicherung nicht so gut organisiert, aber fast überall können Einleger mit irgendeiner Form von Absicherung rechnen.24
Auf die Reformen der 1930er-Jahre folgten in den USA vier Jahrzehnte einer außergewöhnlichen Stabilität des Banksektors. Bank Runs gehörten der Vergangenheit an. Geschäftsbanken und Sparkassen florierten, weil ihre Finanzierung stabil und die Risiken der Kreditvergabe relativ gering waren. Ihre Situation in dieser Zeit wurde manchmal in dem Satz zusammengefasst, die Sparinstitutionen hätten ein »3-6-3«-Geschäftsmodell. Sie nahmen Einlagen zu 3 Prozent Zinsen herein, vergaben Kredite zu 6 Prozent und die Manager waren um 3 Uhr Nachmittags auf dem Golfplatz. Bei Geschäftsbanken waren die Einlagenzinsen sogar noch niedriger, aber dafür boten sie ihren Kunden die oben erwähnten Dienstleistungen im Zahlungsverkehr.
Die Welt des 3-6-3-Geschäftsmodells fand in den 1970er-Jahren ein Ende. Im Anschluss an den Vietnamkrieg und die Ölpreisschocks von 1974 und 1979 stieg die Inflation in den USA auf über 10 Prozent pro Jahr. Mit der Inflation stiegen auch die Zinssätze, sodass um 1980 selbst die ganz kurzfristigen Geldmarktzinsen über 10 Prozent lagen.25 Jedoch konnten Geschäftsbanken und Sparkassen aufgrund von Regulierungsvorschriften aus den 1930er-Jahren auf ihre Einlagen nur niedrigere Zinsen bezahlen.26
In dieser Situation fanden die Einleger es attraktiv, ihre Gelder von Geschäftsbanken und Sparkassen abzuziehen und bei Geldmarktfonds anzulegen, die kurz zuvor eingeführt worden waren. Geldmarktfonds boten wesentlich höhere Zinsen als Geschäftsbanken und Sparkassen und erlaubten den Anlegern auch, ihre Mittel jederzeit wieder abzuziehen. Sie konnten die höheren Zinsen bezahlen, weil sie selbst am Geldmarkt zu den dort herrschenden noch höheren Zinssätzen kurzfristige Kredite an den Staat, an Unternehmen außerhalb des Finanzsektors und sogar an Banken vergaben. Die traditionellen Geschäftsbanken und Sparkassen verloren damals sehr viele Einlagen, dies aber nicht, weil die Menschen plötzlich Zweifel an ihrer Solvenz bekommen hätten, sondern weil die Geldmarktfonds, deren Zinsen nicht staatlich reguliert waren, ihnen deutlich höhere Zinsen anboten.27
Die massiven Abflüsse aus traditionellen Einlagen wurden gestoppt, als 1980 die staatliche Regulierung der Einlagenzinsen aufgehoben wurde, wodurch Geschäftsbanken und Sparkassen in die Lage kamen, die Zinssätze anzubieten, die erforderlich waren, um die Einleger nicht zu verlieren und vielleicht sogar neue zu gewinnen.28 Nach dieser Deregulierung hatten die Banken und Sparkassen keine Liquiditätsprobleme mehr.
Viele Sparkassen aber hatten versteckte Solvenzprobleme. In der Vergangenheit hatten sie viele Hypothekenkredite mit sehr langen Laufzeiten und festen Zinssätzen vergeben.29 Ein Hypothekenkredit mit 30 Jahren Laufzeit, der 1965 zu einem festen Zinssatz von 6 Prozent abgeschlossen worden war, hatte 1980 immer noch eine Restlaufzeit von 15 Jahren. Die Geldmarktzinssätze lagen damals aber deutlich über 10 Prozent. Viele Sparkassen machten hohe Verluste, weil sie ihren Enlegern Zinsen auf der Höhe der Geldmarktzinssätze bezahlen mussten, auf ihre alten Hypothekenkredite aber nur die niedrigen Zinsen der 1960er-Jahre bekamen.30
Aufgrund der Differenz zwischen den Zinsen, die sie bezahlen mussten, und den Zinsen, die sie ihrerseits einnahmen, waren Anfang der 1980er-Jahre ungefähr zwei Drittel der Sparinstitutionen in den USA überschuldet; die Überschuldung belief sich damals auf insgesamt rund 100 Milliarden Dollar.31 Bei den meisten Instituten blieb die Überschuldung versteckt, denn die Bilanzen gaben kein adäquates Bild der Situation wieder. Zwar standen die realisierten Verluste des laufenden Jahres in der Ergebnisrechnung, dass aber bei dieser Konstellation von Einlagen- und schon früher festgelegten Kreditzinsen auch für die Zukunft Verluste angezeigt waren, wurde nicht wahrgenommen.32
Im Zuge der Deregulierung wurden damals nicht nur die Obergrenzen für die Einlagenzinsen aufgehoben, sondern auch zahlreiche Beschränkungen der Anlagen, die die Institute tätigen durften. Viele der Sparinstitutionen in den USA nutzten diese neue Freiheit, um in hoch riskante Vermögenswerte zu investieren, zum Beispiel hoch spekulative Geschäftsimmobilien und sogenannte »high-yield securities«, hoch verzinsliche Unternehmensanleihen, auch unter dem Namen Junk Bonds oder Schrottanleihen bekannt. Junk Bonds sind Unternehmensanleihen, bei denen ein hoher Zinssatz zum Ausgleich für ein hohes Ausfallrisiko dient. Die sogenannten »Zombie-Banken«, das heißt die Banken und Sparkassen, die eigentlich überschuldet waren, deren Bücher das aber nicht zeigten, verfolgten besonders gewagte Anlagestrategien.33 Heute bezeichnet man das als »Zocken zur Wiederauferstehung« nach dem Motto: »Kopf, ich werde wieder solvent; Zahl, der Einlagensicherungsfonds hat ein Problem.«
Als Ende der 1980er-Jahre die Zinssätze wieder anstiegen und die Wirtschaft erneut in eine Rezession kam, wurde offenbar, wie schlecht viele der spekulativen Investitionen waren, die die Sparkassen in den vorhergehenden Jahren getätigt hatten. Die Krise der US-Sparkassen trat nunmehr offen zutage. Die staalichen Einlagensicherungsinstitutionen übernahmen viele der Institute und ein großes Aufräumen begann. Zehn Jahre später, als das Aufräumen abgeschlossen war, hatten 1.043 von 3.234 Sparkassen für immer dichtgemacht. Die Kosten betrugen 153 Milliarden Dollar. Davon entfielen 124 Milliarden Dollar auf die Steuerzahler und 29 Milliarden auf den Einlagensicherungsfonds, das heißt letztlich auf andere Institute, die entsprechend hohe Beiträge leisten mussten.34 Es wäre sehr viel billiger gewesen, wenn man die Krise bereits Anfang der 1980er-Jahre bereinigt hätte, aber damals hatten die Lobbyisten der Branche den US-Kongress davon überzeugt, man habe »nur ein Liquiditätsproblem«, das sich ganz von alleine lösen würde, wenn man die Regulierung der Branche aufhebe.35
Die Erfahrung der amerikanischen Sparkassen in den 1980er-Jahren ist ein Beispiel für das generelle Problem, dass Kredite sehr riskant sein können. Die Medienberichterstattung über den Finanzsektor lässt das nicht immer erkennen. Dort gewinnt man leicht den Eindruck, dass die Risiken für Banken vor allem in Fehlspekulationen liegen. Wenn rücksichtslose Wertpapierhändler ihren Arbeitgebern Milliardenverluste bescheren, dann gibt es große Schlagzeilen.36 Wenn dagegen Banken große Verluste machen, weil sie systematisch Fehler in ihren Kreditentscheidungen machen oder weil sie den Risiken der Fristentransformation, der Diskrepanz der Laufzeiten ihrer Forderungen und Verbindlichkeiten nicht gewachsen sind, dann gibt das meist nicht so große Schlagzeilen, auch wenn die Schwierigkeiten der Bank erhebliche Probleme für Dritte mit sich bringen. Im Jahr 1995 beispielsweise brachte der Wertpapierhändler Nick Leeson die britische Bank Baring zu Fall. Leeson, der für diese Bank in Singapur arbeitete, hatte eine gigantische Wette auf eine Aufwertung des japanischen Yen abgeschlossen. Und diese Wette ging schief, da der Yen nach dem Erdbeben von Kobe nicht auf-, sondern abgewertet wurde. Leeson wurde alsbald zu einer Medienpersönlichkeit und blieb es, bis er ins Gefängnis musste. Jedoch machte der Verlust aus seiner Spekulation mit etwa 1 Milliarde Pfund Sterling nur ein Zehntel der Verluste aus, die die französische Bank Crédit Lyonnais zu etwa der gleichen Zeit durch faule Kredite erlitt. Bei Crédit Lyonnais waren die Beträge viel größer, aber die Verluste kamen nur aus etwas so Langweiligem wie traditionellen Unternehmens- und Immobilienkrediten und nicht aus etwas so Aufregendem wie einer exotischen Wette in fernen Ländern. Auch konnten die Medien bei Crédit Lyonnais nicht eine Einzelperson oder eine einzelne Spekulation als Hauptgrund für die Krise herausstellen.37
Auch wenn die Risiken und Verluste aus exzessiven Spekulationen ein größeres Medienecho auslösen, kann das traditionelle Kreditgeschäft genauso riskant sein und ebenfalls zu gewaltigen Verlusten führen. Selbst wenn die Banken sorgfältig auf die Qualität ihrer Kreditkunden achten und im Übrigen die Kreditzinsen so ansetzen, dass die Verluste aus schlechten Krediten im Durchschnitt durch die Gewinne aus guten Krediten ausgeglichen werden, so kann es doch zu Verlusten kommen. Einige Kredite sind einfach zu hoch, als dass die Verluste ohne Weiteres durch Gewinne aus anderen Krediten ausgeglichen werden könnten. Oder eine Rezession könnte zahlreiche Unternehmen gleichzeitig in Schwierigkeiten bringen. Oder ein Rückgang der Immobilienpreise könnte viele Hypothekenschuldner gleichzeitig veranlassen, ihre Zahlungen einzustellen.
