10. Nordischer Straßenlärm

Am nächsten Morgen beschloss ich, dass es keinen Sinn machte, ihn allzu früh zu wecken. Also nahm ich mir viel Zeit für eine ausgiebige Körperpflege. Ich duschte mich, cremte mich mit duftender Bodymilk ein und kämmte mein Haar so lange, bis es sich richtig weich und seidig anfühlte. Dann versuchte ich es wieder bei Mama, doch sie ging nicht ran. Na ja, vielleicht war sie gerade beim Frühstück …

Um elf musste ich wohl oder übel beschließen, Nicki mit Gewalt aus dem Bett zu reißen, wenn wir rechtzeitig zu unserem Treffen im Schlosspark kommen wollten. Umso mehr staunte ich, dass er wach war, als ich in sein Zimmer trat. Weil ihm ziemlich übel war, verpasste ich ihm eine Tablette dagegen.

«Hab ich gestern echt den ganzen Kanister leergesoffen?», stöhnte er ungläubig.

«Fast», sagte ich. «Ich glaub, es waren beinahe zwei Drittel davon.»

«Kann mich gar nicht mehr dran erinnern, wie ich ins Bett gekommen bin.»

«Ich schon.»

Sein Blick ruhte auf mir. «Ich bin bescheuert, was?»

«Ein bisschen», neckte ich ihn. Er verdrehte die Augen, als er aus dem Bett kletterte und ins Bad torkelte. Ich fragte mich, ob er sich noch an all das erinnerte, was er in seinem Zustand am Vorabend gelallt hatte.

Wie Hendrik vorausgesagt hatte, war das Wetter ziemlich schön und sogar warm genug, um die Jacke wegzulassen. Trotzdem hatte ich natürlich darauf bestanden, sie mitzunehmen, auch wenn Domenico über mein bemutterndes Verhalten wieder mal ein wenig gebrummelt hatte. Aber ich kannte keine Gnade und packte sogar noch den schwarzen Wollschal in meine Handtasche. Man wusste ja nie, ob das Wetter nicht wieder abstürzte.

Dank Hendriks präziser Wegbeschreibung brauchten wir nicht lange, um ihn und seine Freunde im Schlosspark ausfindig zu machen. Hendrik hatte Recht gehabt: Er und seine Truppe waren im wahrsten Sinne des Wortes nicht zu übersehen! So eine Ansammlung schriller Vögel hatte ich schon lange nicht mehr getroffen.

Auffallend war, dass sie alle rote Latzhosen und rote Mützen trugen. Hendrik mit seinen Rastazöpfen war noch der Harmloseste von allen, er trug lediglich ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt unter den Latzhosen und war gerade dabei, seine Gitarre zu stimmen. Ein anderer lag da mit nacktem Oberkörper, den Hosenlatz um den Bauch gebunden und den Oberkörper mit Sprüchen und einer norwegischen Flagge vollgepinselt. Auf seinem bloßen Bauch stand eine Dose Bier. Außerdem trug er zwei verschiedene Paar Socken, eine braune und eine pinkfarbene. Noch ein anderer hüpfte mit einer giftgrünen Sonnenbrille und ebenso giftgrünen Schuhen umher und hatte eine Trillerpfeife im Mund. In der Hand hielt er einen Riesentroll aus Plüsch und tat so, als würde er mit ihm tanzen.

Die anderen Jungs sahen nicht weniger krass aus. Auch ein paar Mädchen saßen in der Runde, alle ebenfalls in roten Latzhosen und Mützen. Insgesamt waren es mindestens fünfzehn Leute. Aus einem großen Boomblaster drang laute Rockmusik.

«Hey, genau solche Typen hab ich bei der Burg getroffen», stellte Domenico fest. Er selbst trug wieder seine Sonnenbrille, hatte die Kapuze aber dieses Mal weggelassen, weil ihm zu warm war für den Pullover.

Hendrik winkte sofort, als er uns erblickte. Er legte die Gitarre zur Seite und sprang auf die Füße.

«Heihei, kommt her!»

Wir traten auf die Gruppe zu. Hendrik umarmte erst mich, dann Domenico, als wären wir längst alte Freunde.

«Takk for i går», sagte er.

«Takk for was?», fragte Domenico.

«Oh, sorry. So sagt man hier in Norge. Ihr kennt das nicht in Tyskland. Aber hier bedankt man sich immer für das letste Mal. Takk for sist.» Hendrik verbeugte sich scherzhaft.

«Ach so.»

«Hej, den tatoveringen er kjempekul!» Hendrik zeigte begeistert auf Domenicos Tattoo an dessen Oberarm.

