Lieke

Als Lieke ihn sieht, versteinert kurz ihre Mimik, die dann aber wieder zu einem professionellen Ausdruck der Freundlichkeit wird. Das alles geschieht innerhalb von drei Sekunden. Wie immer hat sie eine hinreißende Ausstrahlung. Kalk meint, sie habe etwas an ihren Haaren verändert. Auch ihr Gesicht sieht frischer aus. Es scheint, als habe sie gleich Feierabend. Bestimmt geht sie noch aus, stürzt sich in die Nacht mit ihren ebenso wunderschönen Freunden und Freundinnen. Niemand sonst ist in der Lobby und Kalk setzt sich auf einen dieser modernen Sessel, die dort vor dem Fassadenfenster des Hotels um einen Beistelltisch drapiert sind. Darauf befinden sich ein paar internationale Zeitungen, auf allen Titelseiten ist vom Krieg die Rede. The War, guerre, oorlog, krigen, la guerra, Krieg, kriget und wojna. Interessant, wie verschieden diese Worte aussehen, die alle den gleichen brutalen Umstand beschreiben. Kalk studiert die Titelseiten, schaut sich die Bilder an. Politiker, Panzer, Sprechblasen, Prominente, Wirtschaft, Wetter, Fußball. Wenn es immer noch Ablenkung gibt, ist die Gefahr kalkulierbar.

Ab und zu betreten Gäste die Lobby. Entweder sie kommen von draußen oder aus dem Aufzug und führen an der Rezeption kurze Gespräche mit Lieke, die ihnen entweder eine gute Nacht oder einen schönen Abend wünscht. Kalk beobachtet aus dem Augenwinkel, wie sie mit dem Computer beschäftigt ist. Manchmal geht sie kurz in den hinteren Raum, wahrscheinlich ist dort eine Toilette oder sie kann irgendwo rauchen. Ob sie überhaupt raucht? Sie wirkt wie eine, die in allen Belangen auf sich achtet. Disziplin oder einfach nur Glück gehabt in der Genlotterie? Ihre Jugendlichkeit wird ihr noch lange erhalten bleiben.

Er widmet sich erneut dem Zeitungshaufen. Als er erneut aufblickt, steht ein Mann neben Lieke, mit dem sie scherzt und lacht. Es scheint ein Arbeitskollege zu sein, denn er trägt ebenso wie sie ein dunkles Oberteil mit dem Emblem des NH Atlantic. Kalk kann nicht genau hören, worüber sie reden. Aber er spürt ihre Innigkeit. Die beiden umarmen sich und Lieke verlässt das Hotel durch den Hauptausgang. Er entscheidet schnell. Steht auf und verlässt ebenso das Hotel. Kalk sieht, wie Lieke einen kleinen Peugeot 206 ausparkt und links auf die Straße abbiegt. Kalk setzt sich in seinen Wagen, startet ihn, folgt ihr. Warum genau, weiß er nicht. Er weiß nur, dass, wenn er es nicht täte, er nicht wüsste, was er sonst machen würde. Ein seltsamer Automatismus. Aber es ist ja nicht strafbar, sich für seine schönen Mitmenschen zu interessieren, denkt er. Gleichzeitig ist ihm sein eigenes Verhalten unheimlich.

Beim Verlassen des Parkplatzes muss er einen Wagen vorlassen. Kalk macht das Radio an, einfach nur, weil er eine Stimme braucht, die mit ihm redet. Die Beach Boys singen Kokomo und die Nacht, das Draußen, dieses Lied, alles summt vorbei. Kalk kennt den Song und trommelt den Beat auf dem Lenkrad mit.

Was für eine wunderbare Stimme dieser Sänger doch hat. So warm, zart und einfühlsam. Als wäre er ein Freund, dem man in schwierigen Stunden so einiges anvertrauen könnte.