Mit solchen Problemen ist insbesondere dann zu rechnen, wenn in den Jahren vor einem Konjunktureinbruch oder dem Zerplatzen einer Immobilienblase die Kreditanträge nicht sorgfältig geprüft wurden. Eine leichtsinnige Kreditvergabe ist typisch für Boomzeiten, wenn Kreditgeber und Kreditnehmer übertrieben optimistisch sind und die Banken in Kreditanträgen ertrinken. Eine allzu sorglose Kreditvergabe ist auch zu erwarten, wenn die Banken keine echten Anreize haben, die Kreditanträge sorgfältig zu prüfen. Ein Immoblienboom kann sich eine Weile selbst nähren, denn immer weiter steigende Hauspreise vermitteln den Banken das Gefühl, dass ihre Immobilienkredite sicher sind, und veranlassen sie, weitere Immobilienkredite zu vergeben. Das wiederum gibt den Immobilienkäufern die Mittel, um die Preise immer weiter in die Höhe zu treiben, bis eines Tages die »Blase« platzt.
Derartige Mechanismen waren für einige der großen Bankenkrisen in den vergangenen Jahrzehnten verantwortlich. Ende der 1980er-Jahre gab es einen weltweiten Boom bei Unternehmens- und Immobilienkrediten. Als sich danach die Finanzbedingungen verschlechterten, kamen viele Volkswirtschaften in eine Rezession und die Immobilienpreise sanken. In vielen Ländern, darunter den USA, Finnland, Japan, Norwegen, Schweden und der Schweiz, kam es dadurch zu schweren Bankenkrisen; diese wurden alle durch Verluste aus Unternehmens- und Immobilienkrediten verursacht, die während des vorhergehenden Booms vergeben worden waren.38 In der Vergangenheit waren solche Immobilienblasen und ihr Platzen auch verantwortlich für die US-Hypotheken- und Bankenkrise von 2007 bis 2009, die irische Bankenkrise von 2010 und die spanische Bankenkrise von 2012.
In den 1980er-Jahren in Lateinamerika und seit 2010 in Europa haben Banken feststellen müssen, dass auch Staaten nicht immer in der Lage sind, ihre Schulden zu bezahlen, sofern sie das Geld, das sie schulden, nicht selbst drucken können. In der Internationalen Schuldenkrise der 1980er-Jahre trug die Unterstützung der Schuldnerländer durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) dazu bei, dass die meisten Gläubigerbanken über die Krise hinwegkamen. In der noch andauernden europäischen Schuldenkrise haben die Hilfspakete des IWF und der europäischen Institutionen ebenfalls zu einer Schadensbegrenzung beigetragen. Allerdings wären die belgisch-französische Bank Dexia und die deutsche Bank Hypo Real Estate ohne die Hilfe ihrer Regierungen insolvent geworden.39
Wie wir gesehen haben, weist das traditionelle Modell der Finanzierung von Banken durch Einlagen erhebliche Schwächen auf. Banken können durch Bank Runs erschüttert werden, eine Refinanzierung auslaufender Schuldtitel kann unmöglich sein oder zu teuer und die Erträge auf die Kredite und anderen Anlagen können so niedrig sein, dass eine Überschuldung eintritt. Die Einlagensicherung hat das Problem der Bank Runs gelöst, hilft aber nicht bei den übrigen Problemen. Von den 1930er-Jahren bis Anfang der 1970er-Jahre spielten diese Probleme keine große Rolle, aber seitdem ist die Wirtschaft weniger stabil gewesen und die Zinssätze haben stark geschwankt. Die Risiken der Banken sind gestiegen, sowohl bei den Refinanzierungskosten als auch bei den Erträgen aus ihren Krediten und anderen Anlagen.40
Zu Beginn und gegen Ende 1980er-Jahre zeigte sich, dass Banken und Sparkassen mit traditionellem Einlagengeschäft gegen diese Risiken sehr anfällig sind. In dieser neuen Welt des Risikos war das 3-6-3-Modell der Sparinstitute, die nichts anderes taten, als Einlagen hereinzunehmen und Immobilienkredite zu vergeben, nicht mehr überlebensfähig.41
In dieser neuen Welt waren die Bedürfnisse von Instituten wie Bailey Building and Loan Association eine treibende Kraft für Finanzinnovationen. In den 1980er- und 1990er-Jahren wurden zahlreiche Instrumente entwickelt, um die Risiken von den Sparkassen auf andere zu übertragen. In diesem Kontext spielte die sogenannte Verbriefung eine große Rolle. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, mit dem Geschäftsbanken und Sparinstitute ihre Kredite und Hypotheken an andere Investoren verkaufen. Die englische Bezeichnung für Verbriefung – securitization – bezieht sich darauf, dass eine Gruppe von Krediten, die selbst nicht handelbar sind, gebündelt und in handelbare Wertpapiere – securities – verwandelt werden.
Wenn sich große und bekannte Unternehmen Geld leihen wollen, können sie Anleihen ausgeben, die auf Wertpapiermärkten gehandelt werden. Der Hypothekenkredit jedoch, den Kate aus unserem früheren Beispiel aufgenommen hat, ist für sich genommen kaum handelbar. Investoren kennen weder Kate noch das Haus, das sie mit dem Kredit erworben hat. Wenn Kates Hypothek jedoch zusammen mit einigen Tausend weiteren Hypotheken anderer Kreditnehmer zu einem Paket geschnürt wird, machen sich Investoren keine Gedanken über Kate und ihr Haus, sondern nur über die durchschnittliche Qualität der Schuldner und ihrer Häuser in diesem Paket.
Zur Verbriefung von Hypotheken kauft eine Investmentbank eine große Zahl von Hypothekenkrediten auf, fasst sie zu einem Paket zusammen und verkauft Forderungen auf die Erträge aus diesem Paket als sogenannte hypothekenbesicherte Wertpapiere an Anleger.42 Ein Beispiel dafür wäre ein Schuldtitel, dessen Inhaber einen bestimmten Zahlungsanspruch haben, der aus den Zahlungen der verschiedenen Hypothekenschuldner bedient werden muss. Ein weiteres Beispiel wäre ein »nachrangiger« Schuldtitel, dessen Inhaber ebenfalls einen Zahlungsanspruch haben, der aus den Zahlungen der Hypothekenschuldner bedient werden muss, der aber erst dann zum Zuge kommt, wenn der erstgenannte, vorrangige Schuldtitel voll bezahlt worden ist.
Die Hypothekenverbriefung wurde Anfang der 1980er-Jahre populär, weil die Sparkassen ihre Hypothekenkredite loswerden wollten, um die davon ausgehenden Risiken zu vermeiden. Seither hat diese Finanzinnovation die Art und Weise der Finanzierung von Immobilien in den USA völlig verändert. Ein großer Teil der ausstehenden Hypothekenkredite in den USA wird nicht mehr von Instituten wie Bailey Build and Loan Association gehalten, sondern dient als Sicherheiten für handelbare Schuldtitel, Wertpapiere, die von Anlegern auf der ganzen Welt gekauft werden.
Mit der Verbriefung wurde das Problem gelöst, dass Sparkassen, die mit den Einlagen ihrer Kunden Hypothekenkredite finanzieren, die mit diesen Krediten verbundenen Risiken eigentlich nicht tragen können. Gleichzeitig aber hat die Verbriefung ein neues Problem geschaffen. Wenn die Banken, die Hypothekenkredite vergeben, wissen, dass sie diese zum Zweck der Verbriefung weiterverkaufen können, dann besitzen sie nur noch einen geringen Anreiz, die Kreditwürdigkeitsprüfung sorgfältig durchzuführen. Die Investmentbank, die die Verbriefung durchführt, könnte zwar Qualitätskontrollen vornehmen, dazu hat sie aber keinen Anreiz, wenn sie selbst auch nur in geringem Umfang haftet und wenn sie sich vor allem dafür interessiert, durch die Verbriefung möglichst vieler Hypotheken hohe Gebühren zu verdienen. Angesichts der fehlenden Anreize für sorgfältige Kreditwürdigkeitsprüfungen hätte es nicht verwundern dürfen, dass die Qualität der Hypothekenkredite unter dem neuen System deutlich schlechter war als unter dem alten.43
Mit der zunehmenden Verbreitung der Verbriefung seit Mitte der 1990er-Jahre ist die Qualität der Hypotheken tatsächlich gesunken. Betrugsfälle haben zugenommen, auch Zahlungsverzögerungen sowie Zahlungsausfälle.44 Diese Entwicklung hängt stark mit der Verbriefung zusammen. Bei Hypotheken, die nicht verbrieft wurden, gab es weitaus weniger Qualitätsprobleme.45 Die Verschlechterung der Qualität von Hypothekenkrediten trug maßgeblich zum Zusammenbruch der US-Märkte für hypothekenbesicherte Wertpapiere, Hypothekenkredite und Immobilien im Jahr 2007 bei, der den Beginn der weltweiten Finanzkrise markierte.46
Bisher scheint es keinen Weg zu geben, um US-Banken, die Hypothekenkredite vergeben, vor den Risiken zu schützen, die mit der langfristigen Natur von Immobilieninvestitionen einhergehen, ohne dass gleichzeitig ihre Anreize vernichtet werden, genügend Ressourcen für Kreditwürdigkeitsprüfungen aufzuwenden.47 Solange es nur wenige Investitionen in Immobilien gibt, spielt dieses Problem keine große Rolle, doch wenn sich das Finanzsystem und die Wirtschaft wieder erholen und die Immobilieninvestitionen wieder zunehmen, kann dieses Problem wieder gefährlich werden.48
In den Jahren 2007 und 2008 verwandelte sich die US-amerikanische Immobilien- und Hypothekenkrise, die 2006 begonnen hatte, in eine massive globale Finanzkrise, die die Weltwirtschaft insgesamt stark in Mitleidenschaft zog. Warum war das Finanzsystem so verwundbar und der Schaden so groß? Diese Frage beantwortet das folgende Kapitel.
Es war unglaublich. Im Austausch für einige Millionen Dollar nahm die Versicherungsgesellschaft das überaus reale Risiko in Kauf, dass 20 Milliarden Dollar einfach in den Wind geschossen wurden.
Michael Lewis, The Big Short, mit Bezug auf den amerikanischen Versicherungsgiganten American International Group (AIG)
Die globale Finanzkrise, die im Sommer 2007 begann, wird oft den Exzessen in der Hypothekenkreditvergabe und in der Verbriefung von Hypotheken minderer Qualität, sogenannter Subprime-Hypotheken, in den USA zugeschrieben.1 Auf dem Höhepunkt der Krise im Oktober 2008 schätzte der IWF die gesamten Verluste der Finanzinstitute aus Subprime-basierten Wertpapieren, das heißt Wertpapieren, die direkt oder indirekt durch Verbriefung aus Subprime-Hypotheken entstanden waren, auf 500 Milliarden Dollar.2
Betrachtet man diese Zahl für sich allein, so erscheint sie als gewaltig, aber in Relation zum weltweiten Finanzsystem, in dem die Vermögenswerte des Bankensektors bei 80 Billionen Dollar oder noch höher liegen, ist sie nicht so groß. Tatsächlich ist diese Zahl deutlich kleiner als die mehr als 5 Billionen Dollar an Verlusten, die zwischen 1999 und 2003 an den US-Aktienbörsen entstanden, als die sogenannte Technologieblase der späten 1990er-Jahre zerplatzte.3
Wie konnten diese Verluste aus Subprime-basierten Wertpapieren derart gewaltige Auswirkungen auf das globale Finanzsystem und den Rest der Wirtschaft haben? Warum war der durch die Subprime-Krise verursachte Schaden so viel größer als der Schaden beim Platzen der Technologieblase einige Jahre zuvor? Und warum hat die Krise die Weltwirtschaft viel stärker in Mitleidenschaft gezogen als die zahlreichen Bankenkrisen der frühen 1990er-Jahre, einschließlich der japanischen Bankenkrise, die ebenfalls durch sehr hohe Verluste bei Immobilienkrediten ausgelöst wurde?4
Diese Fragen können mit einem einzigen Wort beantwortet werden: Ansteckung. Im Jahre 2007 wurden Subprime-basierte Wertpapiere hauptsächlich von Banken und ihren Tochtergesellschaften gehalten. Diese Banken waren selbst sehr hoch verschuldet, vor allem mit kurzfristigen Schulden, die laufend refinanziert werden mussten. Die Verluste der Banken bedrohten ihre Solvenz und stellten ihre Refinanzierung infrage. Ihre Versuche, mit dieser Situation umzugehen, belasteten die Finanzmärkte, wovon dann wieder andere Finanzinstitute betroffen waren.5
Wenn Dominosteine dicht beieinander stehen, kann das Umkippen eines Steins dazu führen, dass alle anderen Steine ebenfalls umkippen. Auf ähnliche Weise lösten die anfänglichen Verluste bei Subprime-basierten Wertpapieren eine Kettenreaktion aus, die im September 2008 das gesamte globale Finanzsystem erfasste. Eine Reihe von Ansteckungsmechanismen bewirkten, dass der Gesamtschaden am Ende wesentlich größer war, als die anfänglichen Verluste es hätten erwarten lassen.
Als dagegen die Technologieblase der späten 1990er-Jahre zerplatzte und in den Jahren nach 2000 die Aktienmärkte einbrachen, gingen die Verluste zum größten Teil zulasten von Privatpersonen, zum Beispiel Leuten, die für ihre Altersversorgung sparten.6 Wegen der damaligen Verluste werden viele Menschen später eine deutlich schlechtere Altersversorgung haben, aber es gab nur wenige Zahlungseinstellungen und Insolvenzen, die andere Institute mit in den Abgrund gerissen hätten, und es kam auch nicht zu einer Welle an Notverkäufen, die das Finanzsystem weiter belastetet hätten. Selbst die Insolvenzen von Enron und WorldCom im Jahre 2002 – bis zur Finanzkrise die größten Insolvenzen in der Geschichte der USA – zogen nicht die Verheerungen nach sich, die wir in den Jahren 2007 bis 2009 gesehen haben, vor allem nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers.
Und was die japanische Krise angeht: Da sich die japanischen Banken hauptsächlich innerhalb der eigenen Landesgrenzen verschuldet hatten, war die Finanzwelt außerhalb Japans kaum betroffen. Dagegen wurden Subprime-basierte Wertpapiere von Finanzinstitutionen auf der ganzen Welt gehalten, darunter viele Banken, die sich hoch verschuldet hatten, um diese Papiere zu kaufen. Die enge Vernetzung der Finanzinstitutionen, ihre hohe Verschuldung und die Ansteckungsmechanismen, durch die Verluste bei einem Institut auch andere belasteten, all dies erklärt, warum die Hypotheken- und Immobilienkrise in den USA das gesamte globale Finanzsystem in Mitleidenschaft zog.
Die einfachste Form der Ansteckung findet sich in den unmittelbaren Auswirkungen des Zahlungsausfalls eines Schuldners auf seine Gläubiger. Die Gläubiger können dabei einen Teil oder die Gesamtheit ihrer Forderungen verlieren. Selbst wenn sich die Verluste am Ende als gering erweisen, haben die Gläubiger bei einer Insolvenz des Schuldners das Problem, dass ihre Forderungen eingefroren werden, bis das Insolvenzverfahren abgeschlossen wird. In dieser Zeit ist oft nicht klar, wie viel sie am Ende von ihrem Geld wiedersehen, wenn überhaupt etwas.
Handelt es sich bei dem Schuldner um eine Bank, so können die Auswirkungen dramatisch sein. Vor der Einführung der Einlagensicherung betrafen diese Auswirkungen die Einleger ebenso wie die anderen Gläubiger der Bank.Während der »Bankfeiertage« vom 6. bis zum 13. März 1933 in den USA konnten die Einleger nicht an ihr Geld kommen und der gesamte Zahlungsverkehr kam zum Erliegen. Nach dem Ende der Bankfeiertage blieben 5.000 von 17.800 Banken weiterhin geschlossen und Millionen von Bankkunden verloren ihre Einlagen.7 Tausende von Unternehmen wussten nicht, wie sie ihre Mitarbeiter und Lieferanten bezahlen sollten, ganz zu schweigen von ihren Investitionen.8
Heute verhindert das Einlagensicherungssystem, dass die Einleger und das Zahlungssystem in Mitleidenschaft gezogen werden, aber es schützt nicht die anderen Gläubiger der Banken. Bei einer Bankinsolvenz erleiden diese Verluste, manchmal auch schon vorher, wenn die Bank in eine finanzielle Schieflage kommt und eine Insolvenz immer wahrscheinlicher wird. Sind die anderen Gläubiger ebenfalls Banken, so kann die finanzielle Schieflage der Schuldnerbank dazu führen, dass diese anderen Banken ebenfalls in Schwierigkeiten kommen, die ihre Refinanzierung und ihre Solvenz bedrohen.
Im September 2008 bedeutete die Insolvenz von Lehman Brothers auch das Ende für den Reserve Primary Fund, einen Geldmarktfonds, der Lehman Brothers fast 800 Millionen Dollar geliehen hatte. Als Geldmarktfonds hatte Reserve Primary sich nicht mit Schulden, sondern durch Ausgabe von Anteilscheinen finanziert und konnte daher nicht bankrottgehen. Aber die Verluste auf die Kredite an Lehman Brothers hatten zur Folge, dass der Wert eines Anteilscheins unter 1 Dollar fiel, auf 97 Cent, was als »breaking the buck« bezeichnet wird und auf die Anleger alarmierend wirkt. Es kam darauf zu massiven Abflüssen von Mitteln, da die Anleger in Scharen ihre Anteile zurückgaben. Innerhalb weniger Tage musste Reserve Primary fast 97 Prozent seiner Anteile zurücknehmen und dafür rund 60 Milliarden Dollar auszahlen, von 62 Milliarden Fondsvermögen überhaupt. Kurz darauf wurde der Fonds geschlossen.9
Die Anleger anderer Geldmarktfonds sahen die Insolvenz von Lehman Brothers und die Probleme des Reserve Primary Fund als Signal, dass andere Investmentbanken und andere Geldmarktfonds ebenfalls bedroht sein könnten, auch wenn diese Fonds gar nichts mit dem Lehman-Bankrott zu tun hatten. Um sich zu schützen, gaben viele dieserAnleger ihre Anteile zurück und zogen ihr Geld ab. Es kam zu einer Art Bank Run, einem Kundenansturm, diesmal allerdings nicht auf Banken, sondern auf Geldmarktfonds. Dieser Run auf Geldmarktfonds kam erst zum Erliegen, als einige Tage später das US-Finanzministerium einen Plan für eine staatlich garantierte Versicherung für Geldmarktfonds vorlegte.10
Der Run zwang die Geldmarktfonds dazu, auch selbst ihre Anlagen zurückzufahren. Ein Großteil dieser Anlagen bestand aus kurzfristigen Krediten, vor allem an Banken, darunter viele mit Laufzeiten von nur einem oder ein paar Tagen. Diese waren nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers ohnehin suspekt.11 Jedoch betraf der Rückzug der Geldmarktfonds nicht nur die US-Investmentbanken, von denen zu befürchten war, es könnte ihnen ähnlich ergehen wie Lehman Brothers, sondern auch europäische Banken, deren Solvenz zu diesem Zeitpunkt nicht infrage stand, die sich aber sehr stark bei Geldmarktfonds verschuldet hatten. Als die Geldmarktfonds sich zurückzogen, bekamen diese Banken große Liquiditätsprobleme.12 Aufgrund der allgemeinen Panik waren die Märkte für Kredite an Banken insgesamt eingefroren, einschließlich der Interbankenmärkte, in denen die Banken sich untereinander Geld leihen, und so war es diesen Banken praktisch unmöglich, einen Ersatz für die Kredite der Geldmarktfonds zu finden.13
Weitere Zahungsausfälle großer Institute in Europa und den USA konnten nur deshalb vermieden werden, weil die Zentralbanken als Kreditgeber der letzten Instanz in die Bresche sprangen und die Banken mit Geld versorgten.14 Außerdem boten die Regierungen Garantien und neues Eigenkapital, um die Anleger und die Märkte zu beruhigen.15 In Island allerdings ließen sich Zahlungsausfälle und Insolvenzen auch mit der Staatshilfe nicht vermeiden, denn ein Großteil der Bankschulden lautete auf Dollar oder Euro, und diese konnte die isländische Zentralbank nicht drucken.