«Oh, echt? Danke, das freut mich natürlich», stotterte Domenico etwas überrumpelt.

«Kommt, ich stelle euch meine Freunder vor», sagte Hendrik und begann sogleich mit der Vorstellungsrunde. Der Typ mit dem nackten Oberkörper und der Bierdose auf dem Bauch war sein bester Freund Sverre. Dieser hob seine Bierdose und prostete uns zu. «Skål!»

«Er ist betrunken und redet Blödsinn, also nehmt ihn nicht ernst», sagte Hendrik und verdrehte die Augen. «Wenn Russ vorbei ist, ist er wieder normal. Ikke sant, Sverre?» Er trat seinem Freund spielerisch mit dem Fuß in die Seite – ein wenig zu stark, denn die Bierdose kippte um, und der Inhalt ergoss sich über das gepinselte Kunstwerk auf Sverres Bauch.

«Bäääh!» Sverre schoss hoch. «Hendrix, dü bischt ein Freak!», zeterte er in schlechtem Deutsch.

Hendrik grinste von einem Ohr zum andern. Sein Gesicht war etwas voller als das von Nicki. Die Grübchen sahen darin richtig niedlich aus.

«Was ist eigentlich Russ?», fragte ich.

«Ach so. Wir nennen so in Norge die Schulabschlussfeier. Das ist bei uns Tradisjon. Wir gehen alle in roten Hosen und Mütsen herum und machen tagelang Party.»

«Das haben die mir auf der Burg oben auch erklärt», meinte Domenico.

«Hier. Wollt ihr meine Russekort?» Hendrik überreichte uns stolz zwei rote Visitenkarten – genau solche, wie sie Domenico von seinem mitternächtlichen Ausflug zur Burg mitgebracht hatte. Ich stürzte mich natürlich sofort darauf, das Kinderfoto von Hendrik zu studieren. Ein putziger blonder Junge mit Pausbacken grinste mich darauf an. Ich wusste schon, dass ich Stunden damit verbringen würde, sein Bild mit den Kinderbildern der Zwillinge zu vergleichen. Doch als ich seinen ganzen Namen las, stutzte ich. Hendrik Finn Skipperstøen? Warum nicht Janssen? Müsste er nicht den Namen seines Vaters haben, auch wenn seine Eltern geschieden waren? Oder lief das in Norwegen anders? Die Sache wurde immer vertrackter.

Hendrik stellte uns den Rest der Truppe vor: Thore war der Typ mit dem Troll und den grünen Schuhen, Thores Freundin, ein hübsches, blondes Mädchen, hieß Anniken, dann waren da Magne, Eila, Helene, Kristian, Erik und wie sie alle hießen. Natürlich konnte ich mir nicht alle Namen merken. Fast alle hatten Bierdosen, und jeder, dessen Namen Hendrik aufrief, prostete uns fröhlich zu. Alle schienen extrem guter Laune zu sein.

«Maya og Nick fra Tyskland!» Hendrik deutete mit einer Verneigung auf uns, als hätten wir gerade eine Vorstellung gegeben. Alle applaudierten und prosteten uns wieder zu.

«Wir sind ein bissken lustig», erklärte Hendrik mit einem Lächeln. «Man feiert ja nur einmal im Leben Russ. Kommt, setst euch.» Er machte eine einladende Geste in die Runde.

Wir ließen uns neben Hendrik im Gras nieder. Nicki bekam bereits die ersten neugierigen Blicke von den Mädchen zugeworfen. War ja klar! Ich rutschte nahe an ihn heran, und er setzte sich so zurecht, dass ich mich an seine Brust lehnen konnte.

Sverre warf uns zwei Bierdosen zu. «Bitteskjønn.»

Domenico fing eine der beiden Dosen mit einer Hand auf, die andere plumpste neben mir ins Gras.

«Verträgst du überhaupt Bier, Principessa?», fragte er.

«Keine Ahnung.»

«Printschipessa!» Sverre, der das Wort aufgeschnappt hatte, schlug sich wie ein schmachtender Ritter gegen die Brust und verschüttete dabei prompt wieder die Hälfte seines Bieres. «Du er min prinsesse!»

«Sverre! Din dust!» Hendrik stieß seinen Freund tadelnd in die Seite. Mir fiel auf, dass Hendrik der Einzige war, der keine Bierdose hatte.

«Ich habe noch nie Bier getrunken», sagte ich. «Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt mag.»

«Du musst nicht trinken, wenn du nicht willst», sagte Hendrik. «Ich trinke auch nicht.»

«Generell nicht?», fragte Domenico neugierig. «Also, ich meine, trinkst du nie Alk oder so?»

