Abschied

Ein Kollisionsgeräusch und ein langsames, irre lautes Schleifen zerreißen die Stille der Nacht. Kalk sieht durch das Seitenfenster, wie der kleine Peugeot vom LKW mitgeschliffen wird. Metall verkantet sich in Metall. Seitlich sprühen Funken und dieses wahnsinnige Geräusch durchdringt das nächtliche Industriegebiet. Er kann nicht sehen, wie weit Liekes Wagen mitgeschliffen wird. Impulsiv tritt Kalk aufs Gas und verschwindet in der Dunkelheit.

Was er da gesehen hat, kann nichts anderes als der Tod von Lieke Braasterhoolt, Rezeptionistin im NH Atlantic, gewesen sein. Zerschmettert, püriert, ins Metall eines französischen Kleinwagens gefaltet. Den Rettungskräften wird sich ein Bild des Grauens bieten. Er beschleunigt sein Auto, will, dass das Geräusch, will, dass der Gedanke an das auseinandergerissene Fleisch von Lieke aufhört.

Bei derartigen Geschehnissen bleibt nur ein schwer zu verarbeitendes Trauma übrig, wenn man geöffneter, schwer verwundeter, stark blutender Körper ansichtig wird. Das ist nicht gut, das sollte auf jeden Fall vermieden werden. Schräg an großen Unglücken vorbeizugucken, hat hingegen noch niemandem geschadet. Er hat erneut den blassen Surfer vor Augen, den man damals aus der Nordsee gezogen hat. Dass er diese Situation noch detailliert vor Augen hat, ist ein Beweis dafür, dass zu viel Elend einem das Leben versauen kann. Und wenn ein erschreckendes Bild so lange hält, will man es nicht durch ein neues ersetzen. Das verschwindet dann nie wieder.

Vielleicht ist ihr auch nichts passiert, sie ist rausgesprungen oder hat es sonst wie überlebt und wird ihm morgen wieder einen schönen Tag wünschen. Ja, so wird es sein. Liekes Glanz wird ihr doch so ein Tanklastzug nicht nehmen können. Kalk steuert sein Auto über eine Umgehungsstraße zurück zum Hotel. Er wird mit dem Unfallgeschehen nicht in Verbindung gebracht werden können. Wie auch? Er hat keine Straftat begangen und somit nichts zu befürchten. Außerdem glaubt er daran, dass Lieke den Unfall überlebt hat. Wenn nicht, wäre sein Gesicht das letzte gewesen, das sie gesehen hat. Wenn doch, dann auch.

Die Nacht war schwarz und traumlos. Sein Kopf ist gleichzeitig übervoll und komplett entleert. Alle Verrichtungen wie duschen, rasieren und ankleiden hat er aus einer Art Automatismus erledigt. Aber Kalk hat es geschafft. Er sieht aus wie ein unauffälliger Mensch.

Ein kurzer Kontrollblick in den Spiegel des Aufzugs. Es sind keine Merkmale eines Straftäters erkennbar. Kurz vor halb neun betritt er den Frühstückssaal. Er hat sich nicht getraut nachzusehen, wer an der Rezeption arbeitet. Er merkt, dass er nicht ausgeschlafen hat, und nimmt sich einen Kaffee. Neben ihm sitzt ein älteres Ehepaar. Als der Mann Reste seines Rühreis mit dem Messer auf dem Porzellanteller zusammenkratzt, muss Kalk an das Schleifgeräusch denken. Kurz wird ihm übel. Er steht noch einmal auf und holt sich ein Brötchen und zwei Scheiben Räucherlachs. Kalk denkt, dass es auffällig für andere wirken könnte, wenn er nur übermüdet einen Kaffee trinkt, dass dann alle denken, er habe etwas zu verbergen, also belegt er das Brötchen, obwohl er keinen Hunger hat.

Er verschlingt es mit wenigen Bissen. Die Übelkeit verschwindet nicht. Senioren und Seniorinnen grüßen ihn. Feist fressende Freundliche, die jeden grüßen, von dem sie nichts Böses vermuten. Eigelb um die Mundränder, kollektiver Kaffeeatem. Hat Kalk sich schuldig gemacht? Hätte er versuchen müssen, die verstümmelten Reste von Lieke Braasterhoolt aus dem Wagen zu zerren oder den Krankenwagen zu rufen? Essende Menschen sind unauffällig, denkt er und geht nochmal zum Buffet. Er lädt sich Rührei, zwei Scheiben Brot, ein paar Streifen gebratenen Speck, ein Dreieck Camembert sowie Gurken- und Tomatenscheiben auf seinen Teller und setzt sich an einen freien Tisch im Frühstücksraum. Er beginnt zu essen. Die Übelkeit gibt langsam nach.

Kalk beobachtet ein Ehepaar, das zwei Tische von ihm entfernt sitzt. Die beiden sind ungefähr in seinem Alter. Sie reden nicht miteinander, haben aber weder Zeitungen noch Handys bei sich, die dieses Schweigen begründen würden. Sie tragen Funktionsjacken zu Radlerhosen und essen hastig und mit fahrigen Bewegungen. Beide wirken durchtrainiert und wetterfest. Fast so, als wären sie auch ohne ihre Jacken wasserabweisend. Ja, wetterfeste Menschen sind das. Außerdem sehen sie aus, als wären sie auf alles vorbereitet. Krieg, Frieden, totale Auslöschung der Welt. Egal was da kommen mag, dank ihrer Fitness und ihrer Ausrüstung werden sie damit fertig.

Kalk fragt sich, wie es wohl aussieht, wenn einer von ihnen wirklich traurig ist. Er stellt sich vor, wie der Mann mit einer Darmkrebsdiagnose nach Hause kommt und sich vor den Fernseher setzt, Tränen in den Augen. Seine Partnerin kommt dazu und er berichtet von der Tragik der Diagnose und dass es vielleicht noch drei Monate sein können, eher weniger, und dass das Ende schlimm werden wird. Sie streichelt ihm mechanisch über den Kopf, immer wieder über die gleiche Stelle. Sie würde gerne weinen, ist aber gar nicht angemessen traurig. Woher jetzt die passende Traurigkeit zur Krebsdiagnose nehmen? Sie streichelt fester und streichelt zunächst einmal eine kahle Stelle in die Haare. Dann die Kopfhaut. Das permanente Streicheln zersetzt die Hirnhaut. Sie erwischt zufällig die Region im Gehirn, die gleichzeitig Schmerzen ausschaltet und Traurigkeit lindert. Sie streichelt weiter, weil ihr nichts einfällt, außer ihren Mann mechanisch im Schädelinneren zu streicheln. Streicheln ist Trost, so hat sie es gelernt, so vollzieht sie es. Sachlich und lieblos. Durchstrukturiert wie ein behördlicher Vorgang. Immer weiter, immer tiefer. Streicheln, streicheln, streicheln. Durch die Kontinuität dieses Streichelns stirbt der Mann alsbald, schmerzfrei, friedlich, fast glücklich. Hat aber gedauert. Sie nimmt ihre Hand aus seinem Kopfinneren und wischt sie an ihrer Funktionsjacke ab. Endlich kann sie weinen. Endlich alleine, wird sie denken, aber ich vermisse ihn schon jetzt. Ja, vielleicht ist das das Glück, von dem die ganzen Ratgeber erzählen. Vielleicht ist das der Grund für stabile Beziehungen, vielleicht macht man deswegen Urlaub an der Nordseeküste, frühstückt schweigend nebeneinander, leidenschaftslos, aber mit großem Überlebenswillen. Kalk hat keine Ahnung, was bei denen wirklich los ist. Er ist ein Spekulant am Wegesrand, ein zufälliger Zeitzeuge. Die beiden schauen aneinander vorbei, aber immerhin sitzt da jemand. Sie kauen und schlucken wie Maschinen, fernab von jedwedem erkennbaren Genuss.

Als er den Frühstücksraum verlässt, wirft er doch einen kurzen Blick auf den Rezeptionstresen. Dort hat man ein Foto von Lieke aufgestellt. Ein schwarzer Rahmen. In der oberen rechten Ecke befindet sich ein Trauerflor, ein schwarzes Band, das ihr aber den fröhlichen und lebensbejahenden Ausdruck nicht nehmen kann. Sie wirkt weiterhin wie das blühende Leben.

Es ist also wahr.

Sie ist tot.

Wie flüssiger Teer rinnt diese Erkenntnis langsam in Kalks Bewusstsein. Dann ist da lange kein Gedanke, keine Regung.

»Sorry, ze zin in orde?«, fragt der junge Mann hinter Liekes Bild und kurz kommt es ihm so vor, als hätte Lieke selbst gefragt, ob alles in Ordnung sei. Als würde sie sich aus dem Jenseits um seine Befindlichkeit sorgen.

»Danke, alles okay«, sagt er und bemerkt erst jetzt, dass er regungslos mitten im Durchgang steht und Liekes Bild anstarrt. Eine Gruppe Senioren muss umständlich um ihn herumlaufen, aber alle schauen freundlich.

Schnell läuft Kalk weiter, Richtung Aufzug. Dort erträgt er kaum die kurze Fahrt mit sich allein. Im Zimmer kann er keinen Gedanken zu Ende denken. Er packt seine Bekleidung aus dem Schrank in den Rollkoffer und räumt die Badezimmerutensilien in seinen Kulturbeutel. Als sei er auf der Flucht, achtet er nicht auf Sortierung und Strukturierung, sondern nur darauf, dass er alles einpackt, was ihm gehört.

So, denkt er, als er sich noch einmal im Zimmer umblickt und die Vorhänge zum Balkon schließt. Unruhig geht er im Raum auf und ab, schaut auf den Teppich mit den Meeresmotiven. Muscheln und Seepferdchen schauen zurück. Niemand hält ihn auf. Er schließt den Rollkoffer, ist außer Atem, schwitzt an der Stirn, auf der Oberlippe. Sich selbst ein letztes Mal im Aufzug anzusehen, dazu fehlt ihm der Mut, also nimmt Kalk die Treppe.

»Checkout, bitte«, stößt er an der Rezeption hervor. Beide Wörter presst er aus dem Inneren seines Mundes. Er versucht, Liekes Bild nicht anzusehen. Jemand hat drei verschiedenfarbige Schnittblumen vor ihr Foto gelegt. Der Rezeptionist nimmt Kalks Schlüsselkarte entgegen. Es ist nicht derjenige, der Lieke gestern abgelöst hat.

»War alles in Ordnung?«

»Ja, alles okay, ich hatte einen angenehmen Aufenthalt«, sagt Kalk.

»Brauchen Sie die Rechnung?«, fragt der Rezeptionist.

»Nein, danke.«

Er zahlt den Betrag mit seiner Kreditkarte und verlässt hektisch das Hotel, ohne sich noch einmal umzublicken.

Es ist wieder so unglaublich heiß. Kalk legt seinen Rollkoffer in den Kofferraum. Dann fährt er los, ohne zu wissen, wohin eigentlich. Es ist zu still im Auto. Kalk macht das Radio an, betätigt den Sendersuchlauf und bleibt bei einem Klassiksender hängen. Er kennt sich mit dieser Musik nicht aus, weiß aber, dass sie imstande ist, bestimmt Gefühle hervorzurufen oder zu unterstreichen. Ein neues Gefühl hervorzurufen, wäre jetzt auf jeden Fall besser, als ein bestehendes zu unterstreichen. Kalk fährt durch Kijkduin. Er schaltet sein Navi ein. Es zeigt an, dass er in ungefähr 4,5 Stunden zu Hause sein könnte, sofern er sich jetzt auf den Weg machen würde. Aber was dann? Die Streichinstrumente aus dem Radio lösen kein Gefühl aus, sie sind einfach nur da, erscheinen ihm wie der Soundtrack zur eigenen Bedeutungslosigkeit. Eine Weile lang fährt er parallel zum Meer, das immer wieder hinter den Strandhotels verschwindet.