Als sie fertig sind, liegen sie schweigend da. Sie wirken wie eine unmodern gewordene Skulptur, die in einer Stadt wie Recklinghausen oder Beckum steht. Etwas, was einmal Bedeutung hatte. Von eislutschenden Rentnern in Funktionskleidung, die aus Gewohnheit an jedem Betonklotz stehen bleiben, umzingelt, wäre diese Skulptur in einem kleinen Brunnen befestigt, der auf einem kopfsteingepflasterten Marktplatz steht und Raum einnimmt. Wäre da etwas anderes oder einfach nichts, niemand würde etwas vermissen. Trotzdem wären die Rentner stehen geblieben und hätten sich gefragt, was das alles zu bedeuten hätte. Genau das fragt Kalk sich jetzt auch.
Er liegt auf der Seite des Hotelbettes und streichelt systematisch Melanies Rücken, ganz so, wie andere Leute Rasen mähen. Überall mal gewesen sein, an jedem Fleck, denkt Kalk. Melanie Berger windet sich sanft aus seiner Umarmung und geht wortlos ins Bad. Kalk fragt sich, was jetzt wohl kommt. Sex ist auch einfach nur Sex, ein Akt, der ein bestimmtes Tempo nicht überschreiten kann, kurze Ekstase, während der man denkt, dass sei jetzt ein guter Moment. Sex ist keine Handlung, die die Realität verändern kann. Nichts wird verschoben, alles bleibt, wie und wo es ist. Er hört, wie Melanie die Toilettenspülung betätigt.
Es ist immer noch Krieg, obwohl das alles hier passiert ist. Aber Kalk fühlt sich etwas leichter. Ein paar Jahre Strenge und Selbstzweifel sind kurzzeitig von ihm abgefallen. Irgendetwas ist in seinem Gesicht passiert. Er kontrolliert es mit einem kurzen Spiegelblick. Ein verdammtes Lächeln in einem Gesicht, das überhaupt nicht wie sein eigenes aussieht. Das Gesicht schon, das Lächeln nicht. Es wirkt neu und deplatziert.
Kalk hält die Stille nicht aus, er muss dagegen angehen.
»Denkst du, dein Mann glaubt dir, dass du in diesem Outfit zum Tischtennis gegangen bist?«, fragt er Melanie, als sie sich wieder zu ihm ins Bett legt.
»Michael kriegt gar nichts mehr mit, der ist so sehr mit sich beschäftigt, dass ich ihm mittlerweile sogar ungern unsere Kinder anvertraue.«
Sie streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Ja, das habe ich gemerkt«, sagt Kalk.
»Kann ich eine rauchen auf dem Balkon?«
»Natürlich.«
Sie wirft sich ihr Kleid über, darunter befindet ich eine Handtasche, die Kalk bislang gar nicht wahrgenommen hat. Eine kleine braune Ledertasche, eine Schnalle vorne, sehr dünner Trageriemen. Dort heraus fingert Melanie eine Schachtel Marlboro Medium und ein gelbes Einwegfeuerzeug. Marlboro Medium liegt irgendwo zwischen Marlboro light und normalen Marlboro. Zigaretten für Leute, die eine Zwischenlösung suchen. Was sagt das aus über die Raucher dieser Kippen? Tendenz zum Mittelmaß? Kalk freut sich über diese Erkenntnis, denn mittelmäßige Leute werden einem in der Regel nicht geneidet, sie sind trotzdem verlässlich und einfach da. Sie sind so normal, wie er sich selbst gern fühlen würde. Irgendwo knietief in der Schönheit der Gewöhnlichkeit.
»Du rauchst nicht, oder, Stefan?«
Kalk fühlt sich immer noch seltsam, wenn Melanie Berger ihn beim Vornamen nennt. Er möchte ihr antworten Nein, Frau Berger, ich rauche nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn die Winde des Unheils nahen, so wie gestern, als ich neben meinem kürzlich verlassenen Freund, der manchmal gar nicht mein Freund ist, aber wie definiert man überhaupt Freundschaft, also, als ich neben dem saß und versucht habe, mich seiner Traurigkeit anzupassen, da dachte ich, das sind Momente für Zigaretten, aber er sagt:
»Doch, hin und wieder, aber nicht regelmäßig, also manchmal, wenn es passt. Quasi Genussraucher.«
Das Wort Genussraucher hat Kalk mal irgendwo aufgeschnappt. Richtige, hauptberufliche Suchtraucher kennen ja keinen Genuss mehr, keine Sinnlichkeit, für die ist alles Rauchen, was nicht Atmen ist. Diese Leute hat Kalk immer verachtet, also Menschen, die sich an der Bushaltestelle noch eine Zigarette anzünden, obwohl der Bus schon zu sehen ist. Das hat Kalk nie gewollt, für ihn war es immer wichtig, schöne Momente selten zu machen, damit sich deren Schönheit nicht abnutzt.
Melanie hält ihm eine Zigarette hin. Kalk schält sich in seine Unterhose und geht zu seinem Schrank, um ein frisches T-Shirt anzuziehen.
Sie stehen am Balkongeländer und starren rauchend Richtung Nordsee. Die Nachmittagssonne knallt in absoluter Unerbittlichkeit auf den weißen Sand. Touristen lagern dort wie gestrandete Walbabys, der Horizont ist voller Surfer und Möwen, allerdings sind sie langsamer als sonst.
»Wenig Wind heute«, mutmaßt Kalk.
Melanie Berger antwortet nicht. Gafft in die Weite. Als Kalk sie von der Seite anblickt, sieht er, dass sie geräuschlos weint. Auch das noch.
Obwohl es offensichtlich nicht der Fall ist, fragt er:
»Alles in Ordnung?«
Melanie Berger schweigt, schaut ihn nicht an, dann fängt sie sich wieder.
»Geht so«, sagt sie wie ein Kind, das gefragt wird, ob es sich zutraut, eine schwierige Aufgabe zu lösen.
Sie blickt ihn weiterhin nicht an, zieht aggressiv an ihrer Kippe, hat sie schon runtergeraucht, drückt den glimmenden Stummel am Balkongeländer aus, um ihn dann achtlos auf den Boden fallen zu lassen. Umgehend zündet sie sich eine weitere Zigarette an.
»Mein Leben ist an einem seltsamen Punkt«, sagt sie.
Kalk glaubt, dass alle Leben aller Menschen immer an einem seltsamen Punkt sind und dass das nichts Besonderes sei.
»Erzähl doch mal«, bittet er sie.
Von der Seite betrachtet sieht Melanie Berger entkräftet aus. Leichtes Doppelkinn, zusammengezogene Stirn, ein Blick, der gleichzeitig an- und abwesend zu sein scheint. Sie raucht wie gestresste Menschen rauchen, mit heftigen, kurzen Zügen, als ob sie ein kurzer Lungenschmerz vom sonstigen Weltübel ablenken könnte.
»Meine Ehe ist total kaputt. Michael und ich wollten in diesem Urlaub eigentlich wieder zusammenfinden. Wir waren zuvor bei einer Eheberatung und die Therapeutin hat ganz klar gesagt, dass wir zu unseren Wurzeln zurückkehren sollten, weil da wäre das zu erkennen, was uns ausmache. Wir waren vor Jahren schon mal hier in Ockenburgh. Sind also hierhergefahren, um schön Zelturlaub zu machen, dafür haben wir uns bewusst entschieden, quasi back to the roots, so wie früher, als die Kinder noch nicht da waren.«
Sie macht eine Pause, steckt sich eine weitere Zigarette an und Kalk bemerkt, dass sie auch so eine ist, die in Sichtweite des Busses rauchend auf den Bus warten würde.
»Michael ist beruflich stark eingebunden. Ständig ist er auf Fortbildungen, manchmal sehen wir uns zwei Wochen lang nicht. Er hat zwischendurch auch einfach aufgehört, mir was Liebes zu sagen. Unaufmerksam ist er geworden, auch gegenüber den Kindern. Der Alltag, die Normalität hat uns komplett zerfressen. Ich habe ihm das alles gesagt, er hat versprochen, dass es besser wird. Das ist nie passiert.«
Kalk zieht an seiner Marlboro Medium. Melanie hat sich schon die nächste, die dritte oder vierte Zigarette, angemacht.
»Hat sich irgendwas verändert?«
Kalk fragt so, als ob er am Fortbestand dieser Ehe interessiert wäre. Ganz so, als sei er ein gutmütiger Psychologe oder zumindest Mitarbeiter des Sorgentelefons, der sich professionell den Problemen Fremder nähert und dabei immer auch die eigenen in den Hintergrund stellt.
»Michael ist auf Dauer immer unsicherer geworden. Jedes Mal, wenn er etwas für mich gemacht hat, hat es sich angefühlt, als würde er einfach nur eine Dienstleistung verrichten. Er hat mit mir gesprochen wie mit seinen Kunden.«
Nächste Kippe, zum Glück sind die Tränen verschwunden.
»Wahrscheinlich halte ich das Familienkonstrukt nur noch wegen der Kinder aufrecht.«
»Klingt anstrengend.«
Kalks Stimme kommt ihm selbst unendlich leise vor, ganz so, als würde das entfernte Möwengeschrei sie überdecken. Er weiß nicht, was er sagen soll, weil er bemerkt, dass jedes seiner Worte ins Absolute interpretiert werden kann. Ist er zu weich, wird Melanie Berger ihn deswegen unattraktiv finden, ist er zu rabiat, kann sie ihn ebenfalls ablehnen. Die Worte stecken in seinem Hals fest, seine Handflächen schwitzen, er würde Melanie gerne berühren, sie umarmen, ihr ohne Worte zeigen, dass sie bei ihm sicher ist, dass ihr nichts geschehen kann, hier in seinem Arm. Aber sie starrt auf das Meer, als läge da draußen eine Antwort. Und nicht hier auf dem Balkon.
»Ich bin schon mehrmals fremdgegangen, und zwar so, dass er es hätte bemerken müssen. Heute zum Beispiel, total offensichtlich, dass ich nicht Tischtennis spielen gehe mit dir, aber er hat nur gesagt Viel Spaß und bis später und das war’s dann.«
Kalk fühlt sich superelend, als er merkt, dass auch er nur Teil der Reanimationsversuche dieser defekten Ehe zu sein scheint. Mit ihm kann man es ja machen. Scheinbar wirkt er wie jemand, der das alles schlucken kann. Kurz stellt er sich vor, Melanie an den Beinen zu packen, vom Balkon zu werfen und eine Sekunde lang gespannt darauf zu warten, wie es aussieht, wenn ihr Körper auf dem gepflasterten Parkplatz aufplatzt und welches Geräusch es wohl macht. Er erschrickt vor diesem Gedanken, geht einen Schritt vom Balkongeländer zurück, einfach nur, um sicher zu gehen.
»Ich kann doch meine Kinder nicht verlassen«, klagt Melanie Berger. »Ich hätte immer das Gefühl, ihnen was angetan, ihnen eine gesunde Familie vorenthalten zu haben.«
Wieso denn nicht? Sind doch auch nur Menschen, sagt Kalk zu sich selbst.
»Wieso denn nicht? Sind doch auch nur Menschen«, sagt er so leise, dass er denkt, sie hätte es nicht gehört.
Kalk bemerkt, wie Wut in ihm aufsteigt. Wie ihm jedwede Sicherheit entgleitet.
»Bitte was?«
Jetzt bricht es aus ihm heraus.
»Ja, Kinder sind auch nur Menschen. Du hast ja auch kein Problem damit, mir wehzutun. Warum soll man Kindern nicht auch wehtun? Ich glaube, eure Kinder leiden mehr darunter, dass eure Ehe nicht funktioniert, im Gegensatz zu deinem Mann verstehen sie den Schmerz und die Unentschlossenheit. Das ist doch Scheiße.«
Während Kalk wütend gebrüllt hat, ist Melanie Berger immer mehr zurückgewichen. Sie wirft die halb aufgerauchte Zigarette vom Balkon und geht schnell ins Zimmer.
»Melanie«, sagt Kalk, ohne sich nach ihr umzusehen.
»Du hast nicht so über meine Kinder zu reden, Stefan.«
»Entschuldige bitte.«
Er wagt nicht, sich umzudrehen. Er befürchtet, dass, wenn sie ihn ein weiteres Mal Stefan nennt, etwas passiert, was er nie wieder gut machen könnte. Er bleibt auf dem Balkon stehen, bis die Zimmertür ins Schloss fällt. Melanie ist plötzlich so weit weg, als ob sie niemals hier gewesen wäre.