«Doch, klar, ab und su trinke ich schon Bier. Aber ich halte nichts davon, mir den Knollen su vollsaufen.» Er tippte sich an die Schläfe. «Brauche das da sum Denken!»

«Find ich gut», sagte Domenico. Er wog die Dose nachdenklich in der Hand.

«Möchtest du eine mit mir teilen, Maya? Ne ganze Dose ist ja sowieso zu viel für dich. Sonst muss ich dich dann nachher noch heimtragen.»

«Oder ich dich», konterte ich prompt.

Er grinste, rutschte etwas hin und her, damit ich bequemer saß, und öffnete die Dose. Nachdem er ein paar Schlucke genommen hatte, gab er mir die Dose und zündete sich selbst eine Zigarette an. Ich nippte vorsichtig am Gerstensaft. Er schmeckte ziemlich bitter.

«Liker du øl?» Sverre strahlte mich an. Er war eigentlich recht hübsch und hatte dunkelblondes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.

«Öhm … na ja, ziemlich bitter», antwortete ich in der Hoffnung, die Frage richtig verstanden zu haben.

«Das hat Bier so an sich», sagte Hendrik und nahm seine Gitarre zur Hand. Er summte eine Melodie und strich sachte über die Saiten. Sverre schnappte sich die andere Gitarre, die im Gras rumlag, und gemeinsam fingen sie an, im Duett zu spielen. Ich trank noch ein paar Schlucke, in der Hoffnung, mich bald an den bitteren Geschmack zu gewöhnen. Schließlich nahm Domenico mir die Dose behutsam wieder aus der Hand.

«Nicht so schnell. Du bist das nicht gewohnt.»

Ich wollte schon meckern, doch als ich mich aufrichtete, merkte ich, dass mir tatsächlich schwindlig war. Typisch. Ich vertrug wirklich so gut wie gar nichts. Domenico konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er löschte die Kippe aus und legte sich dann auf den Rücken, damit ich seinen Bauch als Kopfunterlage benutzen konnte.

«Geht's?», fragte er sanft.

«Natürlich», knirschte ich. Er verwuschelte zärtlich mein Haar mit seiner Hand…

Auf einmal fing Sverre an, ein Blödellied zu spielen.

«Chickelacke, chickelacke, show, show, show, Bummelacke, bummelacke, bow, bow, bow! Chickelacke, bummelacke, jazz bom bøh! Julekake, julekake, hjembakt brød!»

Alle anderen fielen ein und klatschten im Takt dazu.

«Das ist unser Russesong», erbarmte sich Hendrik ob unserer verdutzten Gesichter.

«Habt ihr immer eure Gitarren dabei?», fragte Domenico.

«Ja, naturlig. Wir spielen in einer Band», sagte Hendrik nicht ohne Stolz.

«Also 'ne richtige Musikband?»

«Ja. Wir heißen Nordic Streetnoiz. Nordisker Straßenlärm.»

«Und habt ihr auch ein Musiclabel oder so was?» Domenico lehnte sich etwas zurück, damit ich bequemer auf seinem Bauch lag.

«Nei. Wir haben kein Label. Wir machen alles selbst. Unsere CDs, die Songs – alles selber!»

«Und was spielt ihr für 'ne Art Musik?»

«Rock, Metal … von allem ein bissken.»

«Aber warum trägst du dann Rastalocken?»

«Einfach so. Ist halt kult.»

«Kult?»

«Ach so. Ihr sagt dazu cool.»

«Ja …» Domenico nestelte in seiner Hosentasche und zog eine neue Kippe raus. Ich freute mich, dass er so gut drauf war. Er schien Hendrik tatsächlich zu mögen. Das lief ja alles viel besser, als ich es mir erträumt hätte.

Hendrik musterte Domenico aufmerksam, und etwas Weiches, Nachdenkliches lag in seinem Gesicht.

«Du bist kein Deutscher, ikke sant?», fragte er auf einmal.

«Wie kommst du darauf?» Domenicos Körper spannte sich an, seine Bauchmuskeln zogen sich regelrecht zusammen und wurden ganz hart.

«Du sprichst nicht wie ein Deutscher. Du hast Aksent. Und gans am Anfang hast du sogar italiensk mit mir gesprochen.»

Hendrik war das also aufgefallen.

«Ja, ich bin Italiener», sagte Domenico leise. Und ganz vorsichtig fügte er hinzu: «Eigentlich heiße ich Domenico, aber die meisten nennen mich Nic. Oder auch Nico.»

«Domenico? Gans schöner Name.» Hendrik nickte anerkennend.

«Schön? Es geht. Viel zu lang.»

