Melanie Berger hat sich nicht mehr gemeldet. Vielleicht war die Begegnung auch nicht so nachhaltig für sie, wie Kalk es sich insgeheim erhofft hat. Aber warum dann diese Zärtlichkeit? Warum das ganze Spiel? Warum die Patzigkeit gegenüber ihrem Mann in seiner Gegenwart? Interpretiert Kalk das falsch oder über?
Vorhin im Aufzug hat er sich eingebildet, der Spiegel wüsste, was er denkt, und würde ihn aus diesem Grund in einer nie gekannten Hässlichkeit abbilden. Kaum in der Lobby angekommen, ist er einem Impuls folgend zurück in den Aufzug gestiegen und wieder hochgefahren. In seinem Hotelzimmer hat er sich sein Buch gegriffen. Titel und Autorenname hatte er nicht weiter beachtet, er wusste nur, es liegt dort zwischen seinen Polohemden und seinen T-Shirts.
Der Roman hieß Die finstere Einfahrt, Autor war ein gewisser Mikel Bragström. Ein Thriller. Der Klappentext las sich wie folgt:
Pascal Reller fährt in den Urlaub in der Nähe der Stadt Växjö, um dort zur Ruhe zu kommen. Nach seiner Scheidung, dem Hausverkauf und einem Streit mit seiner ältesten Tochter mietet er sich dort für 14 Tage ein Ferienhaus. Aber schon bei der Ankunft bemerkt er, dass irgendetwas nicht stimmt. Mysteriöse Nachbarn, okkulte Symbole und wild gewordene Tiere lassen ihn bald an seinem Verstand zweifeln. Wird es ihm gelingen, aus dieser Vorstadthölle zu entkommen? Und was hat es mit dieser geheimnisvollen, unbeleuchteten Einfahrt auf sich? Reller bemerkt schnell, dass das alles etwas mit seiner Ex-Frau und seiner Tochter Sandrine zu tun hat.
In der Buchhandlung hatte er hektisch danach gegriffen, nach diesem Roman, in dessen Hauptfigur er sich wiedererkannte. Zuvor hatte Kalk ein paar Buchcover angesehen, las ein paar Klappentexte. Das Verkaufspersonal anzusprechen kam ihm aber nicht in den Sinn. Zu groß war die Angst, dass einfach nichts von dem, was hier angeboten wurde, zu ihm passen könnte. Wenn man selbst nach eingehender Beratung für kein Buch zu erwärmen ist, könnte das Gefühl aufkommen, mit einem stimme etwas nicht.
Fünfzig Wochen im Jahr hat man gute Ausreden dafür, keine Zeit zum Lesen zu finden. Der Alltag muss funktionieren, die Zeit und Muße ein Buch zu greifen, wird meist von anderen Freizeitaktivitäten, die weniger Mühe kosten, verdrängt. Kalk erinnert sich an seine Mutter, die im Urlaub entweder einen Roman oder einen Haufen Zeitschriften las, was sie zu Hause nie tat. Selbst sein Vater, dem Geschriebenes und dessen Wirkung immer egal waren, versuchte es zu Beginn des Urlaubs stets mit Unterhaltungsliteratur, die er dann aber nach zwei bis drei Tagen erschöpft zur Seite legte, um sich komplett dem Herumliegen in der Sonne hinzugeben. Aber immerhin hatte er es versucht und alle hatten gesehen, dass er es versucht hatte.
Kalk entschied sich also für Die finstere Einfahrt. Der Autor Bragström war auf dem Umschlag abgebildet. Er stützte sein ausdrucksstarkes Kinn auf seine ebenso ausdrucksstarke Faust, den Blick provokant gen Kamera gerichtet. Komischerweise gewann er damit Kalks Vertrauen, denn er dachte, dass ein Schriftsteller, der ihm ein paar spannende Tage mit seinem Roman verspricht, genau so auszusehen hat. Der stumpfe Blick der jungen Kassiererin und die lieblose Art, mit der sie das Buch zusammen mit dem Kassenzettel in eine kleine Tüte stopfte, störten ihn nicht. Der Slogan Urlaubszeit ist Lesezeit prangte über der Kassenzone.
Jetzt ist er mit der Einfahrt unterwegs in den Dünen. Auf der Strandpromenade hat er sich eine Frikandel gegönnt. Sie schmeckt immer noch wie in seiner Kindheit. Die Rezeptur der Fleischmasse, der salzige Meeresgeruch, die manchmal konturlosen Erinnerungen an eine familiäre Harmonie, das alles stimmt Kalk fröhlich. Es ist der gleiche Grund, aus dem er manchmal in Imbissbuden sitzt und sich eine Currywurst mit Pommes gönnt, während er versonnen aus dem Fenster schaut und daran denkt, wie unbeschwert es damals als Kind mit der Familie war, wie viel Freude in dieser kulinarischen Ausnahme lag.
Kalk streunt durch die Dünen, die Gräser wiegen sich gelassen im Wind, die Sonne heitzt die Atmosphäre auf, ab und an kommen ihm Passanten entgegen. Hier und da bellt ein Hund. Beim Weitergehen entdeckt Kalk ein Schild, das er schon als Kind lustig fand.
Toegestaan voor fietsen, verboden voor bromfietsen.
Erlaubt für Fahrräder, verboten für brummende Fahrräder, hier dargestellt durch das Piktogramm eines Mofas. Kalk erinnert sich, wie lustig er das Wort bromfietsen fand und wie lustig es auch sein Vater fand, der dann bei jedem Kontakt mit diesem Schild in den Dünen das Motorengeräusch eines Mofas simulierte.
In seiner Hosentasche summt Kalks Handy. Nachricht von Nina.
Fynn flippt total aus. Kannst du bitte mit ihm reden? Er will übermorgen den Vertrag unterschreiben. Ich will nicht, dass mein Junge in den Krieg zieht. Bitte ruf ihn an. Deine Nina
Klar, meine Nina, denkt sich Kalk. Er antwortet nicht. Er wüsste auch nicht, was er dazu sagen sollte. Er möchte nichts versprechen. Niemandem. Vor allem nicht Nina. Soll sie ihre Familienangelegenheiten selbst klären. Oder wie wäre es, wenn der Vater mal Verantwortung übernähme? Seine Beziehung zerstören konnte er ja auch, vielleicht sollte man ihn lieber in den Krieg schicken, um mal zu sehen, was wirkliches Elend ist. Ein paar gezielte Granatenwürfe in seine Richtung würden ihm schon Demut beibringen. Kalk bemerkt, wie sich sein Puls beschleunigt. Es ist heiß, trotzdem beschleunigt er seine Schritte, geht immer tiefer in die Dünenlandschaft hinein.
Er setzt sich auf eine Bank, kein Mensch ist in Sicht, da summt sein Smartphone erneut. Bestimmt schon wieder Nina. Kalk sieht sich schon, wie er sein Telefon, dieses gottverdammte, stresserzeugende Endgerät mit seinen dümmlichen Hiobsbotschafen, Gefühlsfragmenten und Handlungsanweisungen, einfach so auf dem Dünenweg zertritt. Möge anschließend noch ein Bromfiets darüberbrettern.
Kalk sieht sein Telefon an. Eine unbekannte Nummer. Mit deutscher Vorwahl.
Hallo Herr Kalk, ich ergreife jetzt mal die Chance und würde mich sehr freuen, wenn es zu einem Tischtennismatch zwischen uns kommt. Ich trainiere bereits hart und freue mich auf ein Wiedersehen. Sagen Sie einfach Bescheid, wann es Ihnen passt, ich nehme mir dann Zeit. Melanie B.
Kalk hört sich selbst laut lachen. Sie scheint komplett verstanden zu haben, was er meinte, worauf er hinauswollte. Wahnsinn. Jetzt darf er keinen Fehler machen. Lieber etwas später antworten, das macht ihn wahrscheinlich noch begehrenswerter. Unerreichbarkeit produziert immer mehr Interesse, das kennt er von Menschen, die sich bei ihm Zeit lassen. Melanie Berger hat schon alles vorbereitet. Sie hat eine Rampe in die Zukunft gebaut. Und die Tatsache, dass sie ihren Nachnamen abkürzt, spielt Kalk gedanklich in die Karten. Für ihn ist das eine mehr als auffällige Distanzierung von ihrem Ehemann. Deutlicher geht es kaum. Niemand, der einen Namen gerne trägt, würde ihn abkürzen. Kalk hat sich selbst auch noch nie einfach K. genannt, er wüsste nicht, warum. Diese Ehe ist also kaputt, die Gründe dafür sind Kalk egal, aber insgeheim wünscht er sich, zumindest das sprichwörtliche Zünglein an der Waage gewesen zu sein.
Die erste Seite des Romans verschwimmt vor Kalks Augen, weil er gleichzeitig versucht, den richtigen Zeitpunkt und die richtige Formulierung für eine Antwort herauszufinden. Der Autor schreibt:
Es war ein langer, heißer Julinachmittag. Die Sonne hing am Himmel wie ein Gemälde, das bis in Pascal Rellers Auto hineinragte. Es waren noch 87 Kilometer bis Växjö, dort kannte er ein gutes Café, in dem er eine Pause einlegen wollte. Er hatte Zeit, er musste durchatmen. Es war wirklich wichtig, dass er wieder zu Kräften kommen würde, einen Burnout oder Ähnliches konnte er sich nicht leisten. Er musste funktionieren. Für seine Tochter, für die Firma, ja, letztendlich vor allem für sich.
Kalk würde jetzt schon gern das Buch weglegen, es unauffindbar machen oder es zufällig verlieren. Er liest trotzdem weiter.
Er dachte an die gemeinsame Zeit mit Silvia und wie oft sie diesen Weg hier gemeinsam gefahren waren. Meistens aber sind sie nur bis Sansbro oder Holstorp gekommen. So weit im Norden waren sie nie. Und seitdem Sandrine auf der Welt war, erst recht nicht.
Ein paar Möwen kreischen und kreisen über ihm und Kalk verfolgt ihren Flug. Über dem Mülleimer neben der Bank surren ein paar Wespen. Er überspringt ein paar Seiten und macht auf Seite 12 weiter.
Catharine ist die beste Wirtin, die man sich vorstellen kann. Die Aufmerksamkeit in Person. Aus dem Augenwinkel bekommt sie scheinbar jedes Bedürfnis ihrer Gäste mit. Wie sie aber herausgefunden hat, dass Reller eine Laktoseintoleranz hat und ihm deswegen Sojamilch neben seinen Kaffee gestellt hat, erschließt sich ihm nicht. Mit ihrem leicht hüpfenden Gang, dem weißen Häubchen und ihrem schwarzen Minikleid sieht sie aus wie eine Darstellerin aus einer Softerotik-Filmproduktion der 70er-Jahre. Auch ihr Gesicht ist verheißungsvoll. Bevor Pascal Reller einen zweiten Kaffee bestellen kann, hat sie ihm schon einen hingestellt. Er fragt sich nicht warum, sondern akzeptiert die Wunder, wie sie ihm passieren. Wer weiß, wie oft ihm noch Wunder passieren?
Diese schrägen Männerfantasien kann Kalk durchaus nachvollziehen, dieser Pascal Reller scheint Ähnliches durchzumachen wie er selbst. Trotzdem hat er nicht die Geduld, einfach so weiterzulesen. Wieder überspringt er ein paar Seiten und landet auf Seite 89.
Was hatte noch gleich der Hausmeister gesagt? Wo war noch gleich dieser Sicherungskasten? Silvias Worte, die vor der Trennung ausdrückten, was für ein Versager er war, hallten in seinem Kopf wider und wider. Nicht mal das konnte er. Völlige Finsternis umschloss ihn. Er lief ein paar Schritte, kam an der Wand an, tastete sich zur Tür, von dort den Flur entlang. Plötzlich war für den Bruchteil einer Sekunde alles strahlend hell, als ob die Sicherung ihre Funktion wieder aufgenommen hätte, und Pascal schien es, als stünde am Ende des Flurs eine Gestalt.
»Hallo«, sagte er zaghaft in die Dunkelheit. Niemand antwortete. Da war nur Stille. Pascal hörte sein Herz wummern. Zögernd ging er weiter den dunklen Flur entlang. Richtung Haustür.
War der Sicherungskasten außen?
An der Fassade?
Oder im Keller?
Hatte der Hausmeister überhaupt darüber gesprochen?
Pascal stieß mit dem linken Fuß an ein am Boden liegendes, weiches Objekt, das seitlich nachgab. Er riss die Haustür auf, in der Einfahrt stand sein Wagen. Auch den musste er ertasten, so finster war es. Pascal öffnete die Autotür und machte das Standlicht an, das in den Flur leuchtete. Das erste Licht seit ungefähr 20 Minuten. Das auf dem Boden liegende Ding war von hier nicht zu erkennen und Pascal ging darauf zu. Beim Näherkommen sah er, dass es sich um einen leblosen Fuchs handelte. Er erschrak.
Sein summendes Handy holt Kalk aus dem Lesefluss, obwohl er auch froh ist, dass er unterbrochen wurde. Seltsames Buch. Die Nachricht ist von Fynn.
Hey Kalki, meine Mutter macht Schwierigkeiten, kennst das ja. Können wir mal reden?
Dieses Kalki-Ding hatte sich so eingespielt bei Fynn und ihm. Der Junge hat natürlich bemerkt, wie die Beziehung zwischen seiner Mutter und Kalk langsam zerbröckelte. Und er meinte diesbezüglich, er wäre auf jeden Fall Team Kalki, weil er ja wüsste, welchen mentalen Unrat seine Mutter mit sich rumschleppen würde. Durch Fynn lernte Kalk seine Freundin intensiver kennen als durch Nina selbst. Eigentlich ein Armutszeugnis, aber wo Kalk die ganze Zeit noch dachte, dass sich durch Liebe und Beständigkeit schon alles zum Guten wenden würde, wusste Fynn bereits durch lebenslange Erfahrung mit seiner Mutter, dass am Ende des Weges nur Schmerz, Elend und Scheiße warten würden. Da aber auch er Kalk liebgewonnen hatte, wollte er ihn nicht desillusionieren und gönnte den beiden das unwahrscheinliche Glück. Er wollte nicht vorgreifen, eine konkrete Warnung vor der eigenen Mutter auszusprechen, das würde ebenso kein gutes Bild auf ihn selbst werfen und so tat er ahnungslos, wusste aber, dass seine Mutter eine bindungsgestörte Frau war, die seinem echten Vater hinterherlief, der gelegentlich auch Ninas Nähe suchte, ansonsten aber unsichtbar blieb. Das alles sagte er Kalk erst, als die Trennung vollzogen und die Situation hoffnungslos ruiniert war.
Auch Fynn mochte seinen Vater nicht, kannte ihn kaum. Während der ganzen Kindheit war er schließlich abwesend und machte aus Fynn einen risikofreudigeren, aber auch sehr schnell ernsten und reifen jungen Mann, der die Bundeswehr als Arbeitsgeber anstrebte, seit er 14 Jahre alt gewesen war.
Ihm antwortet Kalk umgehend.
Hallo Fynn, ich bin grad im Urlaub. Lass uns gerne telefonieren. Wie wär’s mit morgen?
Geht klar, Kalki. Am besten so mittags zwischen 12 und 13 Uhr, da hab ich Pause. Wo treibst du dich rum?
Holländische Nordseeküste, echt schön hier.
Kalk konnte von seiner Position den Strand sehen, stellte sich kurz hin, um Fynn per Kurzvideo ein paar Eindrücke zu vermitteln.
Seine Antwort kam umgehend.
Sieht echt langweilig aus, Kalki. Nur Gestrüpp und ein bisschen Wasser. Was macht man den ganzen Tag an so einem Ort?
Momentan sitze ich auf einer Bank und lese einen spannenden Roman.
Kalk muss lachen, das Buch war wirklich ein Fehlkauf, aber nun ja, immerhin mal wieder versucht, was zu lesen.
Nur Verlierer lesen Bücher, Kalki. Fang mal wieder an zu leben. Leben statt lesen.
Der hat leicht reden mit seinen 22 Jahren, denkt Kalk.
Alles klar, heute Abend geh ich saufen, Soldat, das holländische Bier ist nicht von schlechten Eltern.
So will ich das hören, Gefreiter Kalk, wegtreten.
Bin doch schon weggetreten, denkt Kalk. Bis morgen, Hauptmann, schreibt er noch.
Er wendet sich wieder dem Roman zu, schlägt zufällig die Seite 199 auf.
Das Geschrei war schrill und durchdringend. Inspektor Olsson duckte sich und schoss mehrere Male in die Finsternis. Das Geschrei verstummte nach dem 15 Schuss.
Was für ein mühseliges Unterfangen, diesen Roman zu lesen. Er möchte ihn loswerden, umgehend, um dann Melanie Berger zu antworten. Aber die letzte Seite nimmt er sich trotzdem noch vor. Auf Seite 234 liest Kalk Folgendes:
Sandrine und Silvia wurden in Handschellen zu zwei verschiedenen Polizeiwagen geführt und Pascal war froh, dass die Angelegenheit damit scheinbar vorbei war. Silvia schrie die ganze Zeit Flüche vor sich hin, aber die geübten Polizeibeamten ließen sich davon keineswegs beeindrucken. Der letzte Blick seiner Tochter war voller Wut, hatte aber auch etwas Rührseliges, was er ausschließlich darauf bezog, dass sie verwandt waren.
Am Horizont ging langsam die Sonne auf und ihre Strahlen drangen in den Innenhof, wo mehrere Kriminalbeamte dabei waren, das ganze Desaster zu vermessen, zu beseitigen, zu reinigen und zu dokumentieren. Pascal Reller schaute auf die großen Blutlachen, die toten Tiere und sein mittlerweile gelöschtes Auto.
»Zum Aufwärmen einen Kaffee?«, fragte Inspektor Olsson.
»Wir hätten da auch noch ein paar Fragen an Sie, wenn Sie mir bitte folgen würden?«
Pascal folgte dem Beamten, musste aber immer wieder aufpassen, dass er nicht in Teile oder Reste von Kadavern trat.
In einem Polizeibus nahm er dann Platz und ein junger Polizist fragte, ob er Milch oder Zucker in seinen Kaffee wolle.
Interessant, dachte er da, dass die in ihrem Einsatzbus eine ganze Küche eingebaut haben. Ja, manche Einsätze dauern allem Anschein nach länger. »Schwarz«, sagte Reller und fügte lachend hinzu: »Schwarz wie die Nacht.« Der Beamte schaute ihn verstört an.
»Warum ist das so lustig?«, fragte der Polizist.
Pascal winkte ab.
»Schon okay.«
Der junge Polizist füllte eine große Tasse und verschwand dann kopfschüttelnd aus dem Fahrzeug.
Inspektor Olsson setzte sich vor ihn hin, ein süffisantes Lächeln huschte ihm über das Gesicht.
»Na, dann erzählen Sie mal, Herr Reller, wie war Ihr Urlaub bislang?«
Kalk wirft das Buch, nachdem er es laut zugeschlagen hat, in den neben der Bank stehenden Mülleimer. Ein Rudel Wespen fliegt aufgeschreckt daraus hervor.
So, denkt er. Der Welt der Literatur mal wieder nichts abgetrotzt. Was Leute daran finden, erschließt sich ihm nicht. Er starrt in die Weite. Die Weite starrt zurück. Die Endlosigkeit des Meeres. Wie schön die Welt doch ist, denkt Kalk, und wie fehlerhaft und schlecht die Kunst, die uns diese Welt manchmal nahebringen will. Das Meer rauscht, Möwen krächzen. 50 Meter neben ihm lässt ein Mann einen Drachen steigen.
»Guck mal, Elias, das Ding fliegt.«
»Ja, ja«, sagt Elias, ungefähr 13 Jahre alt, schaut kurz auf das sirrende Objekt und dem am anderen Ende der Schnur bemühten Vater. Anschließend widmet er sich seinem Endgerät, um in einer digitalen Parallelwelt irgendwelche Monster einzusammeln oder abzuknallen. Dann schaut er immerhin erneut kurz auf und macht ein Foto von dem Drachen, der jetzt durch die Anstrengungen des Vaters in den Dünen ein paar Pirouetten dreht. Im Gesicht des Vaters sieht man die Enttäuschung, gemischt jedoch mit dem Glück, wieder in seine eigene kindliche Welt zurückkehren zu dürfen. Es ist, als würden zwei Universen nebeneinander existieren.
Kalk fragt sich, ob Kunst, Literatur und Musik imstande sind, Leute zu verändern, oder ob das lediglich das sich schnell selbst erschöpfende Gelaber derer ist, die diese Produkte anbieten? Oder ist er selbst einfach nicht offen genug, diese Dinge in sich reinzulassen, weil sie etwas mit ihm anrichten könnten, was er für gefährlich hält? Er sieht das Buch im Mülleimer. Auch die Wespen finden es nicht interessant. Schade um das Geld, aber zum Glück kaum Zeit verschenkt. Das Buch wird sterben wegen Leuten wie ihm, weiß Kalk. Mit kulturellem Aufwand hat er nichts zu tun, ab und zu geht er ins Konzert, gern Klassik, das hat was Rührendes, Zärtliches, gleichermaßen Episches, da werden alle Gefühle angesprochen, manchmal antworten sogar einige. Mit Fynn war er mal in einem Musical, in dem als Züge verkleidete singende Rollschuhfahrer die ganze Zeit im Kreis herumfuhren und dabei epische Lieder sangen. Das war schön, ein nachvollziehbares Drama, aber im Nachhinein hat er sich gefragt, ob man die dreistündige Aufführung nicht auch in 60 Minuten hätte erzählen können. Der Junge indes war begeistert von der dargebotenen Action.
Kalk steht auf und läuft ein paar Schritte und schaut herauf zum Drachen, der weiterhin von Elias unbeachtet durch die Luft wirbelt. Er stellt sich vor, wie der Vater Elias heute Abend ein Brot schmiert und eine Tomate schneidet und alleine in diese Verrichtungen so viel Liebe steckt, dass man es von außen betrachtet kaum aushält, dass der Junge dabei mit dem Telefon am Tisch sitzen wird, um sich hirnverbrannte TikToks anzuschauen.
So, würde der Vater sagen, weil in Kalks Vorstellung immer alle Väter genauso So sagen, wie sein Vater So zu ihm gesagt hat.