Ockenburgh

Es ist bereits dunkel, als die Bergers in Begleitung von Kalk auf den Strand hinauslaufen. Nochmal kurz die Beine vertreten wolle man sich nach diesem reichhaltigen Essen. Kalk folgt der Familie Berger, deren acht Füße unterschiedlich große Spuren im Sand hinterlassen. Sie haben das Pavarotti verlassen, nachdem Michael Berger den Kellner mit einem großzügigen Trinkgeld bedacht hat. Dieser hat daraufhin nach einem umfangreichen italienischen Freundlichkeitsreigen einen Schnaps aufs Haus angeboten und den Kindern kleine Gummibärchentüten geschenkt. Der angebotene Schnaps hat nach gesüßtem Spül­mittel geschmeckt.

Die Kinder, zunächst mürrisch, weil müde, fanden den Vorschlag, noch eine Runde am Strand spazieren zu gehen, dann doch gut und sind mit ihrem Vater Richtung Wasser gerannt, in die schattierte Dunkelheit hinein. Kalk ist einfach stehengeblieben, hat bemerkt, wie der Alkohol in ihm arbeitet und zwar nicht zu seinen Ungunsten. Es geht ein leichter Wind, der sein Gemüt erfrischt. Melanie ist noch ein paar Schritte mitgelaufen, dann aber umgekehrt und hat sich wortlos mit auf das Meer und in die Dunkelheit gerichtetem Blick neben Kalk gestellt. Die beiden haben den Schatten Michael Bergers verfolgt, der seit heute Nachmittag bestrebt ist, der vorsichtigste Vater der Welt zu sein. Die beiden Kinder quieken so vergnügt wie fröhliche Ferkel beim fairen Biobauern und ihr Vater gibt klare Anweisungen zum Abstand, den man vom Wasser halten soll. Nach einer kurzen Quengelphase ist aber auch dieser aufgehoben worden. Man sieht drei nebeneinanderstehende Umrisse, wie sie sich an den Händen halten und über niedrige Wellen springen.

»Nur mit den Füßen Papa, bitte.«

»Na gut, aber bleibt an meiner Hand.«

Melanie Berger streift mit ihrer Hand zufällig Kalks Oberschenkel, was sich dann aber doch nicht als Zufälligkeit herausstellt, als sie mit ihren Fingern seine Hand umschließt. Ihr Mann und ihre Kinder sind ungefähr 400 Meter entfernt und nur schemenhaft in der Dunkelheit erkennbar. Das Meer ist fast unsichtbar. Kalk erstarrt und atmet ganz flach. Vielleicht ist das alles doch nur ein Irrtum?

»Sie sind ein guter Mann«, sagt Melanie leise in die Meeresgeräusche hinein.

»Kann sein«, antwortet Kalk flüsternd.

Seine Stimme ist für ihn selbst kaum wahrnehmbar, sie fühlt sich an, als würde ein anderer sie benutzen und als würden die Worte im Wind in ihre Buchstaben zerfallen.

Erneut huscht die Hand von Melanie Berger über seinen Unterleib und sie stellt sich vor ihn hin und küsst ihn. Aufgrund der fordernden Zunge an seinen Lippen öffnet er zaghaft seinen Mund. Melanies Kuss erinnert an ein ausgehungertes Raubtier, dem man einen Brocken rohes Fleisch hingeworfen hat. Kalk versucht die Situation vergeblich einzuschätzen, also lässt er es geschehen, dass Melanie Berger sich an ihm zu schaffen macht. Die Kinder kreischen. Das Ganze dauert weniger als 20 Sekunden. Kalks Herz pumpt wie verrückt.

»So, Schuhe an und zurück.«

Michael Berger und seine beiden Kinder werden zu sich nähernden Schatten.

Blitzschnell lässt Melanie mit einem Schritt zur Seite wieder die übliche Distanz entstehen, die Fremde wahren sollten. Sie steht neben Kalk, als habe es die letzte Minute nie gegeben. Als ihr Mann mit den Kindern an jeweils einer Hand zu ihnen aufschließt, küsst sie ihn kurz routiniert auf den Mund und wuschelt durch die Haare der Kleinen.

»Und wie war es?«, fragt sie.

»Das Wasser war ganz kalt«, sagt Milo.

»Stimmt gar nicht«, antwortet seine Schwester.

