Ich ließ ihn ein wenig dösen, nachdem er mich gebeten hatte, ihn in Ruhe zu lassen. Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich geschäftig hin und her wuselte und aufräumte und Tee kochte. Mama war immer noch nicht erreichbar, und ich vermutete, dass sie wohl gerade bei einem Kurs war.
Meine ganzen Sachen lagen nun in zwei Zimmern verstreut herum, und ich musste ein bisschen Ordnung in die Angelegenheit bringen. Außerdem musste ich mir allmählich überlegen, wie ich meine Kleider rationieren konnte. Ich hatte nur noch ein sauberes T-Shirt übrig. Ich würde wohl oder übel einiges von Hand waschen müssen. Schließlich brachte ich Nicki den Tee und achtete streng darauf, dass er ihn austrank.
«Wann müssen wir dort sein?», fragte er.
«Heißt das, du kommst nun doch mit?» Ich war positiv überrascht.
Er nickte nur. Ich warf ihm seinen Kapuzenpulli zu.
«Zieh das an.»
Er gehorchte schweigend.
«Das da auch.» Ich streckte ihm den schwarzen Schal hin.
«Süße … es ist nicht Winter.»
«Halt die Klappe, sonst komm ich noch mit einer Mütze.»
Meine Vorsorge erwies sich durchaus als berechtigt, denn als wir das Hotel verließen, rauschte uns eine ziemlich steife Brise um die Ohren, und die Sonne war auch schon wieder weg. Offenbar wechselte das Wetter hier so schnell wie Nickis Launen.
Von Hendrik und seinem weißen Toyota war noch keine Spur zu sehen, als wir uns beim Rathaus auf die Steintreppe setzten. Während Domenico sich mit einer Zigarette beschäftigte (ich hatte es ihm leider nicht ausreden können) und den Skatern zuschaute, die den Vorplatz als Rampe für ihre Kapriolen benutzten, studierte ich an der aufregenden Tatsache herum, dass wir in wenigen Augenblicken zwei weitere Halbgeschwister von Nicki kennenlernen würden.
Dann entdeckte ich Hendrik. Er war ja mit seinen Rastalocken so leicht zu erkennen. Er war in Begleitung von zwei rotblonden Teenagern, einem Jungen und einem Mädchen, und winkte uns freudig zu. Er hatte sich wieder umgezogen und trug nun wie am Vortag seinen schwarzen Mantel und die ausgeflippten Stiefel. Wir gingen langsam auf die Gruppe zu, und ich wusste nicht, wen ich zuerst in Augenschein nehmen sollte, den Jungen oder das Mädchen. Sie sahen einander so ähnlich, dass man sie fast nur als Gesamtbild betrachten konnte. Und sie waren nicht weniger freakig als Hendrik.
Der Junge wirkte fast so groß wie Domenico. Seine Frisur war so gestutzt, dass ihm sein Pony quer übers Gesicht fiel und sein linkes Auge vollständig verdeckte. Das Mädchen war ein wenig kleiner und trug seine Frisur genau spiegelverkehrt – das rechte Auge war verborgen. Beide hatten je zwei Piercings durch die Lippen und trugen eine ähnliche schwarze Kapuzenjacke wie Nicki, dazu Jeans und karierte Schuhe, von denen Domenico mir mal erklärt hatte, dass sie Vans heißen. Der Junge hatte zudem ein nietenbeschlagenes Lederband um den Hals – ähnlich wie einst Mingo. Das gab den Ausschlag dafür, dass mir für einen Moment der Atem stockte, obwohl es nicht nur das Nietenlederband allein war. Nein, es war die Tatsache, dass der Junge ohnehin Mingo ziemlich stark ähnelte. Aber ich konnte nicht sagen, weshalb. War es dieser Rühr-mich-nicht-an-Blick, waren es diese verschlossenen Augen, in denen ein trotziger und doch zugleich eigenartig sanfter Zug lag? Oder seine weichen Lippen, die mir verrieten, dass es noch ein Detail mehr gab, das Domenico von seinem Vater geerbt haben musste?
Beide, sowohl der Junge wie auch das Mädchen, hatten die typischen blaugrauen Janssen-Augen, und deswegen wirkten sie auf mich in eigenartiger Weise vertraut.
Hendrik lächelte uns zu. «Hei! Da seid ihr ja. Ich habe Kjetil und Solvej schon von euch ersählt.»
Die beiden Teenager gaben mir höflich die Hand, doch als ich mich nach Domenico umdrehte, sah ich, dass er mir gar nicht gefolgt war. Er stand etwas abseits und telefonierte.
«Wollen wir los?», fragte Hendrik, der in Nickis Abwesenheit nicht viel mehr sah, als dass dieser einfach einen dringenden Anruf bekommen hatte. Aber ich wusste es besser. Nicki benutzte das Telefonat nur als Alibi, weil er mit der Situation nicht klarkam. Ich musste ihn im Auge behalten. Wir bewegten uns hier auf einem Minenfeld.
«Jetst könnt ihr ja mal wieder den gansen Nachmittag nur Deutsch reden», meinte Hendrik gutgelaunt. «Nicht wahr, Kjet?»
Aber Kjetil schien längst nicht so enthusiastisch zu sein wie sein großer Halbbruder. Im Gegenteil, er wirkte ziemlich gelangweilt.
«Ich dachte, wir können ein wenig durch Akerbrygge gehen und dann die Opera anschauen», schlug Hendrik vor. «Die ist nemlig total kult.»
«Ach nee, nicht die Oper, Rick», stöhnte Kjetil. «Ist doch stocklangweilig.» Im Gegensatz zu Hendrik sprach er akzentfrei. Kein Wunder – er und Solvej waren ja gemäß Zeitungsberichten in Deutschland aufgewachsen.
«Ja-ja, für dich ist alles langweilig außer Computergames. Ich weiß schon.» Hendrik wandte sich an mich. «Oder möchtet ihr lieber was anderes sehen? Vigelandparken oder so?»
Ich schaute mich nach Nicki um. Jetzt, wo die nervenaufreibende Begrüßungzeremonie vorbei war, hatte er sich zaghaft genähert. Ich wusste, dass es ihm egal war, was wir machten. Also entschied ich mich für Akerbrygge, nachdem Hendrik uns erklärt hatte, dass es die trendigste Flaniermeile von Oslo war. Das war genau nach meinem Geschmack.
«Seht nur, die Sonne ist schon wieder da!», strahlte Hendrik. Tatsächlich, auf einmal schien es, als hätte jemand die Wolken einfach beiseitegeschoben, und über dem ganzen Hafen leuchtete blauer Himmel. Wir schlenderten eine Weile einfach den Kai entlang und genossen den Ausblick auf den Fjord und die Schiffe.
«Herrlig fint Wetter, was?», fragte Hendrik und reckte genüsslich sein Gesicht in die Sonne. «Wenn ihr wollt, können wir eine Bootsfahrt machen. Ich glaube, um fünf Uhr geht das nächste.»
«Mann, Rick, können wir nicht lieber ins Kino oder so?», quengelte Kjetil.
«Kino? Jetst, wo die Sonne scheint?» Hendrik zeigte seinem Bruder einen Vogel und zwinkerte uns zu. «Nehmt ihn nicht ernst. Ihm stinkt immer alles. Er ist launisch. Ich ignorerer das einfach.»
Doch als wir an der Kasse standen und das Ticket für die Fähre lösen wollten, schlug Hendrik sich entsetzt an die Stirn.
«Mist! Ich habe mein pengepung vergessen!»
«Na Bingo!», stöhnte Kjetil.
«Pengepung?», fragte ich.
«Meinen Geldbeutel. Ach, ich bin ein Schussel! Ich habe vergessen, ihn aus der Tasche vom Motorsykkel su nehmen.»
«Typisch», brummte Kjetil vor sich hin. «Der vergisst aber auch alles.»
«Können wir jetzt nicht mit dem Boot fahren?», meldete sich Solvej zurückhaltend zu Wort.
«Kann mir jemand von euch was leihen?», seufzte Hendrik. «Ich sahle es naturlig surück.»
«Klar doch.» Ich holte mein Portemonnaie raus und zählte die Geldscheine. Ich hatte zwar genug abgehoben, aber teuer war der Eintritt hier zweifellos. Wie überhaupt alles hier. Ich bezahlte für alle, und wir stellten uns am Bootssteg an, um auf die kleine Fähre zu warten. Domenico zerrte sich seinen Kapuzenpullover vom Leib. Solvej machte große Augen, als seine Tätowierung am Oberarm zum Vorschein kam.
Domenico lehnte sich in seiner James-Dean-Pose an einen Mast und steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Normalerweise hätte ich mich über dieses Spiel aufgeregt, doch ich wusste genau, dass seine Augen hinter der Sonnenbrille seine beiden Halbgeschwister scharf beobachteten. Und dass er sich in Wahrheit alles andere als cool fühlte.
Wir hatten wirklich Glück mit dem Wetter, denn als wir es uns endlich im Boot auf der langen Bank am Heck bequem machten und die Fähre ablegte, leuchtete die Sonne nach wie vor wie die alleinherrschende Königin vom Himmel. Außer uns waren nur ein paar japanische Touristen, ein älteres Ehepaar und eine Seniorengruppe im Boot.
«Na toll. Ausflug mit dem Altersheim», frotzelte Kjetil. «Wenn Gustav mich sehen würde: Ich wär voll untendurch.»
«Halt doch mal die Klappe, Kjet!», schaltete sich Solvej ein. «Immer musst du blöd rumnörgeln.»
Und im nächsten Moment schoss Kjetil hoch und sprang in einen perfekten Handstand.
«Kjet, ikke gjør det!» Hendrik zog seinen kleinen Bruder zurück auf den Sitz, sobald der wieder auf die Füße gekommen war. «Du musst nicht deine akrobatiske Kunststücker hier machen.»
«Wollte doch nur mal sehen, ob ich das noch kann», brummte Kjetil mit einem Seitenblick zu Domenico.
Offenbar fand Solvej das eine gute Idee. Während Hendrik Kjetil zurechtwies, sprang sie ebenso schnell in einen Handstand und eine Zehntelsekunde später gleich wieder auf die Füße. Ich staunte. Das war ja richtig zirkusreif!
Solvej lächelte mit roten Wangen und sah sich ebenfalls nach Domenico um. Ich hegte den festen Verdacht, dass sie ihm imponieren wollte.
Da hatte sie jedoch nicht mit Nicki gerechnet. Wie aus heiterem Himmel schoss er hoch und stand mit einem Satz auf der Reling. Er hielt sich an einem Mast fest und schaute auf uns runter. Dann ließ er los und balancierte mit Leichtigkeit über das Geländer zum nächsten Mast. Ich wimmerte leise, weil ich Nicki bereits ins Wasser plumpsen sah. Das hätte jetzt gerade noch gefehlt!
«Boah!», machte Kjetil. «Der spinnt ja!»
«Nick, du bist ein Freak!», rief Hendrik.
«Nicki, hör auf mit dem Blödsinn!», schimpfte ich. «Komm auf der Stelle da runter!»
Solvej starrte Domenico nur mit aufgeklapptem Mund an.
Domenico hüpfte wieder auf den Sitz und hüllte sich in Schweigen. Ich hätte ihm am liebsten eine saftige Moralpredigt von der längeren Sorte gehalten. Das war mal wieder eine typische Mister-Universum-Übung gewesen.
Je weiter wir uns vom Hafen entfernten, umso stärker fing es an zu winden, deswegen bestand ich darauf, dass Nicki seinen Pullover wieder anzog. Auch ich wickelte mir den Schal um den Hals.
«Ey, mir ist heiß», stöhnte er.
«Heiß? Bei dem Wind?»
«Ja, fass doch mal an!» Er hielt mir seinen tätowierten Arm hin. Ich berührte seine Haut, und tatsächlich, sie glühte regelrecht. Das war doch nicht normal!
«Du als Italiener aus dem heißen Süden musst es doch eiskalt finden hier», sagte Hendrik erstaunt.
«Nee, macht mir nix aus», sagte Domenico.
«Dann hast du vielleicht auch litt norwegisch Blut in dir.» Hendrik schmunzelte, es sollte ein Witz sein. Aber mir wurde klar, dass es wahrscheinlich die Wahrheit war. Trotzdem. Dass Nickis Körper ständig so komische Temperaturschwankungen hatte, hatte wohl mehr damit zu tun, dass er nach all den Strapazen immer noch nicht ganz auf dem Damm war.
«Kotzsonne», stöhnte Kjetil und hielt sich die Hand vor die Augen. «Muss die so knallen?»
«Genieß es doch», sagte Hendrik.
«Nö. Ich hasse die Sonne. Von mir aus könnte es den ganzen Tag nur dunkel sein. Dunkel und kalt.»
Hendrik zeigte ihm einen Vogel. «Sikker. Damit du den gansen Tag am Computer sitsen kannst.»
Während die beiden Halbbrüder darüber debattierten, ob die Sonne nun scheinen sollte oder nicht und Nicki sich einer Zigarette widmete (er hatte sich nun wenigstens den Schal um den Hals gewickelt), beschloss ich, mich ein wenig mit Solvej zu unterhalten, die bis jetzt noch nicht so viel gesagt hatte. Vielleicht würde ich ja noch etwas Interessantes erfahren.
«Du heißt Solvej, nicht wahr?», begann ich, obwohl ich es natürlich genau wusste.
«Ja.» Ihr schüchterner Blick passte überhaupt nicht zu ihren gepiercten Lippen.
«Ist das ein norwegischer Name?»
«Ja. Wir haben alle norwegische Namen. Ich heiße Solvej Tonje. Mein Bruder heißt Kjetil Gunnar.»
Offensichtlich fand sie es gar nicht so übel, mit mir zu plaudern.
«Aber ihr seid in Deutschland aufgewachsen, richtig?»
«Ja.»
«Und wo gefällt es dir besser? In Deutschland oder hier?»
Sie zuckte mit den Schultern. «Ich weiß nicht.» Sie lächelte verlegen.
«Und wie alt bist du?»
«Bin vierzehn geworden.»
«Und dein Bruder?» Ich deutete mit einem Nicken zu Kjetil hinüber.
«Auch.»
«Moment mal …»
«Ja, wir sind Zwillinge.» Sie kicherte ein bisschen und zog ihre Ärmel fest über ihre Handgelenke. «Sieht man, was?»
Tatsächlich. Kein Wunder, dass die sich so ähnlich sahen! Zwillinge … Ich hielt die Luft an und nahm Domenico ins Visier. Wenn Nicki das mitbekommen hatte, würde das Alarmstufe Dunkelrot bedeuten. Aber weil ich seine Augen nicht sah, konnte ich es nicht rausfinden. Er drehte sich langsam um und starrte auf das Wasser hinaus, während er sich an der Glut seiner abgebrannten Kippe die nächste anzündete.
Ich war regelrecht froh, als das Boot wieder sicher im Hafen war, weil ich allmählich befürchtet hatte, dass er sich irgendwann nicht mehr beherrschen könnte, dass er austicken und am Ende vielleicht noch ins Wasser springen würde. Bei Nicki war einfach alles möglich.
Just in dem Moment, als wir aus dem Boot ausstiegen, bekam Kjetil seinen Willen: Durch den Wind waren auf einmal neue Wolken herangerast gekommen, und die Sonne verabschiedete sich. Sofort wurde es kühl. Domenico beugte sich meinem Willen und zog den Pulli wieder an.
«Also, wollen wir sur Opera?», fragte Hendrik. Ich konnte mir zwar beim besten Willen auch nicht vorstellen, was an einer Oper so besonders sein sollte, aber ich wollte Hendrik nicht beleidigen.
Doch als wir ein wenig später eine Überführung passierten und das Gebäude von ferne sahen, verstand ich, warum Hendrik so begeistert war: Die Oper sah wirklich kurios aus. Fast wie ein Eisberg, der aus dem Wasser ragte. Auf dem schräg abfallenden Dach, das bis hinunter in den Fjord reichte, krabbelten die Leute wie kleine Ameisen zu der Aussichtsplattform hinauf oder wieder von ihr runter.
«Na, was habe ich gesagt? Kjempekult, oder?»
«Kjedelig», brummte Kjetil.
Domenico und Solvej sagten gar nichts dazu.
«Ich finde es toll», betonte ich, weil mir Hendrik leidtat. Er gab sich so Mühe, und alle machten hier einen auf supercool. Und es stimmte wirklich, mir gefiel es und ich wollte da unbedingt raufgehen.
Nicki blieb zurück, als wir begannen, die Schräge zur Aussichtsplattform hinaufzukraxeln. Ich wollte auf ihn warten, doch er deutete mir mit einer sensiblen Geste an, ihn in Ruhe zu lassen.
«Was ist? Kommst du nicht mit rauf, Nicki?»
«Nein», sagte er nur.
«Aber …» Ich stand unschlüssig da.
Hendrik sah sich nach mir um. «Was ist los?»
«Nicki, komm doch!», bat ich, doch dann entschied ich, dass es doch das Beste war, ihn allein zu lassen. Wenn er wirklich mitbekommen hatte, was Solvej vorhin zu mir gesagt hatte, war es ihm vielleicht nicht mehr möglich, sich allzu lange zu beherrschen. Ich wandte mich folglich Hendrik zu.
«Also, komm. Gehen wir rauf», sagte ich.
«Was ist mit Nick?»
«Er will allein sein», erklärte ich. Ich folgte Hendrik und warf nochmals einen besorgten Blick über die Schulter. Nicki hatte sich nahe ans Wasser gesetzt und kramte in seiner Jackentasche. Prompt hatte ich nicht auf meinen Tritt geachtet und stolperte über eine Steinkante. Hendrik konnte mich gerade noch am Arm packen und mich vor dem Sturz bewahren.
«Pass opp», warnte er.
Als ich das nächste Mal zurückschaute, sah ich Nicki nicht mehr. Kjetil und Solvej waren schon längst oben auf der Plattform und feixten auf uns runter. Ich schaute gen Himmel. Die dunkle Wolke, die sich mittlerweile gebildet hatte, sah verdächtig nach Regen aus. Als auch wir oben waren, postierte ich mich an der Brüstung und starrte hinaus in den Fjord, der durch das Wechselspiel am Himmel in ein geisterhaftes Licht getaucht war. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um eine bessere Sicht über die Brüstung auf das abfallende Dach zu erhalten, in der Hoffnung, Nicki irgendwo zu entdecken. Doch er war wie vom Erdboden verschluckt. Ein eiskalter Wind flatterte plötzlich um mein Haar.
Hendrik, der neben mir stand, tippte wie zufällig meinen Arm an. «Du, was ist mit Nick los? Hat er irgendwas?»
Ich wusste, dass es nicht viel half zu lügen, also suchte ich eine neutrale Erklärung: «Er verträgt nicht immer so viel Leute um sich herum.»
«Er hat aber nicht sufällig eine Augenkrankheit?»
«Warum?»
«Weil er ständig eine Sonnenbrille trägt.»
«Ach, nein, das ist es nicht.» Schnell überlegte ich mir eine weitere Ausrede. «Ist einfach sein Stil.»
«Er darf das mit Kjetil nicht so ernst nehmen», sagte Hendrik. «Die beiden sind siemlich verwöhnt, weißt du. Sie leben erst seit swei Jahren hier. Sie sind ja im Gegensats su mir in Deutschland aufgewachsen. Ich habe nur ein Jahr dort bei meinem Vater gelebt, als ich Austauschschüler war.»
«Ich finde, dafür sprichst du aber sehr gut Deutsch.»
«Findest du das? Ich habe doch einen skrekkelig Aksent.»
«Nein, es klingt lustig.»
Er grinste. «Ich finde, du sprichst sehr schön Deutsch. Wie im TV. Riktig perfekt.»
«Oh, danke.» Frau Galiani hatte meine schöne Aussprache und saubere Ausdrucksweise auch oft gelobt. Das war ein Produkt meines Vaters, der immer streng darauf geachtet hatte, dass ich möglichst wenig Slang-Sprache verwendete. Das war mir irgendwann in Fleisch und Blut übergegangen.
«Hast du dir denn deine Deutschkenntnisse nur in dem einen Jahr als Austauschschüler angeeignet?», fragte ich.
«Neinei, ich habe mit meinem Vater schon als Kind Deutsch gesprochen, wenn ich bei ihm in den Ferien war.»
«Spricht dein Vater nur Deutsch, oder kann er auch Norwegisch?» Ich witterte meine Chance, mehr über Morten Janssen zu erfahren. So eine günstige Gelegenheit kam nicht so schnell wieder, zumal Kjetil und Solvej sich gerade einer anderen Gruppe Teenager angeschlossen hatten.
«Beides. Er ist halvt norsk und halvt deutsch. Mein Großvater Finn Janssen ist nach Deutschland ausgewandert und hat dort meine Großmutter geheiratet. Darum ist mein Vater in Deutschland aufgewachsen.»
«Und warum ist er nun nach Norwegen gezogen?»
«Oh, verschiedene Gründer. Einer war, dass er seine Karriere beenden wollte. In Deutschland hatte er su viel Rummel. Hier in Norge ist er nicht so berømt. Die Norweger lassen ihn in Ruhe. Und es war auch wegen Liv. Sie war nie so glücklig in Deutschland.»
«Liv ist seine Frau, ja?»
«Eben.»
«Und verstehe ich das richtig: Du hast eine andere Mutter als Kjetil und Solvej, stimmt's?»
«Ja, das ist riktig.»
«Und darf ich fragen, wie alt du bist?»
«Sikker.» Hendrik zeigte ein verschmitztes Grinsen. «Schäts mal.»
«Öhm … zwanzig oder so?» Hoffentlich lag ich damit nicht total daneben.
«Ich bin Anfang Januar neunsehn geworden.»
Sofort wollte ich ausrechnen, um wie viel älter Hendrik als Domenico war, doch Hendrik kam sofort mit der Gegenfrage: «Und du?»
«Siebzehn. Und Nicki ist achtzehn.»
«Ja? Hab ich fast gedacht.»
Hendrik blickte mir so offen in die Augen, dass ich es wagte, ihm die nächste Frage zu stellen, die auf meinen Lippen brannte: «Darf ich fragen, warum sich deine Eltern getrennt haben? Ich meine, dein Vater hat ja eine andere Frau geheiratet …»
«Ach, kompliserte Geschichte.» Hendrik lächelte. Er nahm mir die Frage anscheinend nicht übel. «Willst du sie virkelig wissen?»
«Gern.»
«Also gut. Meine Eltern waren ja sehr jung, als ich sur Welt kam. Beide erst neunsehn. Meine Mama lebte in Norge und mein Vater lebte in Deutschland. Sie haben sich in den Ferien kennengelernt und verknallt. Als er heimkehrte, war meine Mutter schwanger. Mein Vater hatte überraschend an Olympiade gewonnen. Jüngster Olympiasieger seit vielen Jahren. Und dann wurde er berømt und hatte nicht mehr viel Seit für meine Mutter und mich. Ich habe ihn in den ersten Jahren von meinem Leben nur selten gesehen. Später konnte ich immer in den Skoleferien su ihm gehen, wenn er nicht gerade auf Reisen oder im Trainingscamp war.»
Hendrik legte eine Pause ein, und da ahnte ich, dass auch er nicht gerade eine einfache Kindheit gehabt hatte. Genau genommen teilte er vielleicht sogar ein ähnliches Schicksal wie Nicki …
«Und später hat dein Vater dann Liv geheiratet?» Ich hoffte, dass Hendrik sich nicht allmählich wegen meiner Fragerei nervte, aber ich musste diese einmalige Gelegenheit auskosten. Denn hier hielt sich ziemlich wahrscheinlich eine Geschichte verborgen, die für Domenico von großer Bedeutung sein konnte.
«Genau. Er wollte unbedingt eine Norwegerin heiraten.»
«Warum?»
«Jeg vet ikke. Vielleicht wegen meinem Großvater. Aber ersähl das alles bitte niemandem! Mein Vater wollte nie, dass über sein Privatleben in der Presse steht.»
«Natürlich nicht», versprach ich. «Erzählst du mir noch mehr?» Ich wollte unbedingt herausfinden, ob Hendrik etwas von Mortens Aufenthalt auf Sizilien wusste, aber ich wusste nicht, wie ich diese Frage anpeilen sollte. «Dein Vater war viel auf Reisen, als du noch klein warst?»
«Ja, er musste immer in Trainingslager gehen. Und naturlig fanden die Wettkämpfe in der gansen Welt statt. Deswegen war Liv immer unglücklig, und sie haben viel gestritten. Das war für Kjetil und Solvej sehr schwierig. Mein Vater hat ihnen immer viel Geld gegeben, wenn er su Hause war. Ich glaube, weil er ein bissken ein schlechtes Gewissen hatte. Sie haben immer alles bekommen, teure Klamotten und Taschengeld und PC-Games und Fernseher. Immer wenn sie etwas wollten, hat er es ihnen gekauft. Ich war manchmal eifersüktig.» Hendrik schmunzelte.
«Und ist das immer noch so?»
«Nicht mehr so. Mein Vater hat jetst viel mehr Seit für sie. Er versucht vieles besser su machen.»
«Hat er jetzt ganz aufgehört mit Sport?»
«Nicht gans. Seine eigene Karriere schon. Aber er ist jetst Trainer und betreut Junioren. Drum ist er ja jetst auch an diesem Wochenende weg. Aber er kommt heute Abend surück.»
Heute Abend … ich spürte, wie die Spannung in mir anstieg.
«Komisch, sonst ersähle ich die Sachen aus meiner Familie niemandem», lächelte Hendrik. «Ich glaube, du bist schon ein bissken was Besonderes.»
Ich wurde ganz rot. «Ich werde es ganz bestimmt nicht weitererzählen», versprach ich. Inzwischen hatte mein Unterbewusstsein ausgerechnet, dass Hendrik fast neun Monate älter war als Nicki … und dass Morten somit ungefähr zum Zeitpunkt von Hendriks Geburt auf Sizilien gewesen sein musste. Bei dieser Erkenntnis schauderte es mich irgendwie.
Plötzlich stand Domenico neben mir. Ich hatte ihn gar nicht kommen gehört. Er war wie aus heiterem Himmel aufgetaucht.
«Ey, da bist du ja.» Er packte mich fest am Arm. «Was macht ihr da? Ey, ich such überall nach dir!» Seine Stimme klang richtig panisch.
«Nicki, wir standen die ganze Zeit hier und haben geredet …»
«Ey, ich bin fast durchgedreht, weil ich dich nicht gefunden hab, ist dir das klar?» Ich erschrak, als ich hörte, dass er den Tränen nahe war. «Ich hab wie blöd nach dir gesucht.» Seine Finger krallten sich an meinem Arm fest.
«Aua. Tu mir bitte nicht weh. Was ist denn los, Nicki?» Ich realisierte aus den Augenwinkeln, dass Hendrik sich diskret von uns entfernte.
«Ich hab keine Zigaretten mehr.» Er lockerte seinen Griff.
«Was kann ich denn dafür?»
«Ey, ich brauch dich jetzt.» Seine Hand zitterte. «Per favore, non lasciarmi solo! Lass mich nicht allein!»
«Aber Nicki … du wolltest, dass ich dich allein lasse.»
«Ich wollte nicht mit hochkommen. Sonst hätte ich dem noch was angetan. Ey, checkst du das nicht? Ich brauch dich jetzt! Ich bau sonst Mist. Hab mich die ganze Zeit zusammengerissen!»
«Okay.» Jetzt galt es, erst mal Ruhe zu bewahren. Ich führte Nicki ein paar Meter weg von der Aussichtsplattform an eine Stelle, wo wir uns in eine Nische setzen und an die Mauer lehnen konnten. Ich legte ihm sanft die Hand auf die Brust. Er zwang sich, ruhig zu atmen. Ich spürte, wie sein Herz sich fast überschlug.
«Er sieht aus wie Mingo, checkst du das? Kjetil sieht aus … er hat … sie sind Zwillinge … und du gehst einfach weg, ey … ich brauch dich jetzt …» Er griff nach meiner Hand und drückte sie noch fester auf seine Brust. Tränen rannen über seine Wangen. Ich zog ihm die Sonnenbrille von der Nase, damit ich ihm die Tränen mit dem Ärmel meiner freien Hand abwischen konnte.
«Schscht, Nicki. Ich bin ja da.» Ich wollte meine Hand, die auf seiner Brust lag, vorsichtig bewegen, doch er ließ sie nicht los. Im Gegenteil, er umklammerte mein Handgelenk so stark, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht loszuschreien. Langsam kriegte ich Panik. Was machte ich, wenn er völlig austickte? Wenn er einen psychotischen Anfall oder so was kriegte, wie es schon mal vorgekommen war, als er Mingos Mailbox abgehört hatte? Ich hatte befürchtet, dass Kjetil und Solvej ihn zu sehr an Mingo erinnern würden … ich hätte doch besser bei ihm bleiben sollen …
«Wollen wir zurück in die Jugendherberge gehen? Ein bisschen ausruhen? Zigaretten kaufen?»
«Weiß nicht, meine Lunge ist total im Eimer. Tut alles weh …» Langsam ließ er meine Hand los. Ich streichelte beruhigend seine Brust. Mist, hoffentlich hatte er sich nicht wirklich eine Lungenentzündung geholt!
«Wir kehren am besten erst mal in die Herberge zurück, einverstanden?»
Er nickte matt und setzte sich seine Sonnenbrille wieder auf. Ich sah mich nach Hendrik um und winkte ihn heran, um ihm Bescheid zu sagen.
«Nicki fühlt sich nicht so wohl. Macht es dir was aus, wenn wir uns eine Weile zurückziehen?»
«Kein Problem», meinte Hendrik freundlich. «Kann ich helfen?»
«Nein, schon okay.»
«Ich muss sowieso auch los. Muss ja die Kids noch surückbringen, was essen, und um neun treffe ich mich mit meinen Leuten sum Streetwork.»
«Die Apotheken sind bestimmt schon zu, was?», fragte ich, nachdem ich auf meiner Uhr gesehen hatte, dass es bereits Viertel nach sieben war.
«Ja, warum? Brauchst du was?»
«Na ja, ich fürchte, Nicki hat sich erkältet. Ich wollte eine Erkältungssalbe kaufen, die man auf die Brust einreiben kann.»
«Hm, meine Mutter hat bestimmt noch so etwas su Hause», meinte Hendrik. «Ich kann vor dem Streetwork schnell bei euch vorbeikommen und euch was bringen. Ich weiß eure Adresse ja noch. Das ist nicht so weit weg von unserem Treffpunkt.»
«Oh Hendrik, das wäre so super», sagte ich dankbar.
Er fuhr uns ein wenig später bis vor die Jugendherberge und versprach, um Viertel vor neun Uhr bei uns zu sein. Solvej hauchte uns und vor allen Dingen Nicki ein schüchternes «Tschüß» zu, während Kjetil seinen Abschiedsgruß ziemlich gelangweilt knurrte.