Hey, unbekannter Beach Boys-Sänger,

ich fahre gerade durch die Nacht und grundlos einer Frau hinterher. Ich kenne sie nicht, aber ich finde sie irgendwie besonders. Was würdest Du mir raten? Weiterfahren? Umkehren? Schlafen gehen? Wäre cool, wenn Du mir antwortest. Ach ja, kennst Du das Gefühl, Angst davor zu haben, verrückt zu werden?

Dein Kalk (Stefan)

Der Sänger antwortet umgehend:

… everybody knows

a little place like Kokomo now if you wanna go

to get away from it all

go down to Kokomo …

Sie fahren weiter durch die Nacht, verlassen Kijkduin Richtung Den Haag Centrum. Dann folgen sie der Umgehungstraße am Stadtzentrum vorbei Richtung Osten. Was sie wohl vor hat? Was machen Frauen wie Lieke in Nächten wie diesen? Tanzen, Drogen nehmen, den Tag vorbeiziehen lassen, den Kopf entlüften, Stress abbauen, der Nacht alles entnehmen, was sie einem zu bieten hat? Die Schönheit, die eigene Jugend zelebrieren? Kalk versucht, in unauffälliger Distanz zum Wagen vor ihm zu bleiben. Er blickt auf die digitale Uhr neben der Geschwindigkeitsanzeige. 00:05 Uhr und 56 km/h.

Der Wagen zwischen ihm und Lieke biegt rechts ab. Kalk reduziert seine Geschwindigkeit. Zum Glück drängt sich an der nächsten Kreuzung wieder ein Auto zwischen sie. Er folgt Lieke weiter, bis sie in ein Industriegebiet einbiegt und links und rechts riesige Gewerbehallen für Fischmehl- und Plastikproduktion erscheinen. Bald schert auch das Fahrzeug zwischen ihnen aus und nun ist Liekes kleiner Peugeot direkt vor ihm. Ansonsten ist kein Auto unterwegs. Unauffällig versucht er, weiterhin seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Sie kommen an eine große Kreuzung und Kalk bemerkt, wie Lieke auf die linke Abbiegespur wechselt. Er spürt, wie sein Gehirn nicht mehr mitarbeitet, wie darin kein vernünftiger Gedanke mehr entwickelt wird. Er reagiert nur noch auf das, was um ihn herum passiert und bleibt auf seiner Spur. Die Uhr zeigt 00:19 Uhr, die Straßen sind leer. Was erwartet man auch nachts im Industriegebiet? Bestimmt lebt Lieke hier draußen, weil die Mieten in der Stadt unerschwinglich sind. Was zur Hölle mache ich hier?, fragt sich Kalk. Kurz überlegt er, einfach zu wenden, aber das wäre zu auffällig, damit würde er sich verraten.

Langsam bringt er sein Fahrzeug auf gleiche Höhe mit Liekes Peugeot. Es ist eine dreispurige Kreuzung, eine Spur links, eine für Rechtsabbieger, eine mittige. Kalk könnte jetzt einfach hupen und winken oder aussteigen, an ihre Scheibe klopfen, ein Gespräch beginnen.

Die Ampel zeigt immer noch rot.

Dann gelb.

Dann grün.

Kalk bleibt stehen, hinter ihm ist nach wie vor niemand. Lieke fährt im Schritttempo nach vorn, er schließt langsam mit seinem Wagen auf. Plötzlich schaut sie zu ihm herüber. Er erkennt Entsetzen in ihrem Gesicht, pure Angst, sie schreit lautlos in ihr Auto. Ihre Reifen quietschen, als sie den Fuß ruckartig von der Kupplung nimmt und ihr Fahrzeug Richtung Kreuzungsmitte beschleunigt. Auch Kalk überquert die Kreuzung und schaut Liekes Wagen nach, der in rasantem Tempo über eine rote Ampel brettert.

Von der Seite rast mit hoher Geschwindigkeit ein Tanklastzug auf das Auto zu.