«Ich nenne dich Nick, wenn du willst. Passt su mir. Meine Freunder nennen mich alle Rick. Wir swei sind jetst einfach Nick und Rick.»

«Nick und Rick», wiederholte Sverre und lachte. Er fand das offensichtlich furchtbar lustig. Er grinste mich ziemlich offensiv an und sagte, explizit an mich gerichtet: «Isch nenner ihn Jimi Hendrix.»

«Ja ja.» Hendrik rollte mit den Augen.

«Sag dem mal, er soll meine Frau nicht dauernd anmachen», schnaubte Domenico in Sverres Richtung.

«Wie? Frau? Wieso? Seid ihr verheiratet?» Hendrik sah uns perplex an.

«Nee, sagt man halt so.»

Mein Herz schlug heftig. Irgendwie gefiel es mir unheimlich, dass Nicki so eifersüchtig war.

«Tut mir leid», grinste Hendrik. «Ich sag ihm, er soll sich benehmen.»

«Wer gehört denn alles zu eurer Band?», fragte ich.

«Sverre, Thore und ich.» Hendrik zeigte auf Thore, der gerade zum Spaß seinen Troll knutschte. «Thore spielt Bass und Sverre spielt Schlagseug und E-Gitarre.»

Auf einmal spürte ich, wie Nickis Lunge sich schmerzhaft zusammenzog, als er wieder mal zu tief an der Zigarette zog. Er schmiss die Kippe schleunigst weg. Seine Bauchmuskeln zitterten regelrecht. Ich musste ihm nachher unbedingt Hustentee einflößen. Hoffentlich hatte er sich nicht doch erkältet in den kalten und teilweise sogar nassen Nächten. Er durfte auf keinen Fall eine Lungenentzündung kriegen.

Sverre tippte Hendrik an, und die beiden Jungs diskutierten eine Zeitlang miteinander in ihrer Sprache. Dann wandte sich Hendrik an uns.

«Sverre fragt, ob ihr heute Abend auch kommen wollt. Es gibt ein Russefesten bei ihm su Hause. Ihr seid eingeladen.»

«Was geht dort ab?», fragte Domenico, der sich wieder etwas beruhigt hatte.

«Ach, eine Menge Saufen wahrscheinlich», sagte Hendrik. «Ich gehe sowieso nicht hin. Ich habe Streetwork.»

«Streetwork?»

«Ja, wir gehen su den Prostituierten und helfen ihnen und so, forstår du?», erklärte Hendrik mit seinem herzerweichenden norwegischen Akzent.

«Zu den Prostituierten?» Domenicos italienischer Akzent bildete einen geradezu harten Kontrast zu Hendriks Aussprache. Sein Körper spannte sich wieder an. «Warum denn das?»

«Ach, ich helfe in der Kirche.»

«Du gehst in 'ne Kirche?»

«Ja. Ich bin altmodisch, was?» Hendrik lächelte.

«Nee, bist du nicht», sagte Domenico.

«Ist mir egentlig auch egal», winkte Hendrik ab. «Sverre sagt sowieso, dass ich ein Freak bin, also mache ich, was ich will.»

Eine Weile war es still. Domenicos Bauchmuskeln wurden wieder etwas weicher. Auf einmal sprang Hendrik auf seine Füße.

«Soll ich euch nun ein bissken von Oslo seigen? Ich habe nemlig den Kids versprochen, dass ich mit ihnen am Nachmittag was unternehme. Wir können alle susammen was machen.»

«Den Kids?», fragte Domenico. Sofort wurde meine Unterlage wieder hart.

«Ja. Mein Halbbruder und meine Halbschwester. Kjetil und Solvej. Mein Vater ist ja an einem Trainingswochenend für Nachwuchsathleter. Liv begleitet ihn. Die Kids sind bei Großelterne, aber sie langweilen sich dort immer so skrekkelig. Ich muss sie ein bissken erlösen. Habt ihr Lust?»

Mein Kopfkissen war auf einmal weg, und mein Kopf knallte auf den Rasen. Nicki war aufgesprungen, als hätte ihn eine Wespe gestochen, und schaute zum Himmel empor, wo ein paar fette Wolken auf die Sonne zusteuerten. Und dieses Mal war ich froh, dass Sverre ausgerechnet in dem Moment einen dummen Witz machte, so dass Hendrik ihn schalkhaft in die Seite kickte. Einen kurzen Augenblick später waren die beiden Jungs nämlich in eine spielerische Keilerei verwickelt, und ich konnte mich unbemerkt verdrücken und Nicki folgen, der sich ein paar Schritte Richtung Schloss entfernt hatte. Er stand da und starrte finster vor sich hin. Aus irgendeinem Grund hatte er die Sonnenbrille abgenommen.

«Was ist los?»

«Es stimmt nicht. Er hat doch nicht drei Kinder?»

Ich blickte genauso wenig durch.

«Weißt du, was das bedeutet, Maya?» Er kniff die Augen zusammen und wartete meine Antwort gar nicht ab. «Das bedeutet, dass mein Alter in einigen Betten rumgehüpft ist.»

«Warte …»

«Doch.» Er wollte sich wieder eine Zigarette zwischen die Lippen stecken, doch ich riss sie ihm blitzschnell aus der Hand. Er ließ es geschehen. «Überleg mal. Dem seine Mutter … das ist nicht die Frau, mit der mein Alter jetzt verheiratet ist. Die andern beiden Kids sind von der neuen Frau. Das sind die, von denen in der Zeitung geschrieben stand.»

Das war wirklich eine aufregende Geschichte. Morten Janssen hatte also nicht zwei Kinder, sondern drei – wenn man Nicki und Mingo mal nicht dazuzählte!

«Vielleicht ist meine Alte sogar schuld dran, dass dem seine Eltern nicht mehr zusammen sind.» In seinen Augen tat sich ein Abgrund auf. «Und wer weiß – vielleicht bin ich sogar schuld daran!»

«Du doch nicht, Nicki», sagte ich leise. Er keuchte auf einmal und presste wieder die Hand auf seine Brust.

«Du hast Schmerzen, nicht wahr?»

«Nee …»

«Gib's schon zu.» Ich schob sachte seine Hand weg, damit ich seine Brust massieren konnte. Er sagte nichts mehr und ließ mich gewähren.

«Es würde vielleicht besser gehen, wenn ich meine Hand unter dein Oberteil schieben dürfte?», wagte ich zu fragen.

«Nein!»

«Ich fasse die Narben nicht an, wenn du das nicht willst.»

«Ich hab Nein gesagt!» Er war auf einmal fast den Tränen nahe. Ich zog kurzerhand den Wollschal aus meiner Handtasche und wickelte ihn fest um seinen Hals.

«So. Ich bestehe darauf, dass du den anbehältst. Und ich koche dir nachher Tee, und der wird getrunken.»

«Spinnst du? Ich vergeh fast vor Hitze.» Er zerrte sich den Schal wieder vom Hals und schmiss ihn zu Boden.

«Nicki!»

«Lass mich!»

«Was ist los?»

«Gar nichts. Kacke ist! Ich geh nach Hause!»

Er setzte sich die Sonnenbrille wieder auf.

«Hey. Beruhig dich.» Ich umschloss ihn sanft von hinten und küsste ihn auf den Nacken. Er war das nicht gewohnt und machte sich wieder frei.

Auf einmal stand Hendrik neben uns. «Hej, was ist mit euch? Kommt ihr jetst mit?»

«Ich weiß nicht … Nicki?»

Er gab keine Antwort. Ich schlang meinen Arm um seinen Hals und zog seinen Kopf heran. «Hendrik fragt, ob wir mit ihm und seinen Halbgeschwistern mitgehen wollen?»

«Geh du doch, wenn du willst.»

Ich wusste nicht, was ich mit dieser Antwort anfangen sollte. Ich sah Hendrik an.

«Mein Freund fühlt sich nicht so wohl, glaub ich. Wir gehen vielleicht besser erst mal ins Hotel zurück.»

«Oh, virkelig?» Hendrik sah ein wenig traurig aus. «Na ja, ich muss auch erst noch nach Bygdøy fahren und die beiden Nervensägen abholen, und dasu brauche ich das Auto. Aber das steht in Lillestrøm. Ich muss suerst mit mein Motorsykkel hjem nach Lillestrøm und dann surück mit Auto. Das schaffe ich nicht in einer Stunde. Aber wir können uns auch erst später um halb vier Uhr vor dem Rathaus treffen, wenn ihr wollt?»

«Okay», sagte ich und entschied blitzschnell. Ich würde auf alle Fälle mitgehen, egal, wie Nicki drauf war.

Als wir uns ein wenig später von den anderen verabschiedeten (Sverre konnte es natürlich nicht unterlassen, mir eine Kusshand zuzuwerfen) und uns auf den Rückweg machten, sah ich, wie Domenico sich unter der Sonnenbrille über die Augen wischte. Irgendetwas musste ihm fürchterlich wehgetan haben. Ich hielt ihn den ganzen Weg zurück ins Hotel an der Hand, und als wir im Zimmer waren, warf er sich wortlos aufs Bett und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen.