Kalk schreckt hoch. Panik. Hat er alles verpasst? Hat Melanie Berger schon angeklopft und er war nicht ansprechbar? Er schnellt hoch, alles klebt, vor allem er selbst an der Bettdecke. Es stinkt, nach ihm, nach der Nacht, nach Zigaretten, ein bisschen auch nach Selbstmitleid. Da ist ein Schmerz, als wäre ein Fremdkörper im Kopf. Als steckte dort ein Granatsplitter im Schädel. Die Detonation muss heftig gewesen sein, bestimmt mehrere Tote, man selbst dazwischen, schwer verletzt als Leidtragender dieser Explosion. Aber ein Überlebender. Kalk wuchtet sich aus dem Bett.
Die maritimen Motive auf dem Teppich tanzen. Nicht auffällig, aber sie bewegen sich im Slowfoxtempo nach links und rechts, eine Muschel sogar nach oben und unten. Irgendwo muss er doch Kopfschmerztabletten haben, die sollte er schnell nehmen, dann vielleicht was essen? Nein, besser nichts, was seinen Magen beunruhigen könnte. Auf dem Weg ins Bad stolpert Kalk über seine abgelegte Kleidung. Aus der Hosentasche lugt sein Handy. Beim Bücken sieht er gelbe Kreise. Drei neue Nachrichten. Die Schrift ist viel zu klein, um in diesem Zustand zu erfassen, worum es geht. Es ist 9:40 Uhr. Wie lange hat er geschlafen? Er hofft, dass nicht schon der nächste Tag ist.
Um die Nachrichten will er sich gleich kümmern, zunächst möchte er jedoch diesen Schmerz in den Griff kriegen. Schwindelanfall, aber irgendwie geht es. Er schleicht wie eine Katze, die einen geeigneten Ort zum Kotzen sucht, durch sein Zimmer, hält sich kurz am Türrahmen zum Badezimmer fest. Eine kalte Ladung Wasser ins Gesicht. Noch eine und noch eine. In seinem Kulturbeutel befinden sich die Aspirintabletten. Im Zahnputzbecher löst Kalk zwei davon auf. Sicher ist sicher. Menschen mit Kopfschmerzen sind einfach keine guten Akteure in amourösen Angelegenheiten. In allen anderen Angelegenheiten wahrscheinlich auch nicht.
Die erste Nachricht ist von Nina und ungefähr vier Stunden alt. Seit wann steht sie so früh auf? Kalk spekuliert darauf, dass sie immer noch wach ist, zornerfüllt an ihrem speckigen Küchentisch hockt und versucht, den Frust, den es bedeutet, sie selbst sein zu müssen, irgendwie loszuwerden. Vielleicht hat sie wieder Bolognese gekocht, auf jeden Fall wird Rotwein im Spiel gewesen sein.
»Wie kannst du den Jungen nur in seinem Vorhaben bestätigen? Aber war ja klar, dass du mir in den Rücken fällst.«
»Werd endlich erwachsen und lass Fynn seine überlegten Entscheidungen treffen. Er ist alt und reif genug, die Tragweite einzuschätzen.«
Senden.
Kalk bewundert seine eigene Spontanität. Und seine angriffslustige Wortwahl. Er beobachtet, wie sich die langsam zersetzenden Kopfschmerztabletten im gläsernen Zahnputzbecher auflösen und bekommt augenblicklich gute Laune.
Die zweite Nachricht ist tatsächlich von Melanie Berger. Abgesendet vor 35 Minuten.
»Bin um 15 Uhr da.«
»Super, ich freue mich sehr.«
Sie sendet ein Herz als Bestätigung, ein Herz, ein rotes Herz, verdammt. Es ist sonnenklar, dass Kalks Leben eine entscheidende Wendung nehmen wird.
Kalk stürzt das Glas in einem Zug herunter, trinkt sicherheitshalber noch ein weiteres Glas hinterher. Bis 15 Uhr wird er locker wieder auf dem Damm sein. Er öffnet die Balkontür, steht da und spürt den Wind am Körper. Er trägt nur ein T-Shirt und eine Unterhose. Die Nordsee heilt, sie ist wie eine Krankenschwester, die immer ein tröstendes Wort für einen hat. Die einen mit ihren zärtlichen Händen an den richtigen Stellen berührt und die wirksamsten Mittel gegen Schmerz hat. Kalk steht dort mit geschlossenen Augen und leichtem Schwindel vielleicht fünf Minuten und ist einfach nur er selbst, bis es ihm zu langweilig wird, er selbst zu sein. Er ist niemand Besonderes, sollte sich nicht so fühlen, gestattet sich diesen Triumph nicht. Triumphe sind harte Arbeit, die kommen nicht einfach so. Immerhin hat er ein Kind gerettet. Er geht wieder rein. Legt sich aufs Bett. Liest die dritte Nachricht.
»Kalk, mein Freund, ich musste los, echt sehr wichtig. Ich fahre zu Moni, ich muss mit ihr reden, sie liebt mich, ich weiß es. Wahrscheinlich ist sie grad unsicher, weil ich nicht da bin und dieser Gerd um sie rumtigert. Hab du noch eine gute Zeit. Sehen uns in zwei Wochen an der Platte.«
Förster ist also auf dem Weg nach Hamburg.
»Viel Glück«, schreibt Kalk.
Er legt sein Handy auf den Nachtschrank. Langsam wirkt das Kopfschmerzmittel. Kalk fühlt eine Sonne in sich aufgehen. Alles kann gut werden. Er stellt sich seinen Handywecker in zwei Stunden, dann wird genug Zeit sein, ihn selbst und die Räumlichkeit herzurichten.
Du bist 54. Was soll das hier sein?
Egal, eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.
Achte auf Signale der Feindseligkeit dieser Frau.
Ich glaube nicht, dass etwas Feindliches an ihr ist.
An jedem Menschen ist etwas Feindliches. Sie findet dich nur kurzfristig interessant, weil du ihr Kind aus der Nordsee gezogen hast, wozu ihr alberner Mann nicht imstande war. Wie lange sind die beiden zusammen? Mindestens so lange, wie das älteste Kind alt ist. Und guck dir an, was so eine Heldentat wie deine für einen tiefen Einschnitt verursachen kann. Frauen wollen begehrt werden und sie wollen einen Helden und wer kurzfristig Schwächen zeigt und nicht als strahlender Gewinnertyp auftritt, der wird einfach an die Seite geräumt. Es gibt keine Ewigkeit in der Liebe.
Aber es gibt Liebe, das reicht mir fürs Erste.
Über diese Gedanken schlummert Kalk weg.
Als der Wecker klingelt, sitzt Kalk umgehend aufrecht im Bett.
Noch eine Stunde.
Noch 45 Minuten.
Noch 29 Minuten.
Komische Zahlen, denkt Kalk, so eine 17 und die 13 und die 4 und dann wird es 15 Uhr und Kalk ist sich sicher, dass sich sein Herzschlag an seinem Hals abzeichnet. Die ganze verbleibende Zeit hat er aufgeräumt und sich frisch gemacht, gecremt, gekämmt und versucht, sowohl die Spuren von Alter als auch die Spuren der letzten Nacht aus seinem Gesicht zu entfernen. Beides ist ihm nur mäßig gelungen. Es ist bereits 15:07 Uhr, seine Hände zittern und schwitzen. Kalk steht direkt hinter der Zimmertür, will sie aber nicht sofort öffnen, wenn es klopfen sollte, weil das ein seltsames Signal für Melanie Berger wäre. Als würde er hier in seiner Ungeduld verrückt werden, als hätte er ausschließlich auf sie gewartet.
Zaghaft klopft es. Kalk geht, wie er es sich überlegt hat, zum Balkon, dann wieder zurück zur Tür, das ist genau die Zeit, die Lässigkeit ausstrahlen soll. Er öffnet die Tür, versucht einen brauchbaren Gesichtsausdruck.
»Hallo, Herr Kalk.«
Melanie trägt ein leichtes, rotes Sommerkleid. Er ist umgehend entzückt von ihren schmalen, leicht gebräunten Schultern, auf denen sich ein paar Sommersprossen tummeln. Niemand, der sich so anzieht, will wirklich Tischtennis spielen. Kalk macht eine einladende Handbewegung. Melanie Berger setzt sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer und er schließt die Tür hinter ihr. Alles an ihm kommt ihm in diesem Augenblick tölpelhaft vor. Er setzt sich auf die Bettkante, aus Ermangelung an Alternativen. In Kalks Kopf flimmern Möglichkeiten und Satzanfänge, aber nichts findet eine Form.
»Schön haben sie es hier.«
Melanie Berger sieht sich um wie eine Kundin in einer Boutique und das wäre der Moment, wo in amerikanischen Spielfilmen immer jemand fragt, ob man einen Drink anbieten könne. Dann gießt jemand Wein, Sekt oder Härteres in ein Glas und währenddessen oder kurz nach dem ersten Schluck tritt wie von selbst eine Lockerheit ein.
»Haben Sie vielleicht was zu trinken, Herr Kalk?«
»Natürlich.«
Er bückt sich runter zur Minibar.
»Bier, Wein, Cola, Wasser und Sekt.«
Kalk kommt sich bei dieser Auflistung sehr dumm vor.
»Ein Bier wäre super.«
Kalk angelt die beiden Flaschen Heineken aus dem Kühlschrank. Er öffnet beide mit dem auf dem Schreibtisch liegenden Flaschenöffner und überreicht Melanie Berger eine davon. Qualvolle Sekunden vergehen. Schließlich findet er im Gewirr seiner Gedanken einen Satz, der etwas herleiten könnte, was einer Intimität ähnelt. Er möchte ihn aussprechen, Melanie kommt ihm aber zuvor.
»Herr Kalk, wie heißen sie eigentlich mit Vornamen?«
»Stefan.«
Als er seinen Vornamen ausspricht, ist ihm dieser sofort peinlich. Er ist so sandig, behäbig, simpel, bäuerlich, so gewöhnlich in seinem Ausdruck und er steht für nichts Besonderes. Sein Vorname steht für seine primitive Herkunft und die Grenzen seiner Existenz. Dieses nicht von der Stelle gekommen sein. Bloß ein normaler Stefan. Wenn man einen Stefan kennenlernt, ist man in den wenigsten Fällen an seinen persönlichen Geschichten interessiert. Stefan Kalk, ein Niemand, dessen Hobby bestenfalls Modellbau ist oder vielleicht, wie bei Kalk eben tatsächlich: Tischtennis.
»Stefan mit f oder mit ph?«, fragt Melanie und trinkt mit großen Augen einen Schluck Bier, was sie etwas verrückt erscheinen lässt. Aber nicht so verrückt, dass man ihr ausweichen möchte, sondern dergestalt, dass man auf jeden Fall die Hintergründe dieses Blicks erfahren möchte.
»Mit f, meine Eltern waren einfache Leute.«
»Würdest du mich ficken, Stefan Kalk mit f?«
Bitte, denkt Kalk, sag nicht Stefan zu mir.
»Natürlich würde ich das.«
Ihr Kleid gleitet seitlich von ihren Schultern, zum Vorschein kommt eine Wäsche, die man aus Erotikfilmen kennt und die etwas auslösen soll, was aber so künstlich ist, dass sie nie das auslöst, was sie auslösen soll. Der Körper darunter ebenso wenig, er wirkt wie warmer, weicher Käse. Aber Kalk greift rein in diesen Käse, ins Gewebe, in das Angebot, das sich vor seinen Augen auf der Matratze wälzt.