Die Eheleute Berger sind Menschen, für die Kalk im Normalfall eine transparente Person wäre. Sie würden durch ihn hindurchsehen, ihn nicht bemerken, seine Bedürfnisse wären ihnen egal, seine Gefühlsregungen vielleicht sogar unangenehm. Höchstens die Montage von Deckenleuchten oder die Funktionen einer Einbauspülmaschine würden sie sich von ihm erklären lassen, so sie zufällig in seinen Laden geraten wären.
Melanie und Michael Berger. Klingt wie ein Schlagerduo. Daneben die Kinder. Eines davon lebt nur wegen ihm weiter, das andere stochert desinteressiert in einem Haufen Spaghetti herum. Das Leben noch so vage vor sich zu haben, diese Vorstellung rührt Kalk plötzlich. Die Möglichkeit tausender Entscheidungen, die er schon getroffen hat. Die Richtungen, in die er schon abgebogen ist. Die Erinnerung an diese Entscheidungsfreiheit, daran noch ganz am Anfang zu stehen, ergreift Kalk auf eine Art, die er nicht für möglich gehalten hätte. Schön ist das. Kinder, diese verdammten kleinen Wunder.
Kalk hat auf die Empfehlung Michael Bergers den in Knoblauchbutter geschwenkten Tintenfisch bestellt, dazu einen 2017er Weißwein, einen Sauvignon Blanc aus Südtirol, der in der Karte als extreem fruitig angekündigt wurde. Die Gespräche tröpfeln anfangs ein wenig schüchtern und abtastend daher, immer wieder wird Kalks Mut thematisiert, aber auch Michael Bergers Unachtsamkeit. Die Bergers berühren ihre Kinder unablässig. Streicheln ihre kleinen Köpfe, tätscheln ihre schmalen Rücken. Korrigieren deren Haltung und deren Art zu essen. Das alles geschieht in einer betont freundlichen Art.
Melanie Berger hat ein Puten-Cordon bleu bestellt, ihr Mann ein Steak. Sie essen beide mit einer sinnlichen Eleganz, die Kalk nicht hinbekommen würde. Im Nu ist er beim dritten Weißwein angelangt. Extreem fruitig, allerdings. Die Bergers trinken beide Bier. Bislang hat der Alkoholkonsum das Gespräch nicht gelockert.
»Und was machen Sie beruflich, Herr Kalk?«
Kalk erkennt seine Chance. Diese Leute kennen ihn nicht. Warum nicht mal die Wahrheit ein wenig ausschmücken?
»Ich bin Inhaber einer großen Elektroartikelfirma. Groß- und Einzelhandel.«
Warum er lügt, kann er nicht mit Bestimmtheit sagen. Die Situation scheint es zu verlangen. Es funktioniert, es hat keine Konsequenzen.
»Interessant«, sagt Michael Berger, »dann arbeiten wir ja beide im Energiebereich.«
»Kann man so sagen«, antwortet Kalk.
Er fragt sich, ob er das Leben, das er da gerade beschreibt, wirklich haben möchte. Es macht ihm in diesem Moment Spaß, eine alternative Version seiner Existenz zu erfinden. Warum auch nicht?
»Haben Sie auch Kinder?«, will seine Frau wissen.
»Ja, drei, mein ältester Sohn arbeitet auch in meiner Firma, Juniorchef quasi, meine Tochter lebt in den USA und arbeitet an der Börse und mein jüngster Sohn ist so ein wenig mein Problemkind, der will Soldat werden.«
Zumindest das mit Fynn stimmt, außer der Tatsache, dass es sich bei ihm nicht um Kalks Sohn handelt.
»Bei derzeitiger politischer Weltlage ist das natürlich ein Risiko«, wirft Berger ein und trinkt einen Schluck Bier.
Die Art, wie er trinkt, erinnert Kalk an einen Hund, der gierig Wasser aus einem Napf schlabbert.
»Wieso will er das tun?«, fragt Melanie.
Kalk zögert und wischt sich mit der Serviette den Mund ab, obwohl er das schon dreimal zuvor getan hat. Sicher ist sicher und sauber ist sauber.
»Ich glaube, er möchte gern ein Opfer bringen. Und zwar, indem er Verantwortung übernimmt. Das scheint ihm sehr wichtig zu sein.«
»Verstehe. Aber warum ist das ein Problem für Sie? Das klingt doch alles sehr plausibel.«
»Fynn ist manchmal ein wenig naiv. Auch noch etwas unreif und solch eine Entscheidung hat ja eine gewisse Tragweite. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es sich für ihn anfühlt, wenn er wirklich ein Kriegsgebiet betreten muss.«
»Will er das denn?«
Melanie Berger hat wieder diese mütterliche Sorge in ihrem Blick, was Kalk aufwühlt.
»Ich glaube, ja. Mein Sohn ist nicht mal ein Patriot oder so was. Er denkt einfach, dass es Zeit ist, ein Vorbild für andere zu werden. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis. Es ist aber noch keine endgültige Entscheidung gefallen.«
»Ich glaube, Sie sollten ihn einfach machen lassen.«
Machen lassen, klar. Ich will dich mal sehen, wenn dein Kind, das ich heute aus der Nordsee gezogen habe, in den Krieg ziehen will.
Kalk beißt die Zähne zusammen, um diesen Satz nicht laut auszusprechen, schafft es aber, ein freundliches Gesicht zu bewahren.
Berger gibt dem Kellner ein Zeichen, eine weitere Getränkerunde aufzutischen.
Kalk denkt an Fynn, seinen jungen, zielgerichteten Blick, seinen Willen, seine Jugendlichkeit. Seine akzentuierte Sprache. An seine Intelligenz und seine Emotionalität. Zuletzt auch an seinen Humor. Ein Junge, der nicht einfach so sterben sollte, nur weil er eine falsche Entscheidung getroffen hat.
»Ich bleibe mit ihm im Gespräch.«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland alsbald in irgendeinen Krieg eintritt, ist ja auch sehr gering.«
Michael Berger hat schon wieder dieses gierige Hundegesicht, als er den Kellner mit den Getränken kommen sieht und greift sofort nach seinem Bierglas.
»Auf Sie, Herr Kalk, ich wünsche Ihnen, dass Ihr Sohn genauso ein Held wird, wie Sie es heute geworden sind.«
Die aggressive Feierlichkeit in seiner Stimme übertönt kurz alle anderen Nebengeräusche im Restaurant.
Die Bergers sehen ihn beide bewundernd an und erheben ihre Biergläser, während ihre Kinder über den jeweiligen Tellern ermüden.
»Die müssen bald mal schlafen.«
Melanie streichelt wieder beide Köpfe. Den Kindern fallen in der Tat die Augen zu. Sie werden unruhig und beginnen unartikuliert zu quengeln.
»Herr Kalk, was halten Sie davon, wenn wir unser Treffen verlagern? Ich habe noch ein paar kalte Bier in der Kühlbox am Zelt, außerdem noch eine gute Flasche Wein. Dann können wir die Kinder ins Bett bringen und uns noch ein bisschen unterhalten. Was meinen Sie, Herr Kalk?«
Michael Berger lässt einen letzten Schluck Bier seine Kehle heruntergleiten und drückt die Hand seiner Frau. Kalk ist sich nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee ist, oder ob dieser Abend nicht einfach hier enden sollte. Aber er hat bereits ein paar Weißwein getrunken und die Bergers sind ja keine unangenehmen Gesprächspartner. Die Kinder werden ohnehin schlafen gelegt und außerdem ist Urlaub. Wo sollte er auch sonst hin?
»Sehr gerne.«