Flirt und Freundschaft

Als Kalk später in einem Café sitzt und immer noch wohlmeinende und nicht zu indirekte Worte für Melanie Berger zu finden versucht, ploppt erneut eine Nachricht auf. Von Förster. Wortreich schildert er seinen kurzen, aber entscheidenden Weg zur mentalen Besserung (suuuuper erholt bislang) und die Planung einer gesunden Zukunft (vielleicht einfach kündigen) und er sei gerade ohnehin in der Nähe, ob in Kalks Hotel noch Platz wäre, ein paar Tage wolle er sich auch gern die holländische Nordsee gönnen. Er habe auch Schläger dabei, falls man ein Match spielen wolle, öffentliche Platten würde es bestimmt auch dort geben. Es müsse aber nicht sein, ein paar Biere, gutes Essen und gepflegte Spaziergänge würden auch ausreichen. Kalk freut sich über das angekündigte Erscheinen Försters.

Wann genau kommst du denn?

Heute Abend kann ich da sein.

Perfekt. Ich reserviere dir ein Zimmer.

Gerne für zwei Übernachtungen.

In Ordnung.

Funktionierende Freundschaften erkennt man daran, dass sie nicht vieler Worte bedürfen. Dann öffnet Kalk den Chat mit Melanie Berger.

Verehrteste,

ich habe schon mal nachgeforscht, wo sich zwischen Hotel und Campingplatz ein paar Tischtennisplatten befinden. Da heute spontan ein Freund von mir anreist, würde ich übermorgen für ein Match vorschlagen. Was meinen Sie? Herzlichst,

Ihr Kalk

Senden.

Sofort gerät Kalk in Zweifel. War vielleicht die Ansprache Verehrteste etwas zu dick aufgetragen, oder auch zu altbacken? Wer spricht denn so? Die Antwort kommt umgehend.

Hallo, herzlich gern. Wenn Sie mir den Namen Ihres Hotels verraten, würde ich Sie vor Ort abholen. Sagen wir um 14 Uhr?

Kalk stockt der Atem. Sie will in sein Hotel kommen. Das ist doch alles kein Zufall. Zunächst die körperliche Annäherung am dunklen Strand vor den Augen ihres Mannes und jetzt das. Was sie wohl von ihm will? So generell, aber auch speziell an diesem Tag?

Ich bin im Hotel NH Atlantic Den Haag untergebracht. 14 Uhr passt perfekt. Treffen wir uns in der Lobby oder vor dem Hotel?

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten.

Wenn Sie mir ihre Zimmernummer geben, kann ich Sie auch direkt dort abholen.

Kalk lässt die Dinge passieren und mehr noch, er schreibt:

Zimmer 313, ich habe einen hervorragenden Meerblick.

Den würde ich in der Tat gerne einmal sehen.

Melanie hat dieser Nachricht einen Zwinkersmiley beigefügt, ein vielsagendes, vielleicht auch bedeutungsloses Augenklimpern. Es wird sich zeigen. Alles wird sich zeigen. Kalks Handinnenflächen schwitzen.

Dann freue ich mich sehr auf unser Wiedersehen.

Das alles bewegt sich immer noch im fragilen Bereich des Flirts, ein Gebiet, auf dem Kalk sehr unsicher ist. Zeichen deuten, auf Nebensächlichkeiten achten und so was. Aber hier scheint der Fall doch eindeutig zu sein. Melanie Berger scheint mehr von ihm zu wollen, als eine gemeinsame Partie Tischtennis. Er bezahlt die beiden Kaffees, die er hatte, gibt wieder ein hohes Trinkgeld, der Kellner, ein junger Mann, der aber ein altes Gesicht hat, lächelt.

»Heel erg bedankt«, sagt er, als er Kalks Tisch mit einem feuchten Lappen abwischt.

Kalk möchte, dass man sich an ihn erinnert, warum genau, weiß er aber auch nicht. Er möchte, dass er etwas hinterlässt, was ein feuchter Lappen nicht einfach so entfernen kann.

Etwas später betritt er die Lobby, reserviert ein Zimmer für Förster. Lieke Braasterhoolt steht an der Rezeption und lächelt wie eine Verheißung.

»Und das Zimmer ist für einen Bekannten von Ihnen?«

»Ja, Herr Förster wird heute Abend noch anreisen, das Zimmer würde ich nur schon gerne für ihn reservieren.«

»In Ordnung«, sagt Lieke und wendet sich mit ihren feingliedrigen Händen wieder dem Rezeptionscomputer zu. »Das Zimmer ist reserviert bis 20 Uhr.«

»Vielen Dank.«

Kalk fragt sich, ob er noch die Fähigkeit hat, andere Leute für sich zu gewinnen. Lieke Braasterhoolt wäre eine gute Kandidatin, an der er üben könnte. Er hat das Gefühl, derzeit mit seinen sozialen Kompetenzen nicht allzu weit zu kommen. Melanie sollte schon beeindruckt sein. Jemandem eine Waschmaschine aufquatschen oder ein Wohnzimmer mit Halogendeckenleuchten bis in jeden Winkel aufzuhellen, das kann er gut. Aber diese sozialen Beziehungen enden, wenn der Kunde den Laden verlässt. Das mit Nina war eine Ausnahme, aber auch nur, weil sie noch Fragen hatte, weil sie es war, die eine weitere Begegnung initiiert hatte. Sprechen, wenn man nicht sprechen muss, weiß Kalk, das ist wichtig, das hält die Beziehungen stabil.

Er hat sich schon zwei Schritte vom Tresen entfernt und dreht sich noch mal um.

»Ach, eine Frage hätte ich noch, Frau Braasterhoolt.«

»Ja, bitte, was kann ich noch für Sie tun?«

Ihre Zähne sind so unglaublich sauber. Bei richtigem Lichteinfall würden sie einem das Augenlicht nehmen.

»Können Sie mir sagen, wo ich in der Nähe öffentliche Tischtennisplatten finden kann?«

»Tischtennis?«

»Ja, hier in der Nähe, bestenfalls ein wenig windgeschützt.«

Kalk macht eine Tischtennisbewegung, die ihm schon während der Ausführung peinlich ist.

»Pingpong«, sagt er dann noch, um das Ganze humorig erscheinen zu lassen.

»Ah, een Tafeltennistafel.«

Kalk lacht, Lieke auch.

Tafeltennistafel, was für ein niedliches Wort.

»Ik kijk snel.«

»Danke schön«, sagt Kalk und findet es bezaubernd, wie sie sich hier im babylonischen Sprachwirrwarr zwischen Deutsch und Niederländisch verheddert haben.

Niederländisch, Deutsch, die wunderbare Sprache des Lächelns und die der bedeutsamen Blicke. Dazu diese Zähne. Lieke sieht so unglaublich gesund aus. Gesünder als Kalk jemals war.

Wahrscheinlich wird sie hier am Rezeptionstresen oft mit Flirtversuchen konfrontiert. Kalk kann sich vorstellen, dass die ganzen notgeilen Senioren umgehend aufdringlich werden, sobald sie Lieke sehen. Er möchte hingegen Stil bewahren, ganz der zurückhaltende Gentleman sein.

»Schauen Sie, bitte.«

Lieke dreht den Bildschirm in seine Richtung.

»Wenn Sie das Hotel verlassen, 500 Meter rechts gehen, dann die Treppe rauf zu den Dünen, dann ungefähr, hoeveel is dat nu, een kilometer geradeaus, da ist ein großer Spielplatz, Bolzplatz und so weiter und dort sind auch ein paar Tischtennisplatten.«

»Spielen Sie auch Tischtennis?«

Kalk hat keine Ahnung, wo dieses Gespräch hinführen soll. Aber Lieke antwortet wie ein Serviceprofi.

»Ein bisschen, mein Beruf spannt mich aber sehr ein.«

»Was machen Sie denn, wenn Sie frei haben?«

Kalks Charme sprüht aus allen verfügbaren Poren, aber er bemerkt an Liekes leicht veränderter Mimik und ihrer zurückweichenden Haltung, dass das Verfallsdatum seiner Annährungsversuche leicht überschritten ist. Vielleicht auch sein eigenes.

»Ich habe eine sehr nette Familie.«

Wie gut sie wieder alles in die Waage bringt. So unglaublich diplomatisch.

»Das ist schön und vielen Dank für die Informationen wegen der Tafeltennistafel

Lieke Braasterhoolt hebt leicht ihre Mundwinkel an, formt ein Lächeln, Kalk aber bemerkt, dass sie ihn unter unangenehm abgespeichert hat. Grenzüberschreitend, Tendenz ekelhaft. Ihm ist das egal, übermorgen sieht er Melanie. Das zählt.

Das Meer, so schön sanft es auch an den Strand brandet, interessiert Kalk heute nicht. Er legt sich umgehend in sein Bett. Täglich wird es frisch bezogen. Er liebt diesen Geruch ohne Vorgeschichte. Kalk sinniert über die Begegnung mit Melanie. Allerdings ist im Vorfeld schon alles klar. Man wird sich in sexuelle Handlungen vertiefen. Kalk hofft, dass er noch weiß, wie das geht. Er sucht nach seiner eigenen Sinnlichkeit. Im Allgemeinen wird Menschen, vor allem Männern, die Gefühlstiefe irgendwann abtrainiert. Das Leben verlangt ihnen bestimmte Emotionen nicht mehr ab, sie verkümmern wie unbenutzte Zellen. Aber Kalk findet diese seltsame Tiefe, kindlich verspielt stellt er sich Gesprächsverläufe und Zärtlichkeitsanbahnungen mit Melanie Berger vor. Es beruhigt ihn so sehr, dass er darüber einschläft.

Im Tiefschlaf sucht ihn ein seltsamer Traum heim.

Er steht am Strand, Milo Berger treibt auf dem Wasser, aber nicht alleine, nein, ungefähr 100 weitere Kinder treiben hilfesuchend auf Luftmatratzen in der strudeligen, welligen und grauen Nordsee. Kalk springt ins Wasser, doch leider kann er immer nur ein Kind retten. Deswegen beeilt er sich. Er schwimmt gegen die Strömung, taucht unter den Wellen ab. Nachdem er bereits sieben Kinder in Sicherheit gebracht hat, bemerkt er, wie seine Kraft schwindet. Starkregen setzt ein. Als er wieder ins Wasser gesprungen ist, registriert er, dass mindestens die Hälfte der Luftmatratzenkinder nicht mehr zu retten sind, es sei denn, ein Wunder geschieht und Kalk entscheidet, zu den am weitesten entfernten Kindern zu schwimmen. Die ängstlichen und ratlosen Gesichter dieser Kinder, die sind das Schlimmste. Alle wimmern sie leise, das ist selbst bei tosendem Regen und dem Geräusch der Wellen deutlich zu vernehmen. Allumfassende Todesangst. Als Kalk das entfernteste Kind erreicht hat und es sich um seinen Hals schlingt, kann er den Strand nicht mehr sehen. Dichter Nebel wabert über der Wasseroberfläche. Er schwimmt in irgendeine Richtung. Die Welt löst sich in seltsamen Grau- und Blautönen und in abstrakter Kälte auf, als er spürt, dass seine Kraft nicht ausreichen wird. Der Chor der wimmernden Kinder ist weiterhin zu hören.

Unsanft wird er von seinem Klingelton aus der grauen Suppe des Halbschlafs gefischt. Auf dem Display erkennt er mit einem geschlossenen Auge Försters Namen, aber er schafft es nicht, rechtzeitig abzunehmen. Er richtet sich auf und ruft zurück.

»Ich bin da«, schallt es fröhlich aus dem Endgerät.

»Super, in fünf Minuten in der Lobby? Ich kenne eine großartige Bar.«

»Alles klar, ich bin bereit.«

»Bis gleich, mein Freund.«

Sein Hals ist trocken. Kalk geht ins Bad und versucht, sich diesen seltsamen Traum aus dem Gesicht zu waschen. Es gelingt nicht.

Er weiß nicht, ob eine Umarmung die richtige Geste für das Wiedersehen ist. Er macht es trotzdem. Förster fühlt sich warm und weich an. Der Druck seiner Arme ist stärker als sein Händedruck, mit dem sie sich normalerweise vor und nach dem Tischtennismatch für das Spiel bedanken. Kalk freut sich wirklich, ihn zu sehen.

»Du siehst super aus, hast du abgenommen?«

Nachdem sie sich an einen der wenigen freien Tische ins Habana Beach gesetzt haben, entscheiden sich beide für ein großes Bier. Förster trägt ein knallbuntes Hawaiihemd und sieht so aus, wie man sich einen deutschen Urlauber vorstellt, nur etwas glücklicher. Seine Mimik ist entspannt, sein Blick wach und sein Körper agil.

»Ja, ein paar Kilo sind auf jeden Fall runter. Mit geht’s richtig gut. Ich war jetzt anderthalb Wochen pauschal auf Mallorca. Einfach im Ferienresort rumhängen, den ganzen Tag ist das Buffet offen. Abgenommen habe ich trotzdem. Da habe ich übrigens Monika kennengelernt.«

»Monika?«

»Ja, Moni aus Hamburg. Mit der hatte ich direkt nach ein paar Tagen was. Lustig war, wie wir uns kennengelernt haben. Sie hatte ein Shirt an, auf dem Moin stand und wir standen nebeneinander an der Bar und sie so zu mir Rate, wie ich heiße, wenn Du recht hast, küsse ich dich, ich guck so auf ihr Shirt und sage Wahrscheinlich Moni, aber auf deinem T-Shirt ist das falsch geschrieben. Sie lachte, wir haben umgehend geknutscht und sie ist anderntags direkt bei mir im Hotelzimmer eingezogen. Tolle Frau. Sie ist Mediengestalterin in Hamburg, zwei Kinder, ungefähr im Alter von meinen. Ansonsten aber frei wie ein Vogel. Die Frau hat mich echt inspiriert, mal über den Ist-Stand meines Lebens nachzudenken.«

Über den Ist-Stand nachdenken. Da kommt wieder Försters pädagogischer Job zum Vorschein.

»Das freut mich sehr für dich.«

»Ich glaube, ich bin verliebt. In fünf Tagen fahre ich zu ihr.«

Förster zeigt ihm unaufgefordert ein Foto von Monika. Eine Mittvierzigerin in einer, nun ja, also beim Versuch einer erotischen Pose, die ihr aber misslingt, weil ihr sowohl Posen als auch Erotik fremd sind. Brust raus, Arme nach oben. Und so weiter. Von Monika strahlt viel Gelassenheit und Normalität aus, wahrscheinlich perfekt, um Försters Frust auszugleichen. Anspruchslos steht sie da, etwas Brustfleisch wallt seitlich aus dem eintönigen Badeanzug, ihr Lächeln gibt überdurchschnittlich viel Zahnfleisch frei.

»Geil, oder?«

Förster kriegt sich gar nicht mehr ein. Kalk glaubt, dass seine sexuelle Trockenphase sehr lang war, weswegen er jetzt bereit ist, jemanden wie Moni zu idealisieren.

»Ja, sieht sehr nett aus.«

Förster lacht dreckig und kippt Bier hinterher.

Kalk überlegt, Melanie Berger zu erwähnen. Aber diese Geschichte ist erstens zu kompliziert und zweitens hat er sie mangelhaft zu Ende gedacht. Er weiß nicht, was daraus wird. Bei Förster klingen die Dinge schon fixierter, machbarer, logischer, durchdachter, weniger von störenden Zweifeln durchdrungen.

»Hängst du hier die ganze Zeit allein rum?«

Försters Frage klingt fast wie ein Vorwurf. Förster macht den Eindruck, als würde er dank seiner neu gewonnenen Energie an Kalk vorbeiziehen, ihn überholen, ihn quasi durch seine neue Power abwerten. Mit seiner Zahnfleischmoni. Kalk muss an Nina denken und wie er irgendwann nach vollzogener Trennung dachte: Lieber ewig alleine, als weitere zwei Stunden mit der in einem Raum.

Förster bestellt eine neue Runde. Langsam wird es dunkel und ein wenig kühler. Ein paar Möwen fliegen krächzend über die Sonnenschirme. Die Biere mehren sich, ein paar Schnäpse kommen hinzu.

»Liebe kann echt dein Leben ändern.«

Förster ist schon im Modus der absoluten Aussagen angekommen. Wenn er besoffen ist, wird er oft fundamental. Kalk ist noch bei den Zweiflern. Eigentlich schon immer.

»Morgen zieh ich dich ab, du Arsch«, flüstert er.

»Was hast du gesagt?«, fragt Förster lachend.

Er fummelt in seiner Tasche herum und fördert eine Schachtel Zigaretten zutage. Seit wann raucht Förster?

»Ich freue mich auf unser Match morgen.«

»Ich habe lange nicht gespielt, aber ich werde es dir nicht so leicht machen.«

Das Bier wird zum Tisch gebracht, die beiden Männer prosten einander zu. Förster zündet sich eine an und schaut versonnen in Richtung Nordsee.

»Ach, ist das schön hier. Das Meer, die Luft und bald wieder in den Armen von Moni einschlafen.«

Förster sieht so aus, als wäre er randvoll mit Glück. Mücken umschwärmen die Lampions im Strandbiergarten.

Kalk sagt nichts dazu, was sollte er auch sagen? Er freut sich für Förster, der es geschafft hat, sich aus seiner Scheiße rauszuziehen, mittels eigener Motivation eine Frau kennenzulernen, offen zu sein für Neues und alles, was ihm noch begegnen könnte.

Die Männer schweigen.

Eine weitere Runde gibt es nicht.

Fünfundzwanzig Minuten später im verspiegelten Hotelaufzug ist Förster immer noch total aufgedreht. Seine sinnlose Fröhlichkeit macht Kalk aggressiv. Förster muss zum Glück bis in den fünften Stock fahren, Kalk selbst kann im dritten aussteigen. Er umarmt ihn nicht mehr.

»Morgen um 9 Frühstück?«, fragt Kalk.

»Nein, ich würde auf jeden Fall gerne ausschlafen. Ich rufe dich an, wenn ich wach bin, in Ordnung?«

Kalk nickt stumm und geht rückwärts drei Schritte auf den Flur. Er weiß nicht, warum er gerade das Gefühl hat, ein Kind zu sein, dass in einem riesigen Warenhaus vergessen wurde. Alles da, aber niemand, der sich für einen verantwortlich fühlt. Der kleine Kalk möchte bitte im Hotelflur abgeholt werden, der kleine Kalk bitte.

Die Aufzugstür schließt sich.