Sie haben sich in eine Bar gesetzt und zu trinken begonnen. Auf die schönen, neuen Zeiten. Zu jedem dritten Bier gibt es einen Schnaps. Förster ist in euphorischer Feierlaune, Kalk unterstützt das gerne. Nach dem Tischtennismatch sind sie kurz ins Hotel gegangen, haben sich frisch gemacht. Dabei fiel Kalk auf, dass er Försters Schläger mitgenommen hat. Die könne er ihm ja übermorgen wiedergeben, hat er sich gedacht. Sie haben ein Fischrestaurant (Förster Scholle, Kalk Calamares) besucht und sind daraufhin in eine Kneipe namens The Three Horses Pub gelandet. In diesem Etablissement gibt es kein Tageslicht, in den Ecken sitzen angetrunkene mittelalte Männer, von denen man nicht sagen kann, ob sie Einheimische oder Touristen sind. In ohrenbetäubender Lautstärke läuft das Lied Cotton Eye Joe. Der stille Wirt hat kaum erkennbare Mimik, seine Augen wirken zusammengekniffen, als wolle er ständig etwas weiter hinten im Raum stehende Gegenstände fokussieren. Es könnte aber auch sein, dass sein Gesicht einfach so aussieht. In seinem Mundwinkel hängt eine glimmende Zigarette, die selbst dann an der Unterlippe kleben bleibt, als er einem der Gäste im hinteren Bereich etwas zuruft. Der Angesprochene hebt abweisend die Hand. Der stille Wirt zapft weiter.
Die Lampen hängen sehr niedrig, es ist heiß und stickig, alle Anwesenden außer Kalk rauchen. Über dem Tresen klebt eine Postkarte, auf der eine barbusige Blondine abgebildet ist. Ihre linke und ihre rechte Körperhälfte sind unterschiedlich gefärbt. Links ist sie gebräunt, rechts stark sonnenbrandgerötet. Über ihrem Kopf prangt der Schriftzug Vandaag een tomatje, morgen een chocolaatje. Wahrscheinlich ist das die Art von Humor und auch von Erotik, die Besucher dieser Kneipe befürworten.
Where did you come from, where did you go?
Where did you come from, Cotton Eye Joe?
Kalk will aussprechen, was er morgen vorhat, traut sich aber nicht, weil er befürchtet, vom moralischen Urteil Försters aufgehalten werden zu können. Das würde seine Gedanken trüben und ihn lähmen und nichts würde geschehen in Sachen Melanie Berger. Zumindest nicht in dem Ausmaß, wie er es sich wünscht. Sein Vorhaben würde einfach so verpuffen, wenn Förster sich dazu negativ äußerte. Als hätte sein Gegenüber etwas geahnt, beginnt er, nach dem Austausch von ein paar Belanglosigkeiten und Eigenlob in Sachen Tischtennis über Ernsthaftes zu reden.
»Was ist eigentlich mit dir und der Liebe, Kalk?«
»Nichts Besonderes, nach dem Scheitern der Sache mit Nina habe ich erstmal die Füße stillgehalten. Das war schon ein ziemlich übler Einschnitt.«
»Ja, es ist auch nicht leicht für Männer unseres Alters. Ich hatte echt Glück, dass ich Moni getroffen habe.«
Monimonimoni, geht das schon wieder los.
Er trinkt den letzten Schluck Bier aus seinem Glas.
»Aber gibt’s hier im Urlaub keine ansprechenden Frauen, die sich zumindest auf einen unverbindlichen Flirt einlassen könnten? Du kommst ja völlig aus der Übung, mein Freund.«
Förster raucht eine nach der anderen. Manchmal hustet er, als hätte er einen Kilo Schleim in den Bronchien hängen.
»Ja, stimmt schon. Aber ich habe grad echt keine Lust auf den Stress.«
Kalk bemerkt, wie ihn das Thema schwerer macht, wie sich Blockaden einstellen. Förster ist vielleicht sein einziger Freund, aber leider kein guter. Cotton Eye Joe läuft entweder schon wieder oder immer noch.
Kalk bestellt eine neue Runde. Mittlerweile hat er das auch sprachlich drauf. Er hat es sich vorhin beim Wirt abgeschaut, als der Kalks deutsche Bestellung übersetzt hat.
»Twee biertjes en twee heldere schnaps.«
Der Barmann macht sich umgehend an die Arbeit, beim Zapfen hat er den Mund geöffnet, die schiefe, selbstgedrehte Kippe hängt an seiner bräunlich verfärbten Unterlippe wie eine kurze, qualmende Antenne.
Förster stößt mit seinem Schnapsglas gegen das von Kalk. Beide trinken den hellen Schnaps, was es genau für einer ist, wissen sie nicht, vielleicht weiß es nicht einmal der Wirt.
Förster räuspert sich.
»Also der Ort hier ist total schön. Da fährt man doch nicht alleine hin, weil schöne Plätze einen alleine doch traurig machen.«
Kalk weiß nicht, was er darauf erwidern soll. Förster war doch auch alleine im Urlaub. Jetzt fällt Kalk auf, dass nach dem Ende des Liedes Cotton Eye Joe das Lied erneut beginnt. Wo sind sie hier nur reingeraten?
If it hadn’t been for Cotton Eye Joe, I ’d been married long time ago
Als Kalk seine Beobachtung mitteilen will, klingelt Försters Telefon, das er sich umständlich aus der vorderen Hosentasche friemelt.
»Schatzi«, schreit er, »schön, dass du anrufst, nein, du störst überhaupt nicht, warte ich gehe mal eben an die frische Luft, viel zu laut hier.«
Er tippt Kalk auf die Schulter, deutet auf die Eingangstür, erhebt sich langsam vom Barhocker und geht nach draußen.
Where did you come from, where did you go?
Where did you come from, Cotton Eye Joe?
Cotton Eye Joe bedeutet Baumwollaugenjosef, denkt Kalk und dass er ganz schön besoffen ist. Außerdem ärgert er sich jetzt wieder, weil Försters Aufmerksamkeit so instabil ist. Er würde ihm zu gerne von seinen letzten Tagen erzählen, die notwendige alkoholische Enthemmung ist vorhanden. Er steht auf und folgt der Beschilderung, auf der WC steht. Dafür muss er ein paar Treppen heruntersteigen. Kalk schließt sich in eine Kabine ein, immer noch hört er als akustischen Schatten das Lied Cotton Eye Joe, die ewige Wiederholung des immergleichen Frohsinns, unaufhörlich. Ihm ist schlecht von der Raucherluft und von der Druckbetankung mit Förster. Er setzt sich auf die Kloschüssel, spürt kurz in sich hinein, erkennt dort eine Menge Unruhe und unbearbeitete Prozesse und geht wieder raus aus sich, ganz bewusst verlässt Kalk seinen eigenen inneren Tumult. Kann man nicht lösen so was, alleine auf dem Herrenklo in Holland.
Förster ist noch nicht wieder aufgetaucht, als Kalk zurückkommt. Er läuft wahrscheinlich immer noch vor dem Laden auf und ab und telefoniert mit seiner Moni, während Kalk hier sitzen muss, beschallt von dieser Scheißmusik. Er muss mit Förster reden, will endlich mal diese Hürde überspringen, über seine Schmerzen, über seine Hoffnung und über seine Gefühle zu reden. Das muss alles irgendwo hin. Als Negativbeispiel für das Runterschlucken von Emotionen fällt Kalk sofort die Ehe seiner Eltern ein. Seine Eltern lebten ständig in einem vagen, konfliktfreien Raum (mit Ausnahme der kurzen und heftigen Schreiphasen), aber immer, wenn sein Vater So sagte, gab es eine neue Zeitrechnung, alles, was zuvor passiert war, wurde aufgehoben, sogar inklusive aller Konsequenzen, die in die Gegenwart ragten. So schlichen sich seine Eltern durch die Tage, alles funktionierte nach außen und, wenn Kalk nicht richtig hinsah, auch nach innen. Dass ab und zu aber die Notwendigkeit für den kleinen Kalk bestand, sich die Kissen auf die Ohren zu drücken, das war wohl Teil der großen Abmachung, die man gutbürgerliche Ehe der 70er und 80er Jahre nannte.
Fynn hat mal erzählt, er glaube, dass die besten und langandauerndsten Freundschaften und Lieben jene seien, in denen sich die Beteiligten gar nicht obsessiv liebten. Beziehungen von langer Dauer bestünden aus Menschen, die sich wie Vertragspartner verhielten, die liebevoll ein gemeinsames Projekt betreuten. Wenn man die Welt wie einen Dienstleistungsbetrieb betrachtet, hat man eine Möglichkeit, ohne Tiefen und unbeschadet durch das Leben zu gleiten. Aber leider auch ohne die maximal angenehmen Dinge. Fynn hatte noch nie eine ernsthafte Beziehung, aber in der Theorie beschäftigt er sich seltsamerweise viel damit. Kalk hat sich Fynns Version von Liebe wie ein ewig andauerndes Tischtennisspiel vorgestellt. Keiner der beiden Kontrahenten bringt seinen Gegner in Bedrängnis, sondern bringt die Bälle so übers Netz, dass es dem Gegenüber leichtfällt, sie ohne große Mühe zurückzuschlagen. Bis einer stirbt. So. Kalk wusste nicht, ob er das gut finden sollte.
Langsam verliert er die Geduld. Was denkt sich dieser Förster denn? Kalk gibt dem Wirt ein Handzeichen, welches ihm bedeuten soll, dass er kurz nach seinem Freund schauen will, der draußen telefoniert.
»Twee biertjes en twee heldere schnaps nogmaals?«, fragt er.
Ein Wahnsinn ist das. Kalk nickt und geht Richtung Tür.
Where did you come from, where did you go?
Where did you come from, Cotton Eye Joe?
Als er vor den The Three Horses Pub tritt, kann er Förster nirgendwo sehen. Es ist windig geworden. Eine Touristengruppe kreuzt seinen Weg, alle sind betrunken und laut. Auf einer Bank, ungefähr hundert Meter vor ihm, liegt ein Besoffener und starrt in den Himmel oder schläft seinen Rausch aus. Ohne dass Kalk es bemerkt hat, ist der Wirt ihm nachgekommen, hat wahrscheinlich Angst gehabt, dass es sich bei Förster und Kalk um professionelle Zechpreller handeln könnte.
»Je vriend ligt da ob de bank«, sagt er und deutet auf den liegenden Mann, der von hier überhaupt nicht wie Förster aussieht.
»Danke«, sagt Kalk und geht auf ihn zu.
Der Wirt bleibt mit erheblicher Restskepsis im Gesicht an der Tür stehen. Er dreht sich langsam eine Zigarette, während eine andere noch zwischen seinen Lippen klebt.
Was denkt der Penner Förster sich, ihn da drin alleinzulassen? Sich einfach zu verpissen, um mit dieser Zahnfleisch-Moni ein paar virtuelle Liebreize auszutauschen. Total respektlos. Ihn einfach mit diesem Wirt und dem Baumwollaugenjoseflied und den ganzen anderen Besoffenen zurückzulassen.
»Du Penner«, schreit Kalk und hat zuvor gar nicht gemerkt, wie groß seine Wut wirklich ist. Er packt Förster am Kragen und reißt ihn hoch. Beim Blick in dessen Gesicht fällt ihm auf, dass er total im Eimer ist. Seine Augenhöhlen scheinen sich weit in seinen Kopf zu graben. Sein Blick ist ziellos, es sieht aus, als hätte er geweint.
»Es ist vorbei«, sagt er leise.
»Was ist vorbei?«, fragt Kalk.
»Moni«, sagt Förster, »Moni ist vorbei.«
»Was, wieso das denn?«
Förster fängt an zu heulen. Er muss sich währenddessen wieder auf die Bank setzen, weil er droht, das Gleichgewicht zu verlieren. Wie ein Kind, panisch, atemlos, so weint er durch die windige Nordseenacht. Mehrfach muss er ansetzen, einen Satz auszusprechen, bevor es ihm gelingt.
»Es gibt wohl noch einen anderen.«
»Einen anderen?«
»Frag doch nicht so blöd, Mann, ja, einen anderen.«
Förster schlägt sich selbst hart auf den Oberschenkel.
Kalk erschrickt.
»Irgendeinen Gerd, für den sie sich jetzt entschieden hat.«
»Einen Gerd?«
»Ja, einen beschissenen Gerd.«
Förster beginnt wieder jämmerlich zu heulen und Kalk, der bislang neben ihm gestanden hat und mit ihm redete, als sei er sein Erziehungsberechtigter, setzt sich neben ihn und umarmt ihn. Förster kann es zunächst nicht zulassen und versucht, sich Kalks festem väterlichen Griff zu entwinden, merkt aber dann, dass die Sicherheit seiner Arme ein guter Ort ist, um dort seine Trauer abzuladen. Försters Tränen dringen in das Gewebe von Kalks Pullover ein und Kalk streichelt sanft in beruhigenden Bewegungen Försters Rücken. Der Wirt steht vor dem Eingang des Pubs und hat sein Handy herausgeholt, um von den beiden Männern ein Foto zu machen, dann geht er wieder hinein.
»Komm, lass uns trinken, bis ich alles vergessen habe«, lallt Förster nach einiger Zeit.
Kalk hilft ihm auf und wie zwei betrunkene Eiskunstläufer, die nach einer fehlgeschlagenen Hebefigur derbe gestürzt sind, betreten sie erneut den Pub.
Where did you come from, where did you go?
Where did you come from, Cotton Eye Joe?
Zwei Bier und zwei Kurze stehen verheißungsvoll am Tresenrand. Wortlos und ohne einander anzublicken, stoßen sie die kleinen Gläser aneinander, kippen den Schnaps, dann das Bier herunter.
»Twee biertjes en twee helle Schnaps.«
Where did you come from …
»ssswei Bier und zwklare.«
… where did you go?
»Sssswei un noch ssssswei.«
Where did you come from, Cotton Eye Joe?
Die hören hier echt den ganzen Abend ausschließlich dieses Lied.
Kalk denkt plötzlich an Melanie Berger und dass er ihr nicht in einem Zustand wie diesem begegnen will. Obwohl sie ihn vielleicht deshalb für verwegen halten könnte, aber dazu wäre wichtig zu wissen, was Melanie Berger über Verwegenheit denkt. Immerhin ist sie mit Michael Berger verheiratet und hat es zugelassen, dass aus dieser Verbindung zwei Kinder entstanden sind. So viel scheint sie also nicht von Verwegenheit zu halten. Aber jetzt braucht ein Freund Hilfe. Förster liegt mit seiner Stirn in einer Bierpfütze. Zeit zu gehen, denkt Kalk und sagt So, klatscht in die Hände und steigt vom Barhocker ab. Cotton Eye Joes Geige fiedelt erbarmungslos weiter.
Kalk bezahlt die komplette Rechnung, er ist jetzt derjenige, der entscheiden muss, wie dieser Abend weitergeht. Bestenfalls endet. Förster ist dazu weder emotional noch physisch imstande. Wie zwei aneinandergefesselte Kriegsversehrte verlassen sie das Lokal, Förster etwas mehr angeschossen als Kalk, der ein paar Getränke ausgelassen hat. Sie schlurfen über den Gehweg.
»Moni«, brüllt Förster und irgendwo geht ein Fenster auf und jemand schreit Unflätigkeiten heraus, die niemand mehr so richtig aufnehmen kann.
»Moni, was soll das?«, schreit Förster wiederholt und Kalk versucht, ihn aus seiner krummen, verbeulten Affenhaltung aufzurichten, in der er die letzten hundert Meter Wegstrecke absolviert hat. Fast muss er ihn mit Gewalt über die Strandpromenade ziehen.
»Ich kann nich’ ohne Moni«, lallt Förster mit stierem Blick und Kalk sagt lieber gar nichts.
Er umarmt Förster und gibt ihm sanften Druck an der Schulter, geht mit ihm Schritt für Schritt geradeaus, muss alle paar Meter Försters im Pub liegengelassenen Gleichgewichtssinn ausgleichen, damit es überhaupt vorwärtsgeht.
Nach 20 Minuten mühsamer Wegstrecke erreichen sie das Hotel. An der Rezeption steht ein unbekannter Mann, der sie freundlich grüßt, wahrscheinlich kennt er Anblicke wie diesen. Touristen und übermäßiger Alkoholkonsum, irgendwo scheint es da einen Zusammenhang zu geben.
Im Aufzug schlägt Förster mehrfach gegen sein Spiegelbild, als wolle er es auslöschen.
»Schaffst du es in dein Zimmer?«, fragt Kalk und Förster reagiert nicht. Seine Augen sind geschlossen. Er weint jetzt in stiller Verzweiflung. Also begleitet Kalk Förster zu dessen Zimmertür. Zum Glück fischt Förster in dem Augenblick die Chipkarte aus seiner vorderen Hosentasche, mit der er wie automatisiert die Tür öffnet.
»Bis morgen«, sagt Kalk.
»Wassa los mit Moni, wassa los? Dummen Scheiß-Gerd, bring ich um, den«, lallt Förster.
Kalk fühlt sich etwas unwohl, als er Förster mit einem kleinen Klaps auf den Rücken in den Raum schiebt. Förster steht da wie ein Boxer, der gerade in den Ring geschubst wurde und weiß, dass der Gegner ihm sehr weh tun wird. Bevor er sich umdrehen kann, schließt Kalk von außen die Tür.
Er geht zum Aufzug und schließt die Augen.
Er will sich selbst nicht in der Spiegelung ansehen müssen.
Die Aufzugtür schließt sich.
Die Aufzugstür öffnet sich.
Der Schlaf fühlt sich an, als hätte man ihn mit einem Betäubungsgewehr angeschossen. Die Elefantendosis.