Wenn Finanzinstitute um ihre Refinanzierung fürchten und unter Druck kommen, sehen sie sich gezwungen, Vermögenswerte zu verkaufen, um Bargeld zu bekommen.16 Wenn es nicht genügend Käufer gibt, führen solche Verkaufsversuche dazu, dass die Preise der angebotenen Vermögenswerte sinken. Wenn andere Finanzinstitute ähnliche Vermögenswerte halten, werden auch diese an Wert verlieren, sodass die Gläubiger dieser Institute möglicherweise um deren Solvenz fürchten und daran denken, ihre Mittel dort abzuziehen, wodurch die Solvenz des betreffenden Instituts bedroht sein könnte. Da solche Befürchtungen die Refinanzierung dieser Finanzinstitute in Gefahr bringen können, könnten sie sich dann ebenfalls zu Notverkäufen veranlasst sehen, womit der Druck auf die Wertpapiermärkte und -preise noch einmal zunähme.
Solche Notverkäufe oder gar Panikverkäufe trugen im September 2008 und noch einmal im Sommer und Herbst 2011 dazu bei, dass die Märkte für Wertpapiere und andere Vermögenstitel stark unter Druck kamen. In beiden Fällen versuchten Banken, denen die Refinanzierung durch kurzfristige Schulden abhanden gekommen war, Vermögenswerte abzustoßen, um an Geld zu kommen. Der daraus resultierende Wertverlust dieser Titel ließ das Vertrauen der Anleger weiter schwinden. Die Abwärtsspiralen wurden erst dadurch gestoppt, dass die Regierungen Garantien für die Schulden der Banken anboten und die Zentralbanken den Geschäftsbanken die Liquidität zur Verfügung stellten, die sie brauchten.
Doch schon vor der Lehman-Insolvenz, zwischen August 2007 und September 2008, konnte man eine langsame Version dieser Art Ansteckung beobachten. Hoch verschuldete Banken versuchten, ihre Risiken zu verringern und ihre Schuldenlast zu reduzieren, indem sie massiv hypothekenbesicherte Wertpapiere verkauften.17 Der Preisverfall dieser Papiere bescherte allen Banken weitere Verluste und reduzierte ihr Eigenkapital weiter, was den Druck zu solchen Notverkäufen weiter erhöhte.18
In den Jahren 2007 bis 2009 war die Ansteckung über Panikverkäufe und Wertverfall der Vermögenswerte besonders stark, weil bei vielen Banken das Eigenkapital sehr klein war; oft nur um 2 Prozent der gesamten Aktiva. Bei dieser Höhe des Eigenkapitals vernichtet schon ein Verlust von 1 Prozent der Aktiva die Hälfte ihres Eigenkapitals. Das ist vergleichbar mit der Situation, wo Kates Eigenanteil am Kauf eines Hauses für 300.000 Dollar nur 6.000 Dollar beträgt. Sinkt der Wert des Hauses um 1 Prozent, das heißt 3.000 Dollar, so verliert sie die Hälfte ihres Eigenkapitals an dem Haus.
Nehmen wir an, die Aktiva einer Bank seien zunächst 100 Dollar wert und ihr Eigenkapital sei 2 Dollar. Bei einem Verlust von 1 Dollar sind die Aktiva noch 99 Dollar wert und das Eigenkapital, das den Verlust absorbieren muss, ist auf 1 Dollar gesunken. Nehmen wir weiter an, die Bank wolle das Verhältnis zwischen ihrem Eigenkapital und ihren Vermögenswerten wieder auf 2 Prozent ihrer gesamten Aktiva anheben, ohne allerdings neues Eigenkapital aufzunehmen. Dann muss sie ihre Aktiva auf 50 Dollar reduzieren – also praktisch halbieren – und 49 Dollar an Schulden zurückzahlen, sodass das Eigenkapital von 1 Dollar wieder 2 Prozent ihrer Aktiva ausmacht. Diese Rechnung zeigt, wie radikal das sogenannte »Deleveraging«, die Rückführung der Verschuldung durch Verkäufe von Aktiva, sein muss, wenn man nur wenig Eigenkapital hat.
Hätte die anfängliche Eigenkapitalquote dagegen 20 Prozent betragen, hätte der Wertverlust von 1 Prozent lediglich 5 Prozent des Eigenkapitals vernichtet. Bei Aktiva im Wert von 100 Dollar und einem Eigenkapital von 20 Dollar reduziert ein Verlust von 1 Prozent den Wert der Aktiva auf 99 Dollar und das Eigenkapital auf 19 Dollar. In diesem Fall wäre ein Verkauf von 5 Prozent der Aktiva, weniger als 5 Dollar, mehr als genug, um die Eigenkapitalquote wieder auf 20 Prozent zu bringen. Je geringer die Eigenkapitalquote der Bank ist, desto mehr muss sie an Aktiva verkaufen, um die Eigenkapitalquote nach Verlusten wiederherzustellen, und desto größer ist der Druck, den sie mit ihren Verkäufen auf Märkte und Preise ausübt. Der Deleveraging-Effekt ist kleiner und wirkt weniger destabilisierend, wenn Banken von Anfang an mehr Eigenkapital haben.19
Der Mechanismus der Übertragung von Problemen von einer Bank auf die anderen durch Notverkäufe und den Verfall von Wertpapierpreisen wirkt sich besonders stark aus, wenn es nur wenige potenzielle Käufer für die riskanten Wertpapiere gibt. In diesem Fall kann der Preisverfall sehr groß sein, selbst wenn das Finanzinstitut, das diese Wertpapiere zum Verkauf anbietet, klein ist und die Verkäufe an sich unbdeutend sind.20 Der Preisverfall ist besonders dramatisch, wenn viele Finanzinstitute ähnliche Positionen bei ähnlichen Wertpapieren halten und gleichzeitig verkaufen wollen und wenn darüber hinaus potenzielle Käufer davon ausgehen, dass die Verkaufswelle noch einige Zeit anhalten wird.21 In diesem Fall rechnen die potenziellen Käufer mit weiteren Preisrückgängen und warten einfach ab.
In Kapitel 4 bemerkten wir, dass die Banken zwischen 1940 und 1970 sicher und langweilig waren. Weltweit gab es in diesen Jahrzehnten nur wenige Bankinsolvenzen und Krisen von ganzen Bankensystemen.22 In den 1970er-Jahren jedoch wurden in den USA und in anderen Staaten die Risiken von Banken wieder zu einem Thema.23 Der systematische historische Überblick in dem Buch Dieses Mal ist alles anders: Achthundert Jahre Finanzkrisen von Reinhart und Rogoff aus dem Jahr 2009 führt neun Bankenkrisen in den 1970er-Jahren auf und jeweils mehr als 50 Bankenkrisen in den 1980er- und 1990er-Jahren.24
Vor 2007 waren die Auswirkungen von Bankenkrisen zumeist begrenzt und beschränkten sich jeweils auf das betreffende Land. Ansteckung spielte keine große Rolle. Zum Beispiel war die im vorigen Kapitel besprochene Krise der US-amerikanischen Sparkassen in den 1980er-Jahren in Europa so gut wie gar nicht zu spüren. Die finnischen und schwedischen Bankenkrisen der 1990er-Jahre wirkten sich nur in diesen Ländern aus. Die japanische Bankenkrise, die größte Krise der 1990er-Jahre, bei der die anfänglichen Verluste wohl ähnlich hoch waren wie die anfänglichen Verluste aus Subprime-basierten Wertpapieren in den USA, hatte keine ernsthaften Auswirkungen auf die USA und Europa. Einige Krisen, zum Beispiel die Asienkrise von 1996 bis 1998, griffen auf andere Länder über, weil die dortigen Banken sich Geld von Banken in anderen Ländern geliehen hatten. Jedoch beschränkten sich die grenzüberschreitenden Effekte dieser Krisen auf ihre direkten Auswirkungen auf die ausländischen Kreditgeber.25
Im Gegensatz dazu löste der 2006 einsetzende Zusammenbruch der amerikanischen Immobilien- und Hypothekenmärkte eine weltweite Finanzkrise aus. Die Entwicklungen auf den Immobilienmärkten selbst unterschieden sich nicht so sehr von früheren Blasen an solchen Märkten, aber dieses Mal gab es sehr viel mehr Ansteckungseffekte.
Drei Zusammenhänge scheinen für die immense Reichweite der Finanzkrise von 2007 bis 2009 verantwortlich gewesen zu sein. Erstens wurden die Subprime-basierten Wertpapiere, die so drastisch an Wert verloren, von Finanzinstitutionen auf der ganzen Welt gehalten. Diese Institute waren über die Marktpreise der Wertpapiere miteinander verbunden. Wenn ein Institut versuchte, solche Papiere in einem Notverkauf loszuwerden, und das die Preise drückte, waren auch andere Institute betroffen, weil deren Papiere durch den Preisverfall an Wert verloren.26
Zweitens waren die Institutionen, die Subprime-basierte Wertpapiere hielten, sehr hoch verschuldet und hatten nur wenig Eigenkapital. Daher kam es sehr schnell zu Befürchtungen über die Solvenz dieser Institutionen. Die Dominoeffekte von Wertverlusten und Zahlungsausfällen gingen oft über mehrere Stufen. Während die europäischen Banken, die sich in den 1990er-Jahren in Asien engagiert hatten, genügend Eigenkapital hatten, um die Verluste aus der Asienkrise von 1997 zu verkraften, mussten die Banken, die Subprime-basierte Wertpapiere hielten, alsbald um ihre Solvenz fürchten.27
Drittens bestand ein Großteil der Bankschulden aus Geldmarktkrediten, insbesondere von Geldmarktfonds. Diese Quelle der Bankenfinanzierung ist besonders anfällig für Ansteckungseffekte und Runs, weil weder die Geldmarktfonds selbst noch ihre Anteilseigner von einer Einlagensicherung geschützt werden. Die Krisen der Investmentbanken Bear Stearns und Lehman Brothers im Jahr 2008 wurden dadurch ausgelöst, dass die Inhaber kurzfristiger Schuldtitel dieser Banken, insbesondere auch Geldmarktfonds, sich weigerten, ihre Kredite zu erneuern, als sie begannen, um die Solvenz dieser Banken zu fürchten. Als nach der Lehman-Insolvenz die Anleger aus den Geldmarktfonds flohen, mussten diese sich fast ganz aus der Bankenfinanzierung zurückziehen.28
Die Gefahr von Ansteckungseffekten ist seit den 1990er-Jahren sehr viel größer geworden, weil die Finanzinstitutionen stärker miteinander vernetzt sind und weil sie fragiler sind als in der Vergangenheit. Die stärkere Vernetzung ist zum Teil eine Folge der Globalisierung und der damit einhergehenden Zunahme länderübergreifender Finanzaktivitäten. Ein Beispiel dafür ist der Kauf von Subprime-basierten amerikanischen Wertpapieren durch deutsche Banken oder Tochtergesellschaften von deutschen Banken und die Finanzierung dieses Kaufs durch Kreditaufnahme bei amerikanischen Geldmarktfonds.29
Vernetzung und Fragilität von Finanzinstitutionen haben auch deshalb zugenommen, weil neue Arten von Finanzinstitutionen hinzugekommen sind. Ein wichtiges Beispiel sind die schon mehrfach erwähnten Geldmarktfonds, die über die Zeit stark gewachsen sind und die in zunehmendem Maße als Mittler zwischen Anlegern und Banken auftreten. Wie in Kapitel 4 dargelegt, wurden die Geldmarktfonds in den 1970er-Jahren in den USA entwickelt und dienten dazu, die Regulierungsvorschriften zu umgehen, die den Geschäftsbanken und Sparkassen vorschrieben, wie viel Zinsen sie maximal auf ihre Einlagen zahlen durften. Zwar wurden diese Vorschriften im Rahmen der Deregulierung der 1980er-Jahre abgeschafft, aber die Geldmarktfonds sind geblieben und zu einem wichtigen Teil des Finanzsystems geworden, weil sie insbesondere die Bedürfnisse von Unternehmen und institutionellen Anlegern erfüllen, deren liquide Vermögenswerte die Obergrenzen der staatlich garantierten Einlagensicherung überschreiten.
Geldmarktfonds bieten ihren Anlegern fast dieselben Leistungen wie Banken bei ihren Einlagen, nur dass die Anleger Anteilscheine halten und keine Schuldtitel. Die mehreren Billionen Dollar, die Geldmarktfonds von ihren Anlegern bekommen, werden für kurzfristige Kredite an Banken und an Unternehmen außerhalb des Finanzsektors verwandt.30 Wenn die Geldmarktfonds Kredite an Unternehmen außerhalb des Finanzsektors vergeben, konkurrieren sie mit den Banken, von denen diese Unternehmen sich ebenfalls Geld leihen könnten. Wenn die Geldmarktfonds kurzfristige Kredite an Banken vergeben, übernehmen sie die Rolle eines Finanzvermittlers zwischen ihren Anlegern und den Banken, wobei sie den Anlegern die Dienstleistungen bieten, die sie auch bei einer Bankeinlage bekämen, und den Banken eine kurzfristige Finanzierung geben, bei der keine Gebühren für die Einlagensicherung anfallen.
Die Verschuldung der Banken bei den Geldmarktfonds erhöht das Risiko von Liquiditätsproblemen und Runs. Da es hierbei keine staatlich garantierte Versicherung gibt, ähnelt die Situation der von George Bailey in dem Film Ist das Leben nicht schön?, die in Kapitel 4 beschrieben wurde. Die Manager von Geldmarktfonds, die einer Bank kurzfristige Kredite gegeben haben, werden versuchen, ihr Geld abzuziehen, wenn sie um die Solvenz der Bank fürchten. Dann werden sie die Kredite nach dem Ende ihrer Laufzeit nicht verlängern. Bei Übernachtkrediten heißt das, dass die Mittel von einem Tag auf den anderen verschwinden. Außerdem könnten die Anleger von Geldmarktfonds ihrerseits anfangen, sich Sorgen über den Wert ihrer Fondsanteile zu machen, und versuchen, die Anteile zurückzugeben, ehe sie an Wert verlieren. Es kann also zwei Arten von Runs geben: Zum einen können Geldmarktfonds abrupt ihre Mittel aus den Banken abziehen, zum anderen können die Anteilsinhaber der Geldmarktfonds abrupt ihre Mittel aus den Fonds abziehen.
Ein solcher doppelter Run fand tatsächlich im Herbst 2008 statt. Die Anleger der Geldmarktfonds wollten ihr Geld plötzlich in sichereren Papieren anlegen, zum Beispiel in Staatsanleihen oder einfach in Bargeld. Dadurch waren die Geldmarktfonds gezwungen, sich aus der Bankenfinanzierung zurückzuziehen. Dass mit den Geldmarktfonds ein zusätzliches Glied in die Finanzierungskette gekommen war, erhöhte die Verletzlichkeit der Banken.31
Die stärkere Vernetzung im Finanzsystem ist auch durch neue Techniken des Risikomanagements bedingt. Ein Beispiel ist die in Kapitel 4 behandelte Technik der Verbriefung und die Verwendung dieser Weitergabe der Risiken aus Immobilienkrediten. Wie in Kapitel 4 beschrieben, diente diese Finanzinnovation dazu, die Banken von den Risiken ihres Hypothekenkreditgeschäfts zu befreien, die die amerikanische Sparkassenkrise in den 1980er-Jahren verursacht hatten.
Durch die Hypothekenverbriefung wurde die Transaktionskette länger und die Zahl der Beteiligten größer. In der Welt eines George Bailey fließt das Geld von den Einlegern zu ihrer Bank. Und diese verwendet das Geld, um Personen wie Kate den Kredit zu geben, den sie brauchen, um ein Haus zu kaufen. Vor der Einführung der Verbriefung war niemand sonst beteiligt. Die Bank hielt den Kredit und bekam Kates Ratenzahlungen. In einem System mit Verbriefung verkauft die Bank Kates Hypothekenkredit zusammen mit vielen anderen an eine andere Finanzinstitution, etwa eine Investmentbank, die diese Hypotheken in einem Paket zusammenfasst. Diese Institution gibt ihrerseits Wertpapiere aus, die ihren Inhabern Zahlungen versprechen aus dem, was Kate und die anderen Hypothekenschuldner für Zinsen und Tilgung bezahlen. Diese Schuldversprechen werden an verschiedene Anleger verkauft, sofern nicht die Investmentbank beschließt, einiges davon selbst zu behalten.32
So verlängert der Wunsch der Hypothekengläubiger, die Risiken ihrer Kredite abzugeben, die Transaktionskette und erhöht das Risiko von Dominoeffekten aufgrund von Zahlungsausfällen. Wenn sich die Banken und anderen Investoren, die hypothekenbesicherte Wertpapiere kaufen, das Geld dafür von Geldmarktfonds leihen, wird die Transaktionskette sogar noch länger.33
Die Verwendung sogenannter Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps, CDS) ist ein weiteres Beispiel dafür, wie der Versuch, Risiken besser zu managen und gegebenenfalls an Dritte abzugeben, die Komplexität und Fragilität des Systems erhöhen kann. Ein CDS ist eine Art Versicherungsvertrag. Der Käufer zahlt eine Prämie an den Verkäufer, wofür er im Gegenzug das Versprechen eines vollen Ausgleichs erhält, falls die Kredite, auf die der CDS ausgestellt ist, von Zahlungsausfällen betroffen sind. Durch den Kauf eines CDS übeträgt die Bank das Risiko von Zahlungsausfällen bei den im Vertrag genannten Krediten auf den Verkäufer der CDS – so wie der Käufer einer Gebäudeversicherung das Risiko eines Brandschadens auf die Versicherungsgesellschaft überträgt.
Vor 2007 kauften viele Finanzinstitute, die Subprime-basierte Wertpapiere hielten, auch Kreditausfallversicherungen, um sich vor Zahlungsausfällen auf die zugrunde liegenden Hypotheken zu schützen. Damit erweiterte sich der Kreis der Institute, die mit diesen Wertpapieren zu tun hatten, um die Verkäufer der Ausfallversicherungen.
Später wurden CDS auch auf sogenannte »synthetische« Wertpapiere ausgestellt, die keine Kredite oder Pakete von Krediten mehr waren, sondern Indizes, die so konstruiert waren, dass ihre Entwicklung die Entwicklung der Zahlungen auf bestimmte Kredite verfolgte und nachahmte.34 Dadurch nahm die Komplexität und Verflechtung noch einmal zu.
Kreditausfallversicherungen wurden von Versicherungsgesellschaften verkauft, vor allem von dem US-Giganten American International Group (AIG), auf den sich das Eingangszitat zu diesem Kapitel bezieht. AIG verkaufte Credit Default Swaps mit einem Gesamtwert von rund 500 Milliarden Dollar an verschiedene Finanzinstitutionen. Als sich die Kreditausfälle im Jahr 2008 häuften, kam es zu Zweifeln an der Solvenz von AIG und in den Turbulenzen jenes Septembers konnte AIG seine Finanzierung nicht mehr erneuern. Da praktisch alle großen Finanzinstitute der Welt Kreditausfallversicherungen von AIG gekauft hatten, hätte ein Bankrott dieses Unternehmens einen weltweiten Flächenbrand auslösen können. Im Übrigen wären auch Millionen normaler Versicherungskunden von einem solchen Bankrott betroffen gewesen.
Daher beschlossen die US-Regierung und die amerikanische Notenbank, AIG zu retten. Dabei sorgten sie dafür, dass die Finanzinstitutionen, die von AIG Kreditausfallversicherungen gekauft hatten, in vollem Umfang von AIG ausbezahlt wurden.35
Kreditausfallversicherungen sind ein Beispiel für sogenannte Finanzderivate. Derivate ermöglichen den Tausch und die Umverteilung von Risiken unter verschiedenen Beteiligten. Der Begriff Derivat deutet schon darauf hin, dass die Zahlungen, die die Beteiligten nach dem Inhalt des Vertrags erhalten, von etwas anderem abhängen beziehungsweise sich davon ableiten (lateinisch: derivare = ableiten), zum Beispiel davon, ob ein Schuldner zahlt oder nicht, oder davon, wie sich der Preis eines Wertpapiers entwickelt, der zum Zeitpunkt, in dem der Kontrakt unterschrieben wird, noch unsicher ist.
Derivate geben Unternehmen außerhalb und innerhalb des Finanzsektors die Möglichkeit, ihre Risiken besser zu steuern. Zum Beispiel könnten ein amerikanischer Exporteur und eine Bank im Rahmen eines sogenannten Terminkontrakts vereinbaren, dass sie zu einem bestimmten Termin in der Zukunft zu einem heute festgelegten Wechselkurs Dollar gegen Euro tauschen werden. Wenn der Exporteur zu dem im Vertrag genannten Termin die Zahlung eines europäischen Kunden in Euro erwartet, dann eliminiert er durch den Terminkontrakt das Risiko, dass der Euro bis zum Zeitpunkt des Zahlungseingangs gegenüber dem Dollar an Wert verlieren könnte.
Ein solcher Vertrag ist sinnvoll, wenn sich die Bank weniger Sorgen um das Wechselkursrisiko macht als der Exporteur. Wenn die Kosten des Exporteurs in Dollar anfallen, kann ein Wertverfall des Euro bis zum Zeitpunkt der Zahlung dazu führen, dass er nicht einmal seine Kosten decken kann. Im schlimmsten Fall könnte das sogar seine Solvenz bedrohen. Insofern kann es für den Exporteur sehr wichtig sein, dass er das Wechselkursrisiko auf jemand anderen verlagert. Die Bank dagegen macht sich womöglich gar keine Sorgen um dieses Risiko. Da sie ständig in den Märkten für fremde Währungen tätig ist, hat sie vielleicht die Möglichkeit, gleichzeitig mit dem genannten Terminkontrakt mit dem US-Exporteur noch einen anderen Terminkontrakt mit einem europäischen Unternehmen abzuschließen, bei dem sie selbst Euro verkauft und Dollar kauft; das würde ihr Wechselkursrisiko wieder verschwinden lassen. Selbst wenn die Kontrakte nicht so aufeinander abgestimmt werden können, dass das Wechselkursrisiko völlig verschwindet, ist denkbar, dass die Bank das Risiko als gering einstuft, da der Terminkontrakt in Relation zu ihrem Vermögen nicht ins Gewicht fällt. Ist die Bank eine große Aktiengesellschaft mit vielen Anteilseignern, ist das Risiko für jeden einzelnen Aktionär tatsächlich sehr gering.
Terminkontrakte gibt es schon seit Langem, und zwar nicht nur für Währungen, sondern auch für Metalle, Kartoffeln, Schweinebäuche und andere Waren. Seit Anfang der 1970er-Jahre gibt es noch andere Derivate, die an Börsen oder in bilateralen Verträgen gehandelt werden. Seit Beginn der 1980er-Jahre und vor allem in den 1990er-Jahren nahm der Derivatehandel dramatisch zu und spielt heute eine große Rolle im Finanzsystem. Neue Techniken wurden entwickelt, mit denen die Banken die Risiken solcher Kontrakte steuern.36 Die Innovationen, die durch diese Techniken ermöglicht wurden, waren sehr nützlich, um mit den in den 1970er- und 1980er-Jahren deutlich gestiegenen Risiken von Zins- und Wechselkursschwankungen besser umgehen zu können.37
Derivate und neue Risikomanagementtechniken sind für die Gesellschaft nützlich, da sie zur Verbesserung der Verteilung von Risiken beitragen können. Mit einer besseren Verteilung von Risiken lässt sich die Gefahr für den Einzelnen reduzieren und das Risiko auf diejenigen übertragen, die es am besten tragen können. Dadurch kann die Wahrscheinlichkeit individueller Kreditausfälle und Insolvenzen verringert und die Stabilität der Wirtschaft und des Finanzsystems verbessert werden.
Jedoch haben die neuen Märkte und neuen Techniken auch den Spielraum für Zocker erweitert und sie können auf eine Weise genutzt werden, die die Risiken im System eher erhöhen als senken.38 Bei zahlreichen Skandalen der vergangenen zwei oder drei Jahrzehnte, bei denen Banken und ihre Kunden gewaltige Summen verloren haben, spielten Derivate eine Rolle. In Kapitel 4 erwähnten wir den Fall des Bankers Nick Leeson, der für die britische Barings Bank in Singapur arbeitete und im Jahr 1995 die Bank mit einer verfehlten Wette auf einen Anstieg japanischer Aktienkurse in die Insolvenz brachte. Indem Nick Leeson Derivate statt Aktien kaufte, konnte er in kurzer Zeit extrem große Positionen aufbauen, ohne dass die Leitung der Bank das kontrollierte. Seither gab es mindestens 20 Vorfälle, bei denen verfehlte Spekulationen einzelner Händler mit Derivaten Verluste von jeweils mehr als 1 Milliarde Dollar verursachten.39 In einem Fall gingen durch die Zockerei auch erhebliche öffentliche Gelder verloren, im Jahre 1994, als die Derivatespekulationen von Robert Citron, dem Kämmerer des Bezirks Orange County in Südkalifornien, dazu führten, dass der Bezirk bankrottging.40
Spekulation und Zocken hat es an den Finanzmärkten von jeher gegeben. Bei Derivaten sind aber die Wetten, die einzelne Wertpapierhändler eingehen, sehr viel größer geworden und sind viel schwieriger zu kontrollieren. Die Dominoeffekte, die selbst von kleinen Finanzinstituten ausgehen können, sind verheerend. Warren Buffett hatte sehr recht, als er Derivate als »finanzielle Massenvernichtungswaffen« bezeichnete.41
Derivate können die Risiken auf ähnliche Weise vervielfachen wie Schulden mit der in den Kapiteln 2 und 3 besprochenen Hebelwirkung. Allerdings lassen sich die Risiken nicht einfach aus der Bilanz erkennen. Wenn eine Bank einen Währungsterminkontrakt eingeht, geht dieser am Anfang mit dem Wert null in die Bilanz ein.42 Wenn der Kontrakt aber über 1 Milliarde Euro lautet, dann bedeutet ein Wertverlust des Euro in Höhe von 10 Prozent einen Verlust von 100 Millionen Euro.
Die Risiken, die mit Derivaten verbunden sind, sind noch größer, wenn die zu leistenden Zahlungen überproportional von den zugrunde liegenden Variablen abhängen, auf die der Vertrag abstellt. Manche Wetten enthalten komplizierte Formeln, die sich nutzen lassen, um sehr hoch zu spielen und gleichzeitig die Höhe des Risikos zu verschleiern. Die Techniken zum Management der Risiken von Derivaten sind oft mit komplexen Handelsstrategien verbunden. Wertpapierhändler halten diese Strategien gerne geheim, weil sie nicht wollen, dass sie von anderen imitiert werden. Oft unternehmen sie große Anstrengungen, um ihre Spuren zu verwischen. Diese Geheimniskrämerei schützt sie allerdings nicht nur vor der Nachahmung, sondern auch vor der Kontrolle durch die eigene Unternehmensleitung. Wenn die Unternehmensleitung selbst an solchen Spekulationen beteiligt ist, dient die Geheimhaltung der Verschleierung der Risiken gegenüber Aufsichtsbehörden, Kunden und Investoren.43
Geheimhaltung und Komplexität der Kontrakte und Strategien im Derivatehandel ermöglichen es den einzelnen Händlern und Banken, sehr große Risiken einzugehen, und das manchmal in kürzester Zeit und ohne effektive Aufsicht oder Kontrolle. Da die Derivate die Risiken vervielfachen können, kann ein ausgedehnter Derivatehandel nicht nur ein einzelnes Finanzinstitut in Gefahr bringen, sondern auch durch Ansteckung das gesamte Finanzsystem bedrohen. Wetten mit komplizierten Formeln und Handelsstrategien waren zum Beispiel mit ein Grund dafür, dass im Frühjahr 1994 eine sehr kleine Veränderung der Zinssätze der amerikanischen Zentralbank dem Finanzsystem einen großen Schock versetzte. Das Ausmaß dieses Schocks war unerwartet, da kaum jemand sich bewusst gewesen war, wie sensibel viele Derivatepositionen auf Zinsänderungen der Zentralbank reagieren würden.44
Ein weiteres frühes Beispiel für die Vervielfachung von Risiken durch Derivate war die sogenannte LTCM-Krise von 1998. Die Krise ist benannt nach dem Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM). Mit 4,7 Milliarden Dollar Eigenkapital und 125 Milliarden Schulden am Ende des Jahres 1997 war LTCM ein relativ kleiner Fisch im Finanzsystem. Als LTCM aber im Sommer 1998 große Verluste machte, befürchtete die Federal Reserve, eine Insolvenz von LTCM könne eine Kettenreaktion auslösen und andere Institute mit in den Abgrund reißen.
LTCM hatte riesige Derivatepositionen. Und die Befürchtung, seine Partner bei diesen Derivatekontrakten könnten von einer Insolvenz des Hedgefonds in Mitleidenschaft gezogen werden, wurde noch dadurch verschärft, dass es bezüglich der Behandlung dieser Kontrakte im Insolvenzverfahren erhebliche Rechtsunsicherheit gab.45 Und da zu dieser Zeit viele eine Finanzkrise befürchteten, hätten die Versuche, die Aktiva von LTCM zu verkaufen, vielleicht zu einem dramatischen Einbruch bei den Preisen dieser Aktiva geführt. Das wiederum hätte potenziell verheerende Auswirkungen auf zahlreiche andere Institutionen haben können, die ähnliche Strategien verfolgt hatten wie LTCM.
Um derartige Ansteckungseffekte zu verhindern, übte die Federal Reserve von New York Druck auf große Banken aus, die LTCM Geld geliehen hatten, damit sie LTCM zusätzliches Eigenkapital gaben, sodass der Hedgefonds ohne Insolvenzverfahren und langsam abgewickelt werden könnte.46 LTCM wurde als systemrelevantes Finanzinstitut behandelt, obwohl es vor der Krise gar nicht als ein solches wahrgenommen worden war.
Im Frühjahr 2008 veranlassten ähnliche Befürchtungen die Federal Reserve dazu, eine Insolvenz der Investmentbank Bear Stearns zu verhindern, indem sie eine Übernahme durch JPMorgan Chase arrangierte. Dabei übernahm die Federal Reserve ein Paket mit »toxischen Papieren« im Wert von nahezu 30 Milliarden Dollar, finanziert mit 1 Milliarde Dollar von JPMorgan Chase und 29 Milliarden Dollar aus der eigenen Kasse.47 Die Federal Reserve befürchtete, dass eine Insolvenz von Bear Stearns Partnern der Bank bei ihren Derivatekontrakten großen Schaden zufügen könnte.48
Banker behaupten gern, sie seien Experten im Umgang mit Risiken, ihrer Messung und ihrer Steuerung, und daher seien ihre Risiken tatsächlich viel kleiner, als Außenstehende meinen, und sicher viel kleiner als die Risiken von Unternehmen außerhalb des Finanzsektors. Nach ihrer Aussage bieten quantitative Modelle und sogenannte Stresstests die Grundlage für eine präzise und belastbare Bewertung von Risiken und für die Reduzierung von Risiken mit modernem Risikomanagement unter Verwendung von Derivaten.49
Solche Behauptungen darf man nicht wörtlich nehmen. Banker mögen zwar Experten in der Risikoanalyse und -steuerung sein, aber sie sind auch oft mit Risiken konfrontiert, die sie nicht vorhergesehen haben.50 Dazu passt der berühmte Satz des ehemaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld: »Es gibt bekannte Unbekannte. Das soll heißen, es gibt Dinge, von denen wir nur wissen, dass wir sie nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte; das sind Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.«
Zum Beispiel hatten die Verantwortlichen von LTCM, darunter einige der brillantesten Köpfe der Finanzwirtschaft, zwar sehr sorgfältig geschätzt, wie die Zinssätze in verschiedenen Währungen sich entwickeln würden und welche Risiken dabei auftreten könnten, aber sie hatten die Möglichkeit außer Acht gelassen, dass die Anleger insgesamt plötzlich sehr risikoscheu werden könnten, mit der Folge, dass alle Schuldtitel außer den allersichersten, nämlich US-Staatsanleihen, plötzlich an Wert verlören. Und die Banken, die vor August 2007 Subprime-basierte Wertpapiere kauften, steuerten ihre Risiken auf der Grundlage der Annahme, dass es immer einen Markt geben würde, auf dem sie diese Papiere im Notfall verkaufen könnten. Im August 2007 jedoch froren die Märkte für diese Wertpapiere komplett ein.51
Die hohe Qualität des Risikomanagements kann selbst zu einem Problem werden, wenn nämlich das Vertrauen der Beteiligten in ihre eigenen Modelle und ihre Fähigkeit zur Risikosteuerung zu groß wird. Das lässt sich mit der Beobachtung vergleichen, dass das subjektiv empfundene Sicherheitsgefühl, das Autosicherheitsgurte vermitteln, viele Menschen zu einer unvorsichtigeren Fahrweise zu veranlassen scheint.52 Das subjektive Gefühl, man beherrsche die Risiken, das der Einsatz von ausgefeilten quantitativen Risikomodellen und Handelsstrategien für Derivate auslöst, kann dazu führen, dass die Beteiligten leichtsinniger werden und tatsächlich die Risiken nicht genügend kontrollieren. Das könnte erklären, warum die Beträge, mit denen bei Derivaten gezockt wird, so groß geworden sind und warum einige der spektakulärsten Verluste bei Personen und Institutionen aufgetreten sind, von denen man vorher dachte, ihr Risikomanagement sei außergewöhnlich gut.53
Die gewählten Risikomanagementstrategien selbst können bereits ein falsches Gefühl der Sicherheit vermitteln. Die Käufer von Subprime-basierten Wertpapieren, die Kreditausfallversicherungen von AIG erwarben, fühlten sich sicher. Sie erkannten nicht, dass, wenn die versicherten Risiken einträten, die Zahlungsfähigkeit von AIG selbst infrage gestellt sein könnte, und das gerade dann, wenn die Versicherungsleistung am dringendsten gebraucht würde. Um dieses Risiko genau zu ermessen, hätten die Zuständigen wissen müssen, was AIG insgesamt an Kreditausfallversicherungen verkauft hatte und in welchem Maße AIG durch diese Verträge im Risiko stand.
Gewöhnlich kennt man jedoch nicht die Positionen der anderen Marktteilnehmer. Wie zuvor erwähnt, unternehmen diese oft große Anstrengungen, um ihre Positionen und Strategien geheim zu halten. Da die meisten Derivate außerhalb von Börsen und außerhalb des Blickfelds von Dritten gehandelt werden, ist es unmöglich, sich ein präzises Bild der jeweiligen Gesamtposition und damit der Ausfallrisiken anderer Marktteilnehmer zu machen. Insbesondere ist es unmöglich, zu erfahren, ob der Risikotransfer, der mit einem Derivatevertrag vereinbart wurde, tatsächlich funktioniert oder ob und unter welchen Umständen der Vertragspartner am Ende vielleicht ausfällt.54
Im Jahr 1998 wurde die Federal Reserve Bank von New York scharf dafür kritisiert, dass sie private Banken dazu gedrängt hatte, LTCM vorübergehend vor der Insolvenz zu bewahren. Eine ähnliche Kritik wurde im Frühjahr 2008 laut, als die Federal Reserve die Übernahme von Bear Stearns durch JPMorgan Chase arrangierte und dabei Garantien für ein Paket von zweifelhaften Wertpapieren übernahm. Solche Interventionen der Zentralbank oder anderer Regierungsbehörden widersprechen dem Prinzip, dass Unternehmen bankrottgehen dürfen oder sogar müssen, wenn sie ihre Verpflichtungen nicht erfüllen können.
Bei Lehman Brothers im Herbst 2008 wurde dieses Prinzip dann befolgt. Und die Folgen übertrafen die schlimmsten Befürchtungen, die man bei LTCM und Bear Stearns gehabt hatte. Seitdem hat man keine wichtige Finanzinstitution mehr in die Insolvenz gehen lassen, obwohl einige sehr schwach sind, möglicherweise sogar überschuldet.55 Zahlreiche Institute wurden vom Staat gerettet, von AIG zwei Tage nach der Lehman-Insolvenz bis zu Bankia in Spanien und Crédit Immobilier in Frankreich im Sommer 2012. Das Prinzip, dass Banken wie alle anderen Unternehmen gezwungen sein sollten, die Konsequenzen ihrer schlechten Entscheidungen selbst zu tragen, scheint der allgemeinen Angst vor einer Systemkrise als Folge einer Bankinsolvenz gewichen zu sein.
Die Entscheidung, Lehman Brothers in die Insolvenz gehen zu lassen, ist seither heftig diskutiert worden.56 Damals schienen die Verantwortlichen zu glauben, ein Bankrott von Lehman werde nicht viel Schaden für das System nach sich ziehen, weil die Schwäche der Bank bereits seit Monaten bekannt war und die Marktteilnehmer genügend Zeit gehabt hatten, sich auf die Insolvenz von Lehman Brothers vorzubereiten. Eine Insolvenz würde zudem die Botschaft vermitteln, dass selbst systemrelevante Finanzinstitute der normalen Marktdisziplin unterworfen sind. Was aber auf die Insolvenz von Lehman Brothers folgte, war schlimmer als alles, was man sich vorgestellt hatte.
Auf die Frage in der Überschrift dieses Abschnitts gibt es keine einfache Antwort. In gewisser Hinsicht ist sie auch unklar, denn die Perspektive, aus der sie gestellt wird, bleibt unklar. Stellt man die Frage als Grundsatzfrage im Vorhinein, ehe es bei einer bestimmten Bank ein konkretes Problem gibt, so wird man antworten: »Selbstverständlich sollte man Banken in die Insolvenz gehen lassen!« Wenn Marktteilnehmer ihren Verpflichtungen nicht nachkommen können, sollten sie in die Insolvenz gehen und reorganisiert oder abgewickelt werden. Wenn dieses Prinzip gilt, wissen alle Personen und Unternehmen, dass sie ihre Probleme im Ernstfall selbst lösen müssen, ohne Aussicht auf eine Rettung durch den Staat.
Die Frage, ob man Banken in die Insolvenz gehen lassen sollte, wird jedoch selten als Grundsatzfrage im Vorhinein gestellt. Zumeist verhält es sich so, dass eine ganz bestimmte Bank in eine Schieflage gerät und die Behörden in der konkreten Situation entscheiden müssen, ob sie die Bank in die Insolvenz oder ein insolvenzähnliches Verfahren gehen lassen oder ob sie es zulassen, dass die Bank weitergeführt wird, möglicherweise mithilfe einer Kapitalspritze aus Mitteln des Staates. In dieser Situation werden die Behörden sich Sorgen darüber machen, welche Kosten eine Insolvenz der Bank dem übrigen Finanzsystem und der Volkswirtschaft aufbürden würde. Handelt es sich um eine kleine, unbedeutende Bank, werden diese Sorgen nicht ins Gewicht fallen. Handelt es sich jedoch um eine große, systemrelevante Bank, so könnte die Furcht vor verheerenden Ansteckungseffekten die Behörden dazu veranlassen, die Bank weiterarbeiten zu lassen. Selbst bei kleinen Banken könnten die Behörden Insolvenzen vermeiden wollen, wenn es sehr viele Banken sind, die zusammen dann doch ins Gewicht fallen. Wenn eine Bank einmal in Schwierigkeiten ist und die Volkswirtschaft großen Schaden zu nehmen droht, dann kann es besser sein, die Grundsätze Grundsätze sein zu lassen und tatsächlich alles zu tun, um den Schaden abzuwenden.
Das vorstehend skizzierte Argument ist ein Beispiel für die allgemeine Problematik der Glaubwürdigkeit von Drohungen. Im Prinzip mag es durchaus wünschenswert sein, Banken damit zu drohen, dass sie in die Insolvenz gehen, wenn sie in eine Schieflage kommen, aus der sie sich nicht mehr befreien können. Ist diese Drohung glaubwürdig, so kann sie Banken zu größerer Vorsicht veranlassen. Jedoch ist die Drohung nicht immer glaubwürdig. Wenn nämlich eine wichtige Bank in eine Schieflage gerät, wird die Regierung im Nachhinein versucht sein, ihre Drohung nicht wahrzumachen, sondern die Insolvenz zu verhindern. Auch das bedeutet, dass die Bank und die für die Bank Verantwortlichen dann nicht die Konsequenzen ihrer Fehler tragen müssen. Ähnliche Glaubwürdigkeitsprobleme stellen sich auch in anderen Zusammenhängen, zum Beispiel bei der nuklearen Abschreckung oder der Weigerung, bei Geiselnahmen Lösegeld zu bezahlen.
Um besser mit diesem Dilemma umzugehen, genügt es nicht, immer wieder den Grundsatz zu bekräftigen, dass man gegebenenfalls auch Banken in die Insolvenz gehen lassen muss. Um die Glaubwürdigkeit dieses Grundsatzes zu stärken, muss man dafür sorgen, dass die Kosten einer Bankinsolvenz für das Finanzsystem und die Wirtschaft überschaubar sind.
In den USA versucht das Dodd-Frank-Gesetz von 2010, die Kosten des Umgangs mit Schieflagen von systemrelevanten Finanzinstitutionen zu senken, indem die Einlagensicherungsbehörde FDIC autorisiert wird, solche Institute im Ernstfall zu übernehmen und gegebebenfalls abzuwickeln.57 Im Zuge dieses Verfahrens kann die FDIC nach eigenem Ermessen die Aktivitäten des Instituts eine Weile aufrechterhalten, die Leitung der Bank auswechseln, die Bank ganz oder in Teilen an Dritte verkaufen oder abwickeln. Als staatliche Einrichtung kann die FDIC jeden Geldbedarf vorübergehend decken, indem sie sich von der US-Regierung Geld leiht, und sie kann den anderen Banken Gebühren abverlangen, um die Kredite der Regierung zurückzuzahlen und zu verhindern, dass die Steuerzahler dauerhaft belastet werden.58 Weil die FDIC Erfahrung im Umgang mit insolventen Banken hat, könnte man hoffen, dass sie auch eine Krise einer systemrelevanten Finanzinstitution meistern kann, ohne dass es einen neuen Schock wie bei Lehman Brothers gibt, sodass die Kosten für das Finanzsystem und die Öffentlichkeit niedriger wären.
Jedoch ist es eine gewaltige Herausforderung, ein großes, komplexes Institut, wie zum Beispiel JPMorgan Chase, Bank of America oder Citigroup, ohne unerträgliche Nebenwirkungen zu reorganisieren oder abzuwickeln. Jede dieser Banken hat Tausende Tochtergesellschaften und andere Untereinheiten, viele davon in anderen Ländern. Nach internationalem Recht würde es für jede rechtlich unabhängige Tochtergesellschaft jeweils in dem betreffenden Land ein eigenes Reorganisations- oder Insolvenzverfahren geben. Wenn das Ganze nicht gleich auseinanderbrechen soll, so erfordert die Reorganisation oder Abwicklung einer solch großen und komplexen Bank, dass die verschiedenen beteiligten in- und ausländischen Behörden ihr Vorgehen eng koordinieren, was sich möglicherweise nicht mit den geltenden Gesetzen der verschiedenen Länder vereinbaren lässt.59
Abgesehen davon, dass die rechtlich vorgesehenen Verfahren in den verschiedenen Ländern abgestimmt werden müssten, müsste man sich der Herausforderung stellen, wie man systemrelevante Aktivitäten während des Abwicklungsprozesses aufrechterhalten könnte. Lehman Brothers zum Beispiel hatte zahlreiche Investmentbanking- und Makleraktivitäten über die Tochtergesellschaft der Bank in London durchgeführt. Als Lehman Brothers Insolvenz anmeldete, gab es separate Insolvenzverfahren in den USA und in Großbritannien. In Großbritannien entdeckten die Behörden schockiert, dass es bei Lehman Brothers London praktisch kein Bargeld gab. Zwar waren die verschiedenen Einheiten von Lehman Brothers jeweils rechtlich unabhängig, doch hatten sie ein integriertes System für das Management ihrer Bargeldreserven. Am Ende eines jeden Geschäftstags in London wurde das gesamte Bargeld an Lehman Brothers in New York transferiert, so auch am Freitag vor der Insolvenz.60 Weil es dann in London kein Bargeld mehr gab, kamen die meisten Aktivitäten von Lehman Brothers London augenblicklich zum Erliegen. Um das zu verhindern, wäre eine Kooperation zwischen der britischen und den amerikanischen Behörden nötig gewesen, die es erlaubt hätte, das integrierte Management der Bargeldreserven eine Zeit lang fortzuführen. Man kann sich allerdings eine derartige Kooperation von verschiedenen Behörden, die die verschiedenen Unternehmenseinheiten eines komplexen Finanzinstituts in verschiedenen Ländern kontrollieren, nur schwer vorstellen.61 Selbst in einem einzigen Land wäre die Kontrolle eines komplexen Finanzinstituts mit zahlreichen Tochtergesellschaften ohne eine Unterbrechung oder Störung wichtiger Aktivitäten eine schwierige Herausforderung.62
Verschiedene Gesetzesinitiativen in den USA, Großbritannien, Deutschland und anderen Ländern haben die Verfahren zum Umgang mit Schieflagen großer, komplexer Finanzinstitutionen etwas verbessert, aber es gibt noch kein internationales Abkommen über ein Verfahren, das eine von Insolvenz bedrohte Bank und ihre Tochtergesellschaften zumindest zeitweise als operative Einheit am Leben erhielte, um größere Schäden vom Finanzsystem und der Wirtschaft abzuwenden. Angesichts des inhärenten Konflikts über die Aufteilung der Verluste und angesichts der Schwierigkeit internationaler Verhandlungen über ein solches Abkommen ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit eine Einigung darüber geben wird.63
Wegen der Komplikationen, die bei der Reorganisation oder Abwicklung der größten und komplexesten Finanzinstitutionen auftreten können, muss man ernsthaft bezweifeln, dass die verantwortlichen Behörden diese Verfahren tatsächlich in Gang setzen würden, selbst wenn eine solche Institution klar überschuldet wäre.64 Das Dodd-Frank-Gesetz in den USA und entsprechende Gesetze oder Gesetzesvorhaben in anderen Ländern verlangen, dass die Banken den Behörden sogenannte »Testamente«, das heißt Notfallpläne für eine geordnete Abwicklung, vorlegen. Jedoch bietet diese Vorschrift keine Gewähr, dass diese Verfahren so reibungslos funktionieren werden, dass Schäden für das Finanzsystem und die Volkswirtschaft vermieden werden können.65 Selbst wenn man den Verfahren vertraut, werden sie wahrscheinlich lange dauern und erhebliche Störungen mit sich bringen.66 Dieses Problem betrifft übrigens nicht nur die größten und komplexesten Finanzinstitute, sondern es kann auch auftreten, wenn eine große Zahl kleiner Banken gleichzeitig in eine Schieflage kommt oder sogar insolvent wird.
Jamie Dimon, der CEO von JPMorgan Chase, hat wiederholt angeregt, dass seine Bank und ähnliche Institute untergehen sollten, wenn sie insolvent werden, und dass die Branche für die Kosten der Abwicklung »großer dummer Banken« aufkommen solle.67 Solche Äußerungen machen sich gut, müssen aber mit Skepsis betrachtet werden. Da ein Großteil der Vermögenswerte von JPMorgan nicht aus Krediten, sondern aus handelbaren Wertpapieren besteht, ist die Bank sehr stark dem Auf und Ab der Märkte ausgesetzt.68 Zudem hält sie gewaltige Derivatepositionen und kurzfristige Kredite, durch die sie mit anderen Finanzinstituten weltweit vernetzt ist. Nach einer Analyse der Bank selbst könnte ein Verlust von 50 Milliarden Dollar bei Wertpapieren einen Run auslösen, der die Finanzierung der Bank bedroht und Panikverkäufe erzwingt, die weitere Verluste und möglicherweise eine Finanzkrise zur Folge hätten.69 Außerdem lässt Mr. Dimon mit seiner Anregung, Großbanken im Zweifelsfall bankrottgehen zu lassen, die potenziell verheerenden Auswirkungen einer Bankinsolvenz auf das Gemeinwesen außer Acht. Der Kollateralschaden, einschließlich der Dominoeffekte und etwaiger Störungen der Kreditvergabe der Banken und der allgemeinen Wirtschaftstätigkeit, würde wahrscheinlich selbst dann ganz erheblich sein, wenn die direkten Kosten der Insolvenz oder der Reorganisation der Bank von den Anlegern oder den anderen Banken getragen würden.
Die vorstehenden Bemerkungen zeigen, dass wir uns in einer sehr schlechten Lage befinden. Banken können dem Gemeinwesen großen Schaden zufügen. Wenn eine große Bank zahlungsunfähig oder insolvent wird, können die Ansteckungseffekte verheerend sein. Die Kosten einer Bankenrettung können ebenfalls sehr hoch sein. Und wenn Banken gerettet werden, obwohl sie überschuldet sind, leidet die Wirtschaft womöglich trotzdem, weil Banken in Notlagen dazu neigen, schlechte Kreditentscheidungen zu treffen, die Innovation und Wachstum behindern können.70 Wenn Banken im Vorhinein damit rechnen, dass sie gerettet werden, ist auch dies schädlich, denn dann können sie sich veranlasst sehen, noch höhere Risiken einzugehen, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie in Schwierigkeiten kommen und letztlich die Volkswirtschaft schädigen.
Die Entwicklung von Verfahren, um Banken abzuwickeln, ohne die Wirtschaft in Mitleidenschaft zu ziehen, ist vergleichbar mit der Entwicklung von Notfallplänen für Erdbeben oder andere Naturkatastrophen: In beiden Fällen geht es um Schadensbegrenzung. Jedoch sind Finanzkrisen etwas ganz anderes als Erdbeben. Beides zusammenzuwerfen mag für die Banker attraktiv sein, führt aber in die Irre.71 Während wir kaum etwas tun können, um Erdbeben zu verhindern, können wir sehr viel tun, um die Wahrscheinlichkeit von Finanzkrisen zu senken. Die folgenden Kapitel werden zeigen, dass die Fragilität des Finanzsystems weder naturgegeben noch nützlich ist, sondern dass sie sich durchaus drastisch reduzieren lässt. Und wir können das Finanzsystem sicherer und gesünder machen, ohne dafür etwas von dem Nutzen opfern zu müssen, den die Banken der Volkswirtschaft bringen.