»Dann kommen Sie mal, Herr Kalk, auf nach Ockenburgh.«

Sie verlassen den Strand nach ein paar hundert Metern. Kalk folgt der Familie Berger, von denen die Eltern nun jeweils ein Kind an der Hand haben, da der kindliche Streit über die Temperatur des Wassers einfach nicht hat aufhören wollen.

Gemeinsam gehen sie über die Dünen, bis ein Schild das Campinggelände Ockenburgh ankündigt. Die Schranke der Durchfahrt für Fahrzeuge ist geschlossen und es sind nur noch wenige Menschen auf den schmalen Pfaden des Campinggeländes unterwegs. Kalk sucht irgendein Gefühl, das dieser Ort in ihm auslösen könnte, aber auch für das, was gerade passiert ist. Er findet nur eine leicht euphorisierende Stimmung in sich vor. Wahrscheinlich ist das der Weißwein, der ja die Fähigkeit besitzt, Traurigkeit, Unwissenheit und Verwirrung gleichermaßen zur Seite zu schieben.

Sie laufen über schmale Pfade durch die Siedlung aus Zelten und Wohnwagen.

»Hier ist es«, sagt Michael Berger voller Stolz, als ob es sich bei seiner Parzelle um einen besonderen Ort handeln würde. Kalk nickt langsam, was Berger als Anerkennung zu deuten scheint.

Kurz darauf sitzen sie unter dem Vordach eines modernen Zeltes. Melanie hat sich sofort daran gemacht, ihre nunmehr stillen, weil endlos müden Kinder ins Innere des Zeltes zu betten. Währenddessen kommt Michael Berger mit drei 0,5-Liter-Flaschen der Marke Grolsch aus dem Reißverschlusseingang geschlüpft und stellt sie auf einen weißen Kunststofftisch.

»Das hat mein Vater auch immer getrunken, als wir hier in Ockenburgh waren.«

Kalk bemerkt, dass Berger ebenfalls leicht angetrunken und mindestens genauso euphorisch ist. Von dem Vorfall am Strand scheint er nichts mitbekommen zu haben. Kalk erinnert sich kurz an Melanies fordernde Zunge in seinem Mund. Wie gierig sie dort herumfuhrwerkte.

»Meiner tatsächlich auch«, antworte er.

»Wohlsein«, sagt Berger und die beiden Männer öffnen fast synchron die Metallbügelverschlüsse der Bierflaschen und lassen sie gegeneinanderklonken.

»So, die Kinder sind echt kaputt, die schlafen garantiert bis Mittag durch«, sagt Melanie Berger, als sie zaghaft den Reißverschluss des Zelteingangs herunterzieht. Sie hat sich einen Pullover angezogen und setzt sich gegenüber von Kalk neben ihren Mann, der direkt seine Hand auf ihrem Oberschenkel ablegt. Ihre Mimik ist in der Dunkelheit schwer zu entschlüsseln.

»Und wie lange bleiben Sie noch in Kijkduin, Herr Kalk?«

»Noch ungefähr zehn Tage.«

»Und dann direkt wieder arbeiten oder erstmal zu Hause akklimatisieren?«

»Ja, ich achte schon darauf, dass zwischen Rückkehr aus dem Urlaub und Arbeitsbeginn noch ein paar Tage liegen. Es ist echt brutal aus der totalen Erholung wieder in den normalen Berufsalltag zu kommen.«

Trinken.

Schweigen.

Trinken.

Weiterschweigen.

Wie schnell man sich schon nichts mehr zu erzählen hat, selbst nach einem ereignisreichen Tag wie diesem. Sie sind ja auch Unbekannte, die nichts voneinander wissen. Man könnte über die politische Weltlage reden, aber wozu sollte das führen? Selbst nüchtern hat Kalk selten konkrete Haltungen, die ihn zu ebenso konkreten Handlungen führen würden. Er hat sich angewöhnt, still zu zweifeln, ohne zu verzweifeln. Er ist ein totaler Abwägetyp geworden. Die Stille am Tisch betrübt Kalk trotzdem.

»Spielen Sie Tischtennis?«, fragt er die Eheleute Berger, ohne einen bestimmten von ihnen zu meinen oder anzusehen.

Michael Berger antwortet als Erster.

»Nein, also, ich halte mich mit Joggen fit. Als Jugendlicher habe ich mal Tischtennis gespielt, Rundlauf im Ferienlager. Das hat aber irgendwie schnell seinen Reiz verloren, weil ich nicht gut genug war.«

Mit etwas aufhören, weil man nicht gut genug ist. Wenn sich diese Haltung durchgesetzt hätte, wäre der Mensch wahrscheinlich immer noch ein angstbesessener Höhlenbewohner. Kalk spürt, wie Michael Bergers psychische Schwäche und innere Unsicherheit wie Zahnpasta aus der Tube über den Campingtisch gequetscht wird. Aber er hatte heute auch einen harten Tag als Versagervater, den er erstmal verarbeiten muss.

Seine Frau Melanie füllt die plötzliche Stille.

»Ich spiele sehr gern. Wenn ich meinen Mann mit meinen Kindern allein lassen könnte, würde ich ja mal ein Match mit Ihnen machen, Herr Kalk.«

»Wie, du spielst Tischtennis, wusste ich ja gar nicht. Und was soll das denn heißen? Ich habe mich doch mehrfach entschuldigt, Melanie, irgendwann muss auch mal gut sein. Ich kann gut für unsere Kinder sorgen. Ernsthaft.«

Wütend stellt er mit einem Poltern seine Bierflasche auf den Tisch. Er artikuliert sich in einer Lautstärke, die seiner Unsicherheit eine Tonlage und ein Gesicht gibt und schaut anschließend zu Kalk. Berger versucht, ein Lächeln zu simulieren, obwohl es dazu keinerlei Anlass gibt. Beschwichtigung ist diesem Gesicht das größte Anliegen. Vielleicht sucht Berger auch in Kalk einen Verbündeten. Kalk hingegen lehnt diese Verbundenheit ab.

»Wie wäre es mit morgen Nachmittag?«

»Morgen Nachmittag wollen wir einen Ausflug machen. Mit den Kindern durch die Dünen zum Leuchtturm.«

Kalk glaubt, dass Michael Berger nicht schreien wollte. Aber er hat es getan, er hat sich dadurch selbst Schwäche attestiert.

»In Ordnung«, sagt Kalk, keineswegs so, als ob wirklich irgendwas in Ordnung wäre, »übermorgen sind wir ja alle auch noch hier.«

Er trinkt einen Schluck Bier und beschließt, die Bergers in diesem entstandenen Unbehagen allein zu lassen.

»Ich kann Ihnen ja meine Nummer geben und wir machen was für die nächsten Tage aus«, sagt Kalk in aller Ruhe. »Ich habe hier in der Nähe auch schon einige Platten gesehen, wo man sich auch Schläger und Bälle leihen kann.«

»Ja, gern. Mein Handy hat gerade keinen Akku. Können Sie mir bitte ihre Nummer aufschreiben?«

Melanie Berger verschwindet im Zelt, um Zettel und Stift zu holen. Als sie kurz darauf mit einem Kniffel-Zettel und einem Bleistift zurückkehrt, erkennt Kalk das ganze Ausmaß des langweiligen Familiendilemmas. Er notiert seine Handynummer auf Höhe der Chance, nur um dem Ganzen noch einen theatralischeren Anstrich zu geben.

Die versteckten Bruchstellen einer Ehe, wie gern Kalk sie ansieht.

Er trinkt aus und gibt Michael Berger die Hand, der dafür nicht aufsteht. Schlaff in sich zusammengesunken murmelt er eine Abschiedsformel.

»Sie finden zurück?«, fragt er Kalk.

»Ja, ich habe Zeit. Danke für das Bier.«

Die hat er wirklich. Ohne sich umzublicken, läuft er den Weg zurück, über den sie hergekommen sind. Er passiert die Schranke, von dort aus geht er über die Dünen und dann geradeaus, bis das NH Atlantik sichtbar wird. Am Strand ist niemand mehr unterwegs. In der Ferne bellt ein heiserer Hund.

Im verspiegelten Aufzug grinst er sich an, hat gute Laune, sein Gegenüber scheint jemand zu sein, dessen Leben erfolgreiche Bahnen nehmen könnte, selbst in diesem Alter. Jemand, der sein Leben im Griff zu haben scheint. Der Alkohol, die Spiegelung, die gute Seeluft da draußen, all das stimmt Kalk glücklich. Er setzt sich noch eine Weile auf den Balkon. Die Wellen flüstern.