Zum Glück hatte Nicki sich wieder etwas beruhigt, als wir in seinem Zimmer waren. Aber seine Lunge machte mir wahnsinnig Sorgen. Er lag mit aufgestütztem Kopf auf seinem Bett und dachte nach.
«Wie fühlst du dich?», fragte ich ihn alle fünf Minuten.
«Es geht. Hey, Maya, hör mal … ich sollte ja wirklich besser nicht so viel rauchen, sonst krieg ich echt noch 'ne Lungenentzündung. Aber ohne Medikamente lauf ich Gefahr, in 'ne Psychose oder so was zu fallen. Ich muss irgendwelche Ersatzpillen haben, sonst krieg ich das hier nicht geregelt. Tut mir leid.»
Ich setzte mich zu ihm auf die Bettkante. «Ich weiß nicht. Sollen wir nicht doch deinen Arzt anrufen?»
«Er ist doch im Urlaub. Hab ich ja gesagt. Außerdem muss der Bahlke besser nicht davon Wind kriegen, dass ich das hier ohne Medikamente versuche.»
«Trotzdem. Mir ist nicht wohl bei der Sache. Ich will nicht, dass du irgendwelche unbekannten Pillen kaufst und schluckst, Nicki. Du weißt ja gar nicht, was drin ist.»
«Klar weiß ich das. Ich weiß zum Beispiel, wie ich auf Rohypnol reagiere. Ist zwar kein Antidepressivum, aber es hilft. Vertrau mir.»
Ich zögerte. Insgeheim überlegte ich mir, meinen Vater oder meine Mutter anzurufen. Nicki brauchte das ja nicht mitzukriegen. Aber das war eine zu prekäre Situation, um sie alleine durchzuziehen.
«Ich meine, sieh mal … wenn ich die Sache jetzt abbrechen muss, dann werde ich für lange Zeit keine Gelegenheit mehr dazu haben», sagte er leise. «Und nun sind wir so weit gekommen.»
Das leuchtete mir voll und ganz ein.
«Vertrau mir, Maya. Ich kenn mich mit Ropys wirklich aus. Ich weiß, dass es illegal ist, aber ich seh echt keine andere Lösung.»
Ich kaute auf meiner Unterlippe rum. Warum stand ich bloß immer vor so schwierigen Entscheidungen?
«Aber du kennst dich doch gar nicht aus hier in der Szene. Wie weißt du, ob sie dir wirklich Rohypnol verkaufen?»
«Das find ich schon raus», sagte er. «Ich durchschau die Typen schnell. Ich glaub nicht, dass ich lange dafür brauche. Ich bin bestimmt in 'ner guten Stunde wieder zurück.»
«Aber ich kann nicht einfach hier rumsitzen und auf dich warten. Ich mach mir Sorgen, Nicki.»
«Brauchst du nicht. Hey.» Er rutschte zu mir rüber und schlang die Arme um mich. Auf einmal riss etwas in mir, und ich fing an zu heulen.
«Hey, Principessa …» Er küsste mich sanft auf die Stirn.
Eine Weile hielten wir einander einfach stumm fest und drückten uns. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter.
«Und wenn wir Hendrik fragen? Vielleicht weiß er eine Lösung?», fragte ich schließlich matt.
«Nee, der muss nicht mitkriegen, dass ich Pillen schlucke. Aber …» Er hob seinen Kopf wieder, und es sah aus, als wäre ihm plötzlich eine Idee gekommen. «Wenn es dich beruhigt, können wir ihn von mir aus heute Abend begleiten. Der geht ja sozusagen in die Szene. Er kann auf dich aufpassen, und ich besorge die Pillen. Hilft dir das was?»
«Aber nur, wenn du mir versprichst, dass du vorsichtig bist und dir nicht irgendwelches unbekanntes Zeug kaufst. Ich wüsste echt nicht, was ich täte, wenn dir irgendwas passieren würde.»
«Ich verspreche es», flüsterte er und küsste mich zärtlich auf die Wange. «Aber … kannst du mir das Geld leihen? Dann muss ich nicht auch noch … na, du weißt schon. Kohle auftreiben.»
Ich war einverstanden.
Weil wir beide ziemlich müde waren, dösten wir noch ein wenig, obwohl nicht mehr viel Zeit blieb, bis Hendrik kommen würde. Ich lag in Nickis Arm und bat Gott in einem stummen Gebet, dass mit Nicki und diesen Pillen alles gutgehen würde. Es kam mir ziemlich merkwürdig vor, für so was zu beten. Aber ich sah einfach keine andere Lösung.
Hendrik stand pünktlich Viertel vor neun Uhr unten an der Rezeption und überreichte mir eine Tüte mit Erkältungssalben und anderen Sachen. Nicki hatte mich gebeten, das Fragen zu übernehmen. Er blieb so lange im Zimmer oben.
«Hab meiner Mutter den gansen Schrank geplündert», grinste Hendrik. «Ich hoffe, du kannst es brauchen.» Er gab mir auch noch gleich das Geld zurück, das ich ihm geliehen hatte.
«Tausend Dank», sagte ich erleichtert. «Du, eine Frage: Könnten wir heute Abend mit dir mitkommen zu deinem Streetworker-Einsatz?» Ich hatte mir den Kopf darüber zerbrochen, was für eine Begründung ich ihm liefern sollte, aber mir war keine eingefallen.
«Meinetwegen. Men jeg vet ikke, ob das für euch interessant ist. Wir gehen in eine Bar und treffen ein paar Mädchen und reden mit ihnen», meinte Hendrik. «Aber von mir aus könnt ihr gern mitkommen.»
Hendrik war echt ein Schatz, er stellte überhaupt keine Fragen!
Ich holte Nicki, und wir trafen uns mit Hendriks Freunden beim Bahnhof. Sie waren zu viert; außer Hendrik war noch ein anderer junger Mann namens Einar dabei, dazu zwei Frauen, die Line und Siri hießen. Sie waren etwas älter als die Jungs.
Trotz Nickis Lungenschmerzen kaufte ich ihm noch eine Packung Zigaretten in einem der Narvesen-Kioske – ganz ohne ging es ja leider nicht.
Domenico zog zwei Kippen raus und gab mir dann die restliche Packung. «Kannst du sie für mich verwalten? Die zwei hier müssen für heute Abend reichen.»
Ich nickte und steckte die Schachtel in meine Handtasche.
Hendrik war richtig redselig und quatschte uns auf dem Weg zur Bar fast ununterbrochen voll. Er sprudelte richtig über vor Eifer für das, was er hier tat.
«Es ist so schön, wie diese Frauen reagieren, wenn man sie wie Menschen behandelt und nicht wie Ware. Mich berührt das immer sehr. Darum möchte ich ja eines Tages Sosialarbeiter werden und Menschen helfen.»
«Und warum gehst du ausgerechnet zu den Prostituierten?», wollte Domenico wissen.
«Es gab mal ein Mädchen, das ich immer hier in den Straßen von Oslo traf», erzählte Hendrik. «Eines Tages kam sie su mir und fragte mich, ob ich Sex für Geld haben will. Ich sagte Nei und fing an, mit ihr su reden und su fragen, warum sie das macht. Sie ersählte mir, dass sie Narkotika braucht und für ihren hallik arbeitet. Auf Deutsch bedeutet das …»
«… Zuhälter?», schlug Nicki vor.
«Genau. Sie seigte mir ihren Körper. Sie hatte überall blaue Flecken, weil ihr hallik sie geschlagen hat. Dann fing sie an su weinen. Sie hat mir so leidgetan. Ich habe sie getröstet. Seit dem Tag an dachte ich, ich will etwas tun, um diesen Frauen su helfen.»
Domenico versank in Schweigen. Wir gingen Hand in Hand.
«Und du glaubst wirklich, du kannst denen helfen?», fragte Domenico nach einer Weile skeptisch. «So leicht können die gar nicht aus dem Gewerbe aussteigen. Weil man die woanders gar nicht mehr will und sie dort auch nicht so viel Geld verdienen würden.»
«Ja, ich weiß. Aber in Norge ist ja jetst Prostitusjon offisiell verboten. Es wird immer schwieriger. Einige sind geswungen, sich einen anderen Job su suchen. Unser Team bietet ihnen auch Hilfe an bei Jobsuche. Die Frauen, die wir heute treffen, kenne ich schon lange. Sie warten in der Bar auf ihre Kunden, weil dort nicht so viel Konkurranse ist. Viele sind weiter hinten Richtung Akerselva, aber dort, wo wir hingehen, ist nicht so viel Poliseirassia. Die Mädchen machen es sehr unauffällig.»
«Ihr macht das aber nicht illegal, oder?» Nicki beobachtete Hendrik durch die Sonnenbrille.
«Neinei, Polisei weiß Bescheid. Sie sind froh für unsere Arbeit.»
«Ist das nur eure Kirche, die so was macht?»
«Nei, wir arbeiten susammen mit einer Hilfsorganisasjon. Aber wir gehen immer su den gleichen Frauen. Sie kennen uns und vertrauen uns. Sie wollen einfach reden. Manchmal helfen wir auch, wenn sie mit den Behörden Sachen regeln müssen. Oder Line hat sie auch schon sum Doktor begleitet. Eine von den Frauen hat gulsott, weil sie Heroin spritst», sagte Hendrik sichtlich bewegt.
«Gelbsucht?», fragte Domenico.
«Ja. Es ist sehr schlimm.»
Just in dem Moment wankte ein ziemlich abgewrackter Typ auf Domenico zu und bat ihn um eine Zigarette. Domenico drückte ihm eine in die Hand und wandte sich schnell wieder ab.
«Sag mal, hast du 'ne Ahnung, was es heißt, in der Gosse zu leben?», fuhr er Hendrik hinterher ziemlich gereizt an.
«Nei, nicht virkelig», gestand Hendrik.
«Na also. Dann bleib doch lieber, wo du bist.»
Ich wusste natürlich genau, was in Domenico gerade vorging, aber Hendrik kam verständlicherweise mit dieser Antwort nicht ganz klar. Doch er ließ sich zum Glück durch Nickis kratzbürstige Art nicht einschüchtern.
«Ja, ich weiß, ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt. Sverre kann auch nicht verstehen, warum ich das mache. Aber weißt du, ich habe immer an die Geschichte von Jesus gedacht. Kennst du sie? Wie er eine Ehebrekerin mit Respekt behandelt und ihr als einsiger geholfen hat, als alle sie töten wollten? Das ist mein Vorbild. Ich möchte das auch tun.»
Darauf schwieg Domenico, und ich spürte, dass Hendriks Aussage ihm ziemlich unter die Haut ging. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass er dabei war, die Lage genau abzuchecken, um bald jemanden zu finden, der ihm Rohypnol verkaufen würde.
Wir waren mittlerweile in einer Straße gelandet, in der sich Bar an Bar reihte und in der die Hälfte der Menschen eine dunkle Hautfarbe hatte. Einar, Siri und Line waren bereits in einer der Bars verschwunden. Hendrik geriet mit einer pakistanischen Frau ins Gespräch, die ihn um Geld anbetteln wollte.
«Geh mal zu den drei anderen in die Bar», flüsterte Nicki mir ins Ohr. «Und sag Hendrik, ich sei schnell zum Kiosk gegangen.»
Ich wusste nicht, wo es in dieser etwas abgewrackten Straße einen Kiosk geben sollte, und hoffte, Hendrik würde mir diese Ausrede abkaufen. Ich ging also in die Bar und setzte mich zu Siri, Line und Einar an einen runden Bartisch im hinteren Teil des Lokals. Line unterhielt sich bereits mit einer platinblonden Frau. Ich nahm an, dass sie eine Drogensüchtige war, die auf einen Kunden wartete, obwohl sie nicht in sonderlich aufreizender Kleidung steckte. Das Einzige, was darauf hindeuten mochte, war der tiefe Ausschnitt ihrer Bluse. Einstiche und Abszesse, wie ich es von Mingo gekannt hatte, hatte sie allerdings keine.
Schließlich kam Hendrik und bestellte für uns was zu trinken. Domenico war immer noch weg.
«Wo steckt Nick?», fragte Hendrik prompt, und ich brachte die lasche Ausrede mit dem Kiosk.
«So lange?» Hendrik war verwundert. So leicht ließ er sich ja nun wirklich nicht hinters Licht führen.
Schließlich trat Domenico mit ziemlich genervter Miene in die Bar und setzte sich kommentarlos zu uns. Ich stieß ihn unter dem Tisch an, und er schüttelte leise den Kopf. Offenbar hatte er kein Glück gehabt.
«Gib mir mal 'ne Zigarette», bat er leise.
«Du darfst hier drin nicht rauchen», warnte Hendrik. «In Norge ist absolut Rauchverbot in Bars.»
«Na schön, dann geh ich halt raus», murmelte Domenico. Widerwillig drückte ich ihm eine Kippe in die Hand, und er verschwand wieder.
Inzwischen hatten weitere Leute den Raum betreten, darunter zwei Frauen, die Hendrik und seine Truppe kannten und freudig begrüßten. Und schon steckte Hendrik mitten in seiner Arbeit, und ich kam mir auf einmal furchtbar überflüssig vor. Zumal Nicki keine Anstalten machte, wieder reinzukommen. Vermutlich hatte er sich nochmals auf die Suche nach einem Dealer gemacht. Mein Magen fühlte sich richtig matschig an, weil mir bewusst wurde, in was für einer saublöden Situation ich mal wieder steckte. Gewisse Dinge schienen sich einfach ständig zu wiederholen, seit ich Domenico kannte.
Schließlich ging ich zur Bar, um mir noch einen Saft zu holen, damit ich nicht wie bestellt und nicht abgeholt dasaß. Ich ignorierte den ekligen Typen mit dem roten Vollbart, der einsam auf einem der Hocker neben dem Ausgang saß und mir aufdringliche Blicke zuwarf. Leider war die Barkeeperin gerade dabei, ihm einen Drink zu mixen. Ich musste zu allem Überfluss warten.
Auf einmal beugte sich der Typ zu mir rüber und redete mich an.
«Please …», stotterte ich.
«How much?», flüsterte er.
Da dämmerte es mir, was der Typ wollte, und ich schüttelte entrüstet den Kopf. Doch der Kerl legte einfach seine Pranke auf meinen Arm und sah mich flehend an. Ich wollte meinen Arm wegziehen, doch seine dicken Wurstfinger ließen es nicht zu. Die Barkeeperin tratschte mit ihrer Kollegin. Ich sah mich hilfesuchend nach Hendrik um, und zum Glück schaute er gerade in meine Richtung. Er hielt sofort inne und kam herangestürmt. Doch noch schneller als Hendrik war Nicki zur Stelle. Der Rotbart wurde regelrecht von seinem Hocker gefeuert und einige Sekunden später an eine Wand gedrückt. Die Barkeeperin und die Gäste inklusive mir kreischten entsetzt auf.
«Bastardo», zischte Domenico wütend und ballerte ihm eine links und rechts an den Schädel. Ich schloss die Augen. Was nun kommen würde, konnte ich mir lebhaft vorstellen.
«Hejhej, keine Schlägerei!» Das war Hendriks Stimme, und ich wagte es vorsichtig, die Augen wieder zu öffnen. Hendrik hatte Domenico am Kragen gepackt und zerrte ihn von dem rotbärtigen Kerl weg. Der Rotbart nutzte den Augenblick und suchte eilig das Weite. Die Barkeeperin rannte ihm hinterher. Offenbar hatte er den Drink nicht bezahlt. Hendrik zog Domenico in die nächstliegende Nische neben einer alten Musikkonsole und drückte ihn dort gegen die Wand. Doch wider Erwarten schlug Domenico nicht wie sonst um sich und wehrte sich auch nicht gegen Hendriks Griff. Stattdessen ließ er den Kopf hängen und presste seine Handflächen fest gegen die Wand. Die Sonnenbrille hing schräg über seinem Gesicht und fiel schließlich zu Boden. Eine Weile verharrten die Jungs in ihrer Stellung, während ich mich zaghaft näherte.
«Hej, Nick, alles klar mit dir?» Hendrik lockerte seinen Griff vorsichtig.
«Nicki?» Ich berührte sachte sein Haar und tauschte mit Hendrik einen Blick.
Domenico hob langsam seinen Kopf. Und zum allerersten Mal hatte Hendrik die Gelegenheit, direkt in Nickis Augen zu schauen.
Ich wusste nicht, was Hendrik in diesem Moment dachte. Er verharrte einen Moment lang einfach reglos, die Hand immer noch auf Domenicos Schulter. Dann ließ er ihn ganz los. Auf Nickis Stirn standen Schweißtropfen.
«Komm, sets dich besser.» Hendrik legte den Arm um Domenico und führte ihn zu einem freien Stuhl. «Soll ich dir was su trinken holen?»
Domenico nickte matt. Hendrik sah mich kurz an und entfernte sich Richtung Bar. Ich nahm auf dem Stuhl daneben Platz und nahm Domenicos zittrige Hände in meine, um seine Finger zu massieren.
«Geht's?», fragte ich.
Er nickte stumm. Ich schickte ein Dankgebet Richtung Himmel. Das war gerade noch mal gutgegangen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Nicki wieder so ausgerastet und die Polizei gekommen wäre.
«Hat der Typ dir was getan?», fragte er schließlich heiser, während ich meine Hand auf seine Brust legte.
«Nein. Er war nur ziemlich aufdringlich. Ich glaube, er hat mich mit einer Prostituierten verwechselt.»
Hendrik kam mit einer Flasche Mineralwasser zurück. «Hier. Trink das.» Er setzte sich zu uns. Domenico trank das Wasser in einem Zug leer.
«Was ist egentlig genau passiert?», wollte Hendrik wissen. «Ich habe nur gesehen, wie du den Kerl an die Wand gedrückt hast und ihn verprügeln wolltest. Er ist einer von den Stammkunder hier im Lokal. Deswegen musste ich mich einmischen. Aber ich weiß gar nicht, was er gemacht hat.»
«Er hat sie betatscht. Ich wollte ihn eigentlich nur von ihr wegreißen, aber dann konnte ich mich doch nicht mehr beherrschen. Ich hab Probleme mit Jähzorn», keuchte Domenico. «Meine Nerven versagen total. Ich zettel dann immer gleich 'ne Riesenkatastrophe an.»
«Kein Problem. Wir haben alle unsere Schwächen. Kann ich dir irgendwie helfen?» Hendrik rückte mit seinem Stuhl näher an Domenico heran und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
«Schon gut», erwiderte Domenico müde. «Ich war ja in der Therapie wegen dem. Muss auch Antidepressiva einnehmen deswegen. Aber die wurden mir unterwegs geklaut. Deswegen hatte ich 'nen Nervenzusammenbruch.»
Hendrik sah Domenico ein paar Sekunden lang intensiv in die Augen. Nicki kniff sie ein wenig zusammen, hielt Hendriks Blick aber stand.
«Du, darf ich dich was gans Personliges fragen?», sagte Hendrik schließlich. «Aber du musst die Frage nicht beantworten, wenn du nicht willst.»
«Frag schon.»
«Warst du mal narkoman oder so? Ich meine, hast du mal Drogen konsumiert?»
«Seh ich denn immer noch so versifft aus?», knurrte Nicki.
«Also, wenn ich ehrlich bin, siehst du ein bissken mit deinen Sähnen aus wie ein narkoman. Ich meine es nicht böse. Ich hab kein Problem damit. Ich dachte nur, vielleicht kann ich helfen?»
«Schon okay. Ist ja kein Geheimnis mehr, dass ich jahrelang Kettenraucher war. Deswegen sehen meine Zähne so hässlich aus. Aber ich hab nie harte Drogen wie Heroin und so genommen. Nur Pillen und manchmal Joints. Und Alk.» Er zuckte mit den Schultern, offenbar hatte er es aufgegeben, Hendrik etwas vormachen zu wollen.
«Weißt du, ich hab mich nemlig gefragt, ob du dir Stoff besorgen willst, weil du die ganse Seit weg warst», sagte Hendrik ernst.
«Ich wollte mir Rohypnol besorgen, als Ersatz für die Medikamente, die mir gemückt wurden», gab Domenico zu. «Aber es hat nicht geklappt. Ich find keinen, der mir was verkauft. Ich kenn mich halt hier in dieser Szene auch nicht aus.»
«Da musst du vielleicht eher sum Bahnhof gehen. Oder Richtung Akerselva. Warum genau brauchst du Rohypnol? Sum Einschlafen?»
«Zum Einschlafen und als Beruhigungsmittel, weil ich in gewissen Situationen zu schnell austicke.»
«Aber warum hast du mir das nicht gleich gesagt?», fragte Hendrik. «Ich kann dir helfen, glaub ich.»
«Du? Wie denn?»
«Mein Freund Sverre hat einen Kumpel, der so was einnehmen muss. Vielleicht kann er dir ein paar geben. Soll ich ihn anrufen?»
«Ey, ehrlich, würdest du das tun?»
«Naturlig. Das ist sicher besser, als wenn du hier Seug kaufst, von dem du gar nicht weißt, was drin ist.»
Hendrik zückte schon sein Handy und wählte eine Nummer, und es dauerte nicht allzu lange, bis er Sverre dran hatte. Hendrik erklärte ihm kurz die ganze Sache in seiner Muttersprache.
«Er versucht was su kriegen für dich», sagte er, als das Telefonat beendet war. «Es könnte aber siemlich spät werden. Es ist ja Samstag, da beeilt sich Sverre nicht so. Der macht Party.»
Er schaute uns mit sich aufhellender Miene an, als sei ihm eben eine grandiose Idee gekommen. «Wenn ihr Lust habt, könnten wir su mir nach Lillestrøm fahren und dort auf Sverre warten. Wir können es uns bei mir im Band-Room koselig machen. Ihr beide seht nemlig siemlich fertig aus. Wenn ihr wollt, könnt ihr auch bei mir übernachten.»
«Ja?» Domenicos Augen leuchteten ein wenig auf.
«Klar. Ikke noe problem. Im Band-Room gibt es ein Sofa und eine Menge Matratsen. Sverre und Thore pennen oft bei mir, wenn wir am Üben sind und sie nicht nach Hause gehen wollen. Was denkt ihr?»
Ich wechselte einen Blick mit Domenico, und er nickte.
«Also, dann geht ihr surück sur ungdomsherberge und packt eure Sachen. Ich hole das Auto und warte danach vor dem Eingang auf euch, okay?», schlug Hendrik vor.
Als wir etwas später auf die Straße traten und ich auf die Uhr schaute, stellte ich erstaunt fest, dass ich mich schon wieder in der Zeit geirrt hatte. Die Helligkeit verwirrte mich, und ich hatte den ganzen Abend irgendwie das Gefühl gehabt, dass die Zeit bei neun Uhr stehen geblieben war. Doch es war mittlerweile elf Uhr.
Domenico legte den Arm um mich, als wir zusammen zur Jugendherberge zurückgingen. Ich stellte fest, dass mein Gebet auf eine eigenartige Weise erhört worden war. Sogar noch besser, als ich es mir ausgemalt hatte.