Ich lag immer noch an Nickis Brust, als ich aufwachte. Sein Körper war ganz durchgeschwitzt. Meine ganzen Träume hatten nach Eukalyptus gerochen. Ich brauchte erst eine Weile, um meine Erinnerungen wieder auf den neusten Stand zu bringen. Als Erstes fielen mir die Rohypnol-Tabletten ein. Ich drückte mein Ohr fest an Domenicos Brust und war grenzenlos beruhigt, als ich sein Herz regelmäßig schlagen hörte.
Dann setzte ich mich auf und streckte mich ausgiebig. Nationalfeiertag also. Erste Begegnung mit Domenicos Vater. Eine berechtigte Moralpredigt von Paps … Ein aufregender Tag stand uns bevor, der entweder im Glück oder im Desaster enden würde.
Es war halb neun, also beschloss ich, mich erst mal zu duschen und die Wäsche fertig zu machen. Nicki würde bestimmt noch eine Weile schlafen. Nach der Dusche nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und versuchte, Paps anzurufen. Es meldete sich jedoch nur die Mailbox. Also schrieb ich Paps wieder eine SMS, in der ich mich abermals entschuldigte. Ich fühlte mich richtig schäbig.
Gerade als ich mit allem fertig war, klopfte auch schon Hendrik an die Tür.
«Heihei, seid ihr wach? Kann ich reinkommen?»
Gleich darauf stand er da, ganz in seinen Russeklamotten, mit roter Mütze und roter Latzhose, auf der in weißen Großbuchstaben sein Name prangte. In der Hand schwang er die rotweißblaue Landesflagge von Norwegen. Auch auf seine Wangen hatte er sich links und rechts je eine Landesflagge gepinselt, und um seinen Hals baumelte eine Trillerpfeife. Er sah echt ulkig aus.
In der anderen Hand hielt er einen Teller voll mit Toastbrot und Käse und zwei Beuteln Kakao.
«Hier, Frühstück. Alles klar?»
«Nicki schläft noch», sagte ich. «Ich weiß nicht, ob ich ihn vor Mittag wachkriege.»
Hendrik stellte den Käse in den kleinen Kühlschrank und sagte dann: «Also gut, pass auf: Wir fahren jetst mit unserem Russevogn durch Lillestrøm dem Umsug hinterher. Danach treffen wir uns in Nittedal bei meinem Vater sum Feiern. Ich weiß nicht, wann wir mit dem Umsug fertig sind, aber meine Mutter fährt kurs vor Mittag nach Nittedal. Ich habe schon mit ihr geredet. Sie kann euch mitnehmen. Dort könnt ihr bestimmt meinen Vater treffen für ein Autograf.»
«Aber wir wollen nicht einfach in eure private Familienfeier platzen», sagte ich vorsichtig.
«Kein Problem, die Leute feiern alle susammen», erklärte Hendrik. «Wir grillen erst später im Garten. Ich treffe euch in Nittedal und stelle euch als meine Freunder vor, dann gibt euch mein Vater gans bestimmt das Autograf. An solchen Tagen ist er immer gut gelaunt. Außerdem gibt es eine Menge Spiele und Attraksjoner. Es ist so herrlig fint Wetter heute, da bleiben alle draußen.»
«Okay», meinte ich. «Wenn das so ist …»
«Meine Mutter kommt euch ungefähr um swölf holen. Sie spricht übrigens ein bissken Deutsch. Bis dann hast du Seit, Nick wachsukriegen.» Hendrik grinste. «Kannst naturlig auch ein bissken nach Oslo gehen, wenn du willst. Vielleicht siehst du ja Kronprins Haakon und Mette-Marit.»
Doch das Kronprinzenpaar war mir im Moment egal. Als Hendrik gegangen war, war meine größte Sorge, Nicki rechtzeitig wachzukriegen. Weil mir nichts Besseres einfiel, legte ich mich noch ein wenig hin, doch schlafen konnte ich natürlich nicht mehr. Um halb zwölf ergriff ich dann ernsthafte Maßnahmen und schüttelte Nicki so heftig, dass er vor Schreck fast von der Matte gefallen wäre.
«Ey, spinnst du?», fuhr er mich noch ganz benommen an. Er rappelte sich auf, raffte seine Siebensachen zusammen und verschwand im Bad.
Er blieb ziemlich lange dort drinnen. Schließlich machte ich mir Sorgen und klopfte an die Tür.
«Hey? Alles klar?»
Keine Antwort.
«Kann ich kurz reinkommen?»
Er öffnete die Tür, und ich schlüpfte rein. Er stand vor dem Spiegel und starrte mit finsterem Blick hinein.
«Was machst du da?»
«Ich muss endlich mal zum Zahnarzt. Aber ich hab kein Geld für sowas.»
«Ach, komm jetzt.» Ich legte ihm die Hand auf die Schultern. «Darüber können wir ja noch mal mit meiner Mutter reden, wenn wir wieder zurück sind.»
Er presste die Lippen aufeinander.
Ich schlang fest meine Arme um ihn. «Hey. Es wird bestimmt gut kommen.»
«Wäre ich mir nicht so sicher.»
Ich schwieg, weil ich mir im Grunde genommen genauso wenig sicher war.
Während Domenico am Fenster seine Morgenzigarette rauchte, holte ich das Frühstück aus dem Kühlschrank und verteilte alles auf zwei Tellern. Dann kochte ich Wasser und löste den Kakao darin auf.
Nachdem wir gegessen hatten, klopfte es an die Tür. Weil Hendrik offenbar vergessen hatte, Müllsäcke zu kaufen, stopfte ich den Abfall schnell in eine leere Tüte, während Domenico die Tür aufmachte.
Es war Hendriks Mutter.
«Heihei, seid ihr Hendriks venner?», begrüßte sie uns mit ihrem melodiösen Akzent. Wir bejahten. Sie hatte ein freundliches Gesicht und blondes Haar und steckte in einem hübschen türkisfarbenen Kleid. Und sie sah wahnsinnig jung aus. Kein Wunder, sie war ja noch keine vierzig. Hendrik sah ihr ziemlich ähnlich. In der Hand hielt sie einen Beutel mit weiteren Flaggen und Girlanden und Scherzartikeln.
«Jeg heter Ann Merete», stellte sie sich vor. «Ihr könnt fahren mit mir til Nittedal.»
Domenico gab mir die Rohypnol-Tabletten und die Zigaretten und auch die Autogrammkarte für die Handtasche und vermummte sich in seinem Kapuzenpullover.
«Men det er så varmt», rief Ann Merete ganz überrascht. «Dü brauchst das nischt ansiehen.»
«Ich bin erkältet», sagte er nur.
In der Tat hatte sich auch das Wetter für den Nationalfeiertag in seine beste Schale geworfen. Der stahlblaue Himmel brachte die vielen bunten Farben in Nittedal regelrecht zum Leuchten. Überall begegnete man Umzügen – einige Straßen schienen geradezu ein Meer von rotweißblauen Flaggen zu sein. Die Leute trugen entweder ihre Trachten oder ihre schönsten Frühlingskleider. Einige Männer steckten sogar in Anzügen. Nicki und ich wirkten so richtig schäbig mit unseren Jeans, aber wir waren ja nicht darauf vorbereitet gewesen. Und überall begegneten wir auch immer wieder einem Umzugswagen mit ausgelassenen Schulabgängern, die genau wie Hendrik in roten Hosen und roten Mützen steckten.
Nicki war immer noch schläfrig und hatte die halbe Fahrt an meiner Schulter gedöst. Ann Merete parkte bei einem kleinen Einkaufszentrum im unteren Teil von Nittedal, und dann legten wir den Rest des Weges bis zur Schule, wo die Feiern stattfinden sollten, zu Fuß zurück. Domenico schlief fast im Gehen ein, und ich fragte mich ernsthaft, ob er sich vielleicht heimlich nochmals eine Pille eingeschmissen hatte, weil er sich so sehr vor der ersten Begegnung mit seinem Vater fürchtete.
Ich unterhielt mich ein bisschen mit Hendriks Mutter, während ich nebenbei aufpassen musste, dass Domenico nicht mitten im Fußmarsch einpennte. Ann Merete erzählte mir ein wenig aus ihrem Alltag. Sie arbeitete in einem Fitnesscenter und war offenbar sehr sportlich, genau wie Morten. Kein Wunder, dass sie und Morten in ihrer Jugend ein Paar gewesen waren. Aber Hendrik hatte anscheinend nicht viel von den sportlichen Ambitionen seiner Eltern geerbt … oder er hatte einfach keine Lust dazu.
«Mein Sohn ist so ein rotekopp», stöhnte Ann Merete und schwenkte den Beutel mit den Scherzartikeln. «Er vergisst immer etwas!»
Vor der Schule herrschte ein richtiger Massenandrang. Offenbar hatte sich das ganze Dorf hier versammelt, um dem leidenschaftlichen Redner zuzuhören, der sein Land in allen Facetten pries. Ann Merete grüßte mal hier und mal dort jemanden, und auf einmal hatten wir sie in all den bunten Leuten und Flaggen und Kindern aus den Augen verloren. Nicki war total von der Rolle und starrte apathisch vor sich hin, als würde er sich gar nicht wirklich hier befinden. Ich packte seine Hand fester und führte ihn durch das Gedränge hinter das Schulhaus, wo viele Tische und Bänke und ein paar Fressbuden aufgestellt waren. Ich brachte ihn zu einer leeren Bank, und er setzte sich dankbar.
Weil die meisten Leute noch immer der Rede lauschten, standen nicht viele Menschen am Stand, und ich nutzte die Gelegenheit und kaufte zwei Cola. Nachher würde hier bestimmt der große Ansturm kommen.
Auf einmal tauchte Ann Merete wieder auf. «Da seid ihr ja. Isch haber eusch verloren. Hendrik ist da!»
Ich war sehr erleichtert, als Hendrik in seinen knallroten Hosen auftauchte. Ich hatte mich so allein gefühlt unter all diesen fremden, anderssprachigen Menschen.
«Heihei, da seid ihr also. Meine Mutter war schon gans nervös, weil sie euch verloren hat. Mein Vater ist auf dem Weg hierher. Er ist bestimmt so in sehn Minuten da. Wollt ihr auch was essen? Ich habe Kohldampf! Was wollt ihr haben? Pølser und Rømmegrøt?»
Ich nickte, obwohl ich keinen blassen Dunst hatte, was das sein konnte, aber ich mochte jetzt nicht nachfragen. Meine größere Besorgnis galt Nicki, der aussah, als wäre er nun ganz eingepennt. Er hatte den Kopf auf den Tisch gelegt. Ich schüttelte ihn wieder wach und reichte ihm schließlich schweren Herzens eine Zigarette, in der Hoffnung, ihn damit wieder fit zu kriegen.
«Jetzt nicht wieder einpennen, Nicki», zischte ich. «Gleich kommt dein Vater.»
Doch er schob die Kippe von sich weg. «Ich darf nicht …», murmelte er. «Tut immer noch weh …»
Hendrik kam mit dem Essen, das aus Würstchen und einer Art Fladenbrot und einem Quarkbrei bestand, und setzte sich zu uns. «Meine Kamerader sind schon alle stockkanonenvoll», stöhnte er. «Sverre hat prompt gekotst. Bei über swei Wochen Dauerbiersustand ist das ja kein Wunder.»
«Echt?», murmelte Domenico matt und zwang sich, ein Stück Wurst abzubeißen.
«Hej, du siehst übel elend aus», stellte Hendrik fest. «Immer noch erkältet?»
«Mhmm …»
«Seht, da kommt ja mein Vater schon!» Hendrik zeigte auf einen großgewachsenen, muskulösen Mann mit rötlichem Haar. Ich erkannte ihn sofort. Ich hätte ihn wahrscheinlich sogar aus Tausenden heraus erkannt, so viele Bilder hatte ich von ihm studiert. Er sah wirklich und wahrhaftig genau so aus wie die Wachsfigur bei Madame Tussauds, außer dass er nun ein paar Jährchen älter war und sein Haar in natura heller wirkte. Er war in Begleitung von Kjetil und Solvej und einer hübschen blonden Frau mit ziemlich markanten Gesichtszügen und kräftigen Oberarmen. Ich vermutete, dass das seine Frau Liv war.
Hendrik sprang sofort hoch und lief auf seine Familie zu. Domenico zog sich augenblicklich seine Kapuze über den Kopf und drehte sich weg. Ich tätschelte seinen Rücken, während ich die Truppe im Auge behielt. Kjetil und Solvej waren gerade mal wieder am Zoffen. Beide steckten in einer blauen Tracht und sahen sich fast zum Verwechseln ähnlich. Liv wies die beiden scharf zurecht, während Hendrik sich eifrig mit seinem Vater unterhielt. Domenico verbarg sein Gesicht in seiner Hand, als würde ihn die Sonne auf einmal blenden.
«Hei!» Hendrik stand schon wieder neben uns. «Ich habe meinen Vater gefragt. Er ist bereit, euch ein Autograf zu geben.»
Ich stieß Domenico an. Er hob seinen Kopf und sah mich mit dunklen, verlorenen Augen an. Dieser Blick ging mir jedes Mal dermaßen ans Herz, dass ich am liebsten losgeflennt hätte.
«Keine Angst, er beißt nicht», sagte Hendrik. «Ist kein Problem. Geht schon hin.»
«Komm, Nicki.» Ich zog die Karte und den Kugelschreiber aus meiner Handtasche. Domenico rührte sich nicht. Er saß wie erstarrt da. «Komm schon. Wenn Hendrik es doch sagt», flüsterte ich und packte ihn am Arm.
Schließlich erhob er sich langsam. Ich drückte ihm die Karte und den Schreiber in die Finger.
«Geh.» Ich streichelte kurz über seinen Rücken. Und da ergriff Hendrik einfach seine Hand. «Komm, Nick. Mein Vater hat Ja gesagt.» Er deutete Nickis Nervosität anscheinend auf die Tatsache hin, dass er ganz einfach Lampenfieber vor dem Treffen mit so einer Sportlegende hatte.
Hendrik zerrte Domenico mit sich zu seinem Vater. Ich blieb ihnen dicht auf den Fersen. Kjetil und Solvej stellten ihren Streit ein und musterten uns neugierig. Kjetil neigte seinen Kopf, ganz ähnlich, wie Domenico es immer tat, wenn er sich sein Haar in die Stirn fallen lassen wollte. Solvej machte genau das Gegenteil, sie strich sich das Haar aus den Augen, als Domenico an ihr vorbeiging. Sie waren beide echt hübsch. Wie alle Janssen-Kinder …
Morten angelte sich gerade eine Wurst und lachte über etwas, was sein Nachbar in dem Moment zu ihm sagte. Hendrik ließ Domenicos Hand wieder los und tippte seinen Vater an.
Der große Moment war gekommen.
Morten wandte sich zu Hendrik um.
«Hej, Vater, hier sind die swei Fans von dir aus Deutschland», sagte Hendrik. Ich stellte mich dicht hinter Nicki, damit er nicht im letzten Augenblick abhauen konnte.
Morten nickte kurz, sagte etwas zu seiner Frau und drehte sich dann ganz zu uns um. Ich berührte Nickis Schulter, um ihm zu zeigen, dass ich da war. Und hinter ihm stand. Und nicht weggehen würde.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, diesem Mann, den ich nur von den Bildern und aus dem Wachsfigurenkabinett kannte, nun leibhaftig gegenüberzustehen.
«Hallo», sagte Morten. Seine Augen schauten uns zurückhaltend und routiniert an – die Augen eines Mannes, zu dessen Alltag es früher gehört hatte, Autogramme zu geben. Ich hatte keine Vorstellung, was ihm durch den Kopf gehen mochte, doch eines wusste ich: Wenn es noch einen allerletzten Zweifel gegeben hatte, dass dieser Mann Domenicos Vater war, dann war dieser Zweifel jetzt nach einem Blick in diese für die Janssen-Familie so typischen mandelförmigen blaugrauen Augen endgültig aus dem Weg geräumt.
Ein paar Zehntelsekunden lang hatte ich Angst, Domenico würde sich nicht mehr aus seiner Starre rühren oder tatsächlich wegrennen, doch er hielt Morten schweigend und mit gesenkten Augen seine Karte hin. Morten nahm sie und sah Domenico an.
«Dein Name?»
«Nic … mit C am Schluss.» Domenico hob flüchtig sein Gesicht und erwiderte Mortens Blick. Morten schrieb Nickis Namen und einen kleinen Gruß auf die Karte und gab sie ihm mit einem höflichen Lächeln zurück.
Domenico nahm die Karte wieder, und es war vorbei.
Es war alles ganz schnell gegangen.
Morten nickte uns nochmals kurz zu und wandte sich wieder dem Wurststand zu. Wahrscheinlich war es für ihn mehr Pflicht als Vergnügen, Autogramme zu geben. Vielleicht waren wir ihm sogar lästig. All diese Gedanken jagten durch meinen Kopf.
Und da drehte sich Morten noch einmal um. Sah Domenico an. Den Bruchteil einer Sekunde lang glaubte ich, Morten stutzen zu sehen, aber sicher war ich nicht.
Und dann war es endgültig vorbei.
Ich legte vorsichtig meinen Arm um Domenico, der wie eine Salzsäule dastand und die Karte in seinen Händen anstarrte.
«Nicki?»
«Lass uns gehen, Maya …»
«Aber …»
«Andiamo a casa. Ich will hier weg.»
«Warum?»
Da klammerte er sich schmerzhaft an meinem Arm fest und schleifte mich buchstäblich durch die Menschenmenge, an der Schule vorbei und die Straße hinauf, ziemlich direkt in Richtung Bahnhof.
«Warte doch. Wo willst du hin?», keuchte ich und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien.
«Einfach nur weg, hab ich gesagt!»
Ich zuckte mit den Schultern und beschloss, jeglichen Widerstand aufzugeben. Vielleicht war ein kleiner Spaziergang ja tatsächlich das Richtige. Vielleicht musste er sich erst abreagieren und nachdenken. Also ließ ich mich weiter von ihm fortzerren, und wir liefen und liefen. Wir legten ein langes Stück Straße zurück, bis wir schließlich zum Waldrand gelangten.
Dort ließ Nicki sich einfach ins Gras fallen und drückte sein Gesicht zur Erde.
«Hey, bist du okay?» Ich kniete mich neben ihm nieder und rüttelte ihn leicht.
Er drehte sich auf den Rücken und sah mich an. Sein Atem ging schwer, aber seine Augen waren wieder etwas klarer als vorhin.
«Eins ist mal sicher, ich sprech den nicht an. Ich kann das nicht. Ich brech das hier ab.»
«Aber …»
«Nein! Tanto, non faccio parte della famiglia. Ich gehör nicht dazu. Weiß ich doch genau. Hab ich ja auch immer gewusst.»
«Schlaf doch erst mal eine Nacht drüber. Ich meine … du kannst es noch nicht beurteilen. Er kennt dich doch gar nicht.»
Er schüttelte nur den Kopf.
Ich seufzte. «Und jetzt?»
Er zuckte mit den Schultern. «Gib mir 'ne Zigarette. Bitte.»
Da er heute noch nicht viel geraucht hatte, brachte ich keine Einwände an und reichte ihm eine. Während er sie schweigend rauchte, starrte ich in den endlos blauen Himmel. Nicki musste mit seinem Vater reden, unbedingt. Würde er das nicht tun, würden seine tiefen Wunden niemals heilen können …
Schließlich rollte Nicki sich zur Seite und schloss die Augen. Mir war nicht schon wieder nach Schlafen zumute, aber wenn er das brauchte, um mit der Sache klarzukommen, wollte ich ihn nicht hindern. Lieber so, als wenn er am Ende doch noch in eine Psychose abstürzen würde.
Während ich mich neben ihn ins Gras legte, versuchte ich mir vorzustellen, wie man wohl damit fertig wird, wenn man soeben zum ersten Mal im Leben seinem Vater begegnet, den man bisher nur von Bildern gekannt hat. Kjetil und Solvej kriegten alles, was sie sich wünschten, und Domenico durfte gerade mal ein Autogramm haben – von seinem eigenen Vater! Wie krank war denn das?
Irgendwann sehr viel später wurde ich wieder wach, als Nicki mich sanft berührte. Ich schrak hoch und schaute auf die Uhr: Halb fünf. War ich tatsächlich eingeschlafen? Anscheinend war auch mein Schlafrhythmus komplett durcheinander.
«Lass uns nach Oslo fahren», bat er. «Nehme nicht an, dass bei Hendrik schon jemand zu Hause ist. Ohne ihn kommen wir nicht in den Keller.»
Ich war einverstanden. Immer noch besser, als die Zeit hier totzuschlagen. Außerdem hatte ich riesigen Hunger.
«Aber sollten wir Hendrik nicht lieber Bescheid sagen?»
«Meinst du, ich geh zurück und platz denen da in ihre heile Familienfeier rein?», schnaubte Domenico, und eine spürbare Nuance Verachtung lag in seiner Stimme. «Reichst du mir mal 'ne Kippe raus?»
Ich holte die Zigaretten und den ausgedruckten Plan von Nittedal hervor, den ich glücklicherweise immer noch in der Handtasche trug. Mit seiner Hilfe fanden wir schließlich nach einiger Zeit die Straße wieder, die direkt hinauf zum Bahnhof führte.
Beim Bahnhof war außer uns fast niemand zu sehen, nur ein rotblondes Mädchen saß einsam auf einer Bank und spielte mit seinem Handy. Erst auf den zweiten Blick erkannten wir, dass es Solvej war.
Wir blieben etwas abseits neben ihr stehen, um sie unbemerkt beobachten zu können, doch sie entdeckte uns. Sie hatte sich in der Zwischenzeit umgezogen. Statt der Tracht trug sie nun wieder Jeans und ihre Vans.
Sie nickte uns schüchtern zu und kam vorsichtig näher.
«Hendrik hat euch gesucht», meinte sie. «Er sagte, falls ich euch irgendwo sehe, soll ich euch ausrichten, dass seine Mutter ab acht Uhr zu Hause ist. Ihr könnt bei ihr klingeln.»
Wir bedankten uns.
«Fahrt ihr in die Stadt?», fragte sie neugierig und musterte uns mit ihren blaugrauen Janssen-Augen. Die von Natur aus vermutlich sehr hellen Brauen und Wimpern waren mit pechschwarzem Kajal nachgezogen, was die Augen besonders drastisch aus ihrem Gesicht hervorstechen ließ.
«Ja.»
«Dann können wir ja zusammen fahren. Aber ihr dürft Hendrik nix sagen.»
«Warum denn nicht?», fragte ich.
Solvej senkte ihren Kopf und schob sich den Ärmel über das Handgelenk. Sie trug eine schwarze Jacke mit einem grünen Fantasy-Aufdruck. Um ihren Hals baumelte eine lange silberne Kette mit einem kugelförmigen Herzen, das ein Schlüsselloch hatte.
«Weil meine Eltern nicht wissen dürfen, dass ich nach Oslo fahre.»
«Wieso nicht?», fragte ich. Was war da bei der Familie Janssen im Busch?
«Weil ich mich mit meinem Freund treffe. Aber die wissen das nicht. Dürfen sie auch nicht. Meine Mutter macht sonst wieder ein Riesentheater. Sie glauben, ich sei hier bei 'ner Freundin.»
Ich sah das Mädchen eingehend an. Da lag etwas in ihrem Gesicht, das ich nur schwer deuten konnte. Doch noch seltsamer kam mir auf einmal Domenicos Gesichtsausdruck vor. Er sah aus, als würde er an einem Rätsel herumtüfteln.
In dem Moment kam der Zug. Wir stiegen ein und setzten uns auf einen freien Dreiersitz. Domenico, der ganz am Fenster saß, beugte sich plötzlich zu Solvej rüber.
«Sag mal, hat dein Freund schwarzgefärbtes Haar?», wollte er wissen. «Emo-Style?»
«Woher weißt denn du das?», fragte sie leicht argwöhnisch.
«Ich glaub, ich hab den getroffen. Er hat mir von dir erzählt.»
«Echt?» Solvej lief über und über rot an. «Das darf aber überhaupt niemand wissen, dass wir zusammen sind! Das ist streng geheim!»
«Bist du sicher? Ich mein, dass ihr wirklich zusammen seid?»
«Warum fragst du das?» Solvej spießte Domenico mit ihren Augen beinahe auf.
«Nur so …» Nicki zog seinen Kopf wieder zurück. Da grabschte Solvej einfach nach seinem Arm.
«Hey! Sag mir – warum denkst du, dass wir nicht mehr zusammen sind?»
«Ey, ich weiß nicht, ich hab da wohl was falsch interpretiert. Ich bin nicht so gut in Englisch, weißt du …» Mir entging nicht, dass Nicki ihrem Blick auswich. Was wusste er, das ich nicht wusste? Solvej kaute auf ihrer gepiercten Unterlippe rum und starrte ihn an.
«Hatte heute den ganzen Tag Zoff mit meiner Mutter», sagte sie unwillkürlich.
«Ach ja? Warum denn?»
«Weiß nicht. Ich mach ja sowieso immer alles falsch. Die mögen Kjet lieber als mich. Dabei, wenn die mitkriegen würden, was der alles anstellt …» Sie kratzte sich am Handgelenk. Jeder ihrer Fingernägel war mit einer anderen Farbe bemalt.
«Sag mal, wieso erzählst du mir das?», fragte Domenico leise.
«Halt so.» Sie kicherte ein wenig. «Ich glaub, ich sollte mal für einen oder zwei Tage verschwinden. Mal sehen, was die dann machen würden.»
Den Rest der Fahrt schwiegen wir, und es war fast sechs Uhr, als wir im Osloer Bahnhof einfuhren.
«Ey, pass auf dich auf», sagte Domenico, als wir uns draußen auf dem Bahnhofsplatz von Solvej trennten. «Bau keinen Mist, okay?»
«Phh, ich doch nicht. Aber bitte, bitte versprecht ihr mir, dass ihr mich nicht bei Rick verpetzt, ja? Der sagt das sonst nur meinem Vater. Das weiß ich genau. Und ich krieg dann fetten Ärger.»
«Okay, aber nur, wenn du mir versprichst, heute Abend wieder nach Hause zu fahren.» Domenico sah das Mädchen eindringlich an. «Kannst nämlich froh sein, dass du Eltern hast, die sich Sorgen machen.»
«Schon klar. Coole Kette, übrigens», meinte sie mit Blick auf Domenicos Tigerzahn und wurde über und über rot. «Und … und überhaupt. Wir sehen uns. Ha det!» Verlegen wandte sie sich um und lief davon.
Domenico starrte ihr nach, als sie Richtung Karl-Johans-Gate davonging. Es war schon ein wenig abstrakt, von der eigenen Halbschwester angemacht zu werden …
«Wollen wir 'n bisschen zum Hafen gehen?», fragte er anschließend. Ich war einverstanden. Wir kauften uns an einem Stand etwas zu essen und zu trinken und schlugen dann den Weg Richtung Hafen ein. Als wir den großen Platz vor dem Rathaus überquerten, klingelte mein Handy. Es durchfuhr mich eiskalt.
«Paps?», hauchte ich, als ich das Handy am Ohr hatte.
Und da legte Paps los. Ich konnte mich hinterher nicht mehr an alles erinnern, was er sagte, aber er stauchte mich nach Strich und Faden zusammen. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte er mir so den Kopf gewaschen. Er nannte mich verantwortungslos und dass ich mich sowieso für nichts anderes außer für Domenico interessiere und mir das Leben rings um mich herum völlig egal sei, er sagte etwas von Egoismus und dass es ja völlig gleichgültig sei, dass auch er Sorgen habe. Ich hörte gar nicht mehr richtig hin, weil mein Gehirn und meine Emotionen nicht mehr mitkamen. Seine Stimme zog an mir vorüber wie ein eisiger Wind. Starr und fassungslos stand ich da, meine Finger krampften sich um das Handy. Auch als Paps aufgelegt hatte, konnte ich mich nicht rühren.
Domenico öffnete vorsichtig meine erstarrten Finger und klaubte das Handy heraus. Er legte es zurück in meine Handtasche. Ich schlang meine Arme um Nickis Hals, um mich irgendwo festhalten zu können. Ich hatte es ja verdient, aber gleich so? Paps hatte mich nicht mal zu Wort kommen lassen … Der Schock war mir so durch Mark und Bein gegangen, dass ich am ