Kalk

Kalk ist so wach, wie er heute gar nicht mehr werden wollte. Die Angst davor, Hasburg zu begegnen, hält ihn davon ab, wieder in Richtung The Three Horses Pub zu laufen. Erinnert sich Hasburg wohl an die lebensrettenden Maßnahmen auf dem Boden des Toilettenraumes? Letztlich ist es Kalk egal.

Er läuft weiter, der Regen hat aufgehört, aber es bleibt windig und kalt. Ein Fischgeruch wabert durch die Luft. Der Klingelton seines Handys reißt Kalk aus der hypnotischen Betrachtung der Wassersportler.

»Hey, Fynn.«

»Kalki, es geht los.«

Kalk geht schnurstracks auf ein Restaurant zu, dass bereits geschlossen hat, wie er beim Näherkommen erkennt. Er stellt sich in den gemauerten Türvorsprung. Dort ist es einigermaßen windgeschützt und er kann sich auf Fynns Worte konzentrieren.

»Was genau geht los?«

Kalk schaut durch die verglaste Eingangstür und erkennt, dass in diesem Restaurant zwei Reinigungskräfte mit großen Staubsaugern den Boden säubern. Kreuz und quer fahren sie damit durch den Raum und wirken beide wie mechanische Roboter. Sie huschen automatisiert und mit kantigen Bewegungen zwischen den Stühlen und Tischen umher.

»In drei Stunden ist es so weit. Es gab einen Marschbefehl. Wir werden an einen Einsatzort gebracht, wo wir irgendwas zu tun haben. Genaueres erfahren wir vor Ort oder auf dem Weg dorthin. Auf jeden Fall geht viel Ausrüstung mit und jeder Soldat ist in voller Kampfmontur.«

Kalk weiß nicht, was er dazu sagen soll.

»Wie geht es dir damit?«, fragt er und hält die Frage umgehend für total bescheuert. Wie soll es jemandem gehen, der in den Krieg zieht? Viele Möglichkeiten fallen ihm nicht ein.

»Kalki, ich weiß es nicht. Ich habe Angst und gleichzeitig ist da dieser Wille in mir, unbedingt konsequent zu bleiben.«

»Ja, die Lage ist verzwickt.«

»Nein, sie ist seit Kurzem eindeutig. Wir befinden uns mitten im Krieg, in einem bewaffneten Konflikt.«

Kalk schweigt.

»Und weißt du, was das Schlimmste ist, Kalki?«

»Nein, erzähl, Junge.«

»Ich kann es meiner Mutter nicht erzählen, die wird doch wahnsinnig, wenn die hört, dass es jetzt losgeht und wenn wirklich irgendein Scheiß passiert, wird sie nie wieder froh.«

»Es wird schon kein Scheiß passieren. Ihr seid doch abgesichert und gut ausgebildet, zumindest hast du das immer behauptet.«

»Und was, wenn doch, wenn irgendeiner meiner Kameraden einen Fehler macht oder ich oder sogar unser Kommandant? Wir sind alle nur Menschen. Menschen in einer Scheißuniform.«

»Fynn, hör mal, vor Kurzem hast du gesagt, dass du endlich Verantwortung übernehmen willst und dass du das, was du tust, für absolut sinnvoll und vor allem für richtig erachtest. Was ist daraus geworden?«

»Ich bin mir nicht mehr sicher, Kalki.«

»Verdammt, dann lass es, aber mach nichts, bei dem du dir nicht absolut sicher bist, ob du das willst.«

»Dafür ist es wahrscheinlich zu spät.«

Fynn atmet ein paar Mal heftig durch, als ob er Tränen unterdrücken muss. Ob das wirklich stimmt, weiß Kalk nicht und er wüsste auch nicht, wie er mit einem weinenden Soldaten am Telefon umgehen sollte. Kalk denkt an Rambo und wie ihm der Schluss des fünften Teils dieser Filmreihe das Wasser in die Augen getrieben hat.

»Ich muss das jetzt durchziehen, aber das ist alles nicht so einfach«, sagt Fynn mit einer Stimme, die ihm einiges an Kontrolle abzuverlangen scheint. Harte Aussage, fragile Sprechweise.

Kalk ist froh, dass Fynn jetzt nicht neben ihm steht und er an seinem Gesicht erkennen könnte, wie seine Angst genau aussieht. Er ist froh, dass Fynn nicht in Tränen ausgebrochen ist.

»Es ist echt alles nicht so einfach«, wiederholt Fynn.

»Was meinst du damit?«, fragt Kalk.

»Wer sich mit Wort oder Tat gegen einen ausgesprochenen Befehl auflehnt oder ihn gar komplett verweigert oder infrage stellt, macht sich strafbar. Das ist uns natürlich gesagt worden, aber du kannst dir ja vorstellen, wie so eine Gruppe reagiert, wenn ein Befehl wie dieser reinkommt. Keiner will Schwäche zeigen, keiner will ein Veto einlegen.«

»Verstehe«, sagt Kalk, ohne wirklich zu verstehen.

»Ja, es gibt ja dieses Wehrstrafgesetz und da kann man wegen Gehorsamkeitsverweigerung bis zu drei Jahre in den Knast kommen.«

»Okay, Fynn, ich kann mich nur wiederholen, mach bitte nichts, was du nicht tun willst.«

»Vielleicht wird es auch total harmlos, Kalki, vielleicht sollen wir nur eine Grenze bewachen und werden nicht in Kampfhandlungen verwickelt. Einfach rumstehen und gut ist. Normaler Türsteher-Move zur Verteidigung der inneren Sicherheit. Dabei können wir uns trotzdem wie Helden fühlen, ohne dass irgendeine Scheiße passiert.«

»Wollen wir hoffen, dass es so wird, Fynn.«

»Außerdem kann ich meine Kameraden nicht im Stich lassen. Taktik und Ausbildung sind wichtig für eine Armee und für ihre Durchsetzungskraft, aber am Ende sind die kameradschaftlichen Beziehungen der Soldaten untereinander die Waffe, mit der man Kriege gewinnt.«

Kalk fragt sich, woher der Junge nur solche Sätze nimmt.

»Ich bin ja einfach nur ein Teil meiner militärischen Einheit, mehr nicht. Die Jungs kämpfen für mich und ich für meine Jungs, so einfach ist das.«

»Okay, Fynn, wenn du Gelegenheit hast, halt mich bitte auf dem Laufenden. Es interessiert mich wirklich, okay?«

»Klar doch, Kalki, ich schick dir ein paar Selfies von den Scharfschützen-Hotspots der Frontlinie und ein paar nette Aufnahmen vom Häuserkampf.«

»Komm mir bitte nicht in die Schusslinie, Junge.«

»Wir sehen uns, Kalki, das wird schon, danke, dass du mir zugehört hast.«

Die Stille, nachdem Fynn das Gespräch beendet hat, ist unglaublich. Kalk versucht, sich in den Jungen hineinzuversetzen, die Angst, die er empfinden könnte, nachzuvollziehen. Kalk scheitert bei diesem Gedanken. Stattdessen denkt er an junge Männer, die sich gegenseitig hochpushen, kameradschaftliche Lieder singen. Aber auch so ein Ferienlagerfeeling. Für einen Moment hört Kalk gar nichts mehr, nicht den Wind, nicht die Schreie einiger Kinder vom Strand, nicht die Staubsaugerkolonne im Restaurant. Jetzt haben sie ihn entdeckt. Eine arabische Frau, vielleicht Mitte 30, kommt an die Tür und öffnet sie. Sie trägt Kopftuch, einen Putzkittel und ein wütendes Gesicht.

»We zijn gesloten«, sagt sie mit harter, tonloser Stimme.

Es ist tatsächlich eine Menge Erbarmungslosigkeit in ihrer Stimme, ganz so, als wäre Kalk jemand, der eine unangenehme Bitte geäußert hätte und den sie nun kompromisslos und nachhaltig abwimmeln will. Währenddessen säubert ihr Kollege im Hintergrund mit dem großen Industriestaubsauger weiterhin den Bodenbelag des Restaurants. Erst jetzt fällt ihm auf, wie laut dieses Teil wirklich ist. Es ist mehr als ein sonores Brummen, es ist das Betriebsgeräusch einer großen Maschine. Der strenge, nach unten gerichtete Blick des Staubsaugerführers erzählt viel von unliebsamer Pflichterfüllung und kein bisschen von Spaß.

Kalk macht eine abmildernde Handbewegung.

»Kein Problem, wollte mich nur kurz unterstellen. «

Er deutet in den Himmel, mittlerweile regnet es nicht mehr, auch der Wind hat weiter nachgelassen.

»We zijn gesloten«, wiederholt die Frau, zornig und mit einem Gesicht, dass weder Rückfragen noch Widerrede akzeptiert.

Kalk wendet sich von der Tür ab, dreht sich um und geht langsam Richtung Promenade.

Er kommt an Restaurants und Kneipen vorbei und überlegt, ob er nochmal irgendwo einkehren soll, etwas Richtiges essen, nicht nur Erinnerungen an Nahrung, die er aus den Urlauben seiner Kindheit kennt. Vielleicht mal was Neues, was Unbekanntes, was außerhalb seiner Vorstellungskraft. Er fühlt sich immer noch schwach, die gestrige Nacht hängt ihm in den Knochen. Er sieht eine kleine Bar, die geöffnet hat. Davor ist ein Aushang, dass auch kleine Speisen angeboten werden. Die Lokalität nennt sich Mooi Oud Leven und als Kalk den Laden betritt, läuft leise Jazzmusik. An drei von zehn Tischen sitzen Personen. Ein guter Ort für eine anonyme Mahlzeit, denkt er. Er bestellt den gebackenen Camembert und eine große Cola, von diesen beiden Dingen erhofft er sich eine Menge. Vielleicht, dass die Übelkeit verschwindet, das Unwohlsein reduziert wird. Fettige Nahrung hat ihm schon in vielen Lebenslagen geholfen. Das Essen kommt schnell und es sieht wunderbar aus.
Zwei panierte Camemberts werden umrandet von einem Salatbouquet, rundherum ein Rahmen aus angewärmter Preiselbeersoße. Die Cola ist eiskalt und im Glas tummeln sich neben mehreren Eiswürfeln zwei Zitronenschnitze. Kalk isst langsam, weil er weiß, dass zu schnelles Schlingen seine Übelkeit verstärken könnte. Der fettige Käse beruhigt ihn, genauso wie das Gemurmel der anderen Gäste, denen er nicht wirklich zuhört. Es reicht aus, dass sie Unverständliches murmeln. Dazu die gediegene Jazzmusik. Nach dem Käsegericht nimmt er noch eine Portion Eis. Immerhin ist er im Urlaub, das will er nicht vergessen und das führt man sich am besten vor Augen, wenn man sich selbst verwöhnt. Sich bis an den Rand füttert. Es geht ihm doch gut. Mensch, es geht mir doch gut, denkt Kalk und überlegt kurz, wem er davon erzählen könnte. Vielleicht sollte er mal Förster anrufen und sich nach ihm erkundigen. Nach kurzer Überlegung sieht er davon ab. Den sieht er noch früh genug an der Tischtennisplatte wieder.

Er zahlt und als er aus dem Lokal tritt, wird es bereits dunkel. Kurz denkt er, dass es schön wäre, kurz die Füße in die Nordsee zu halten wie so ein richtiger Tourist, aber dann bemerkt er, dass es ganz schön kalt ist. Es geht mir doch gut.

Zurück auf seinem Zimmer zieht er sich bis auf die Unterhose aus, der Duft von Melanie ist komplett entwichen. Nichts erinnert mehr an sie. Das beruhigt Kalk. Zeit regelt, Durchzug regelt, Wind regelt. Es geht mir doch gut. Nachdem er eine halbe Stunde lustlos durch die 34 Kanäle gezappt hat und nicht wirklich an etwas Interessantem hängen geblieben ist, macht er das Licht aus und ist zum Glück so müde, dass er umgehend einschläft.

Es geht mir doch gut.

Endlich glaubt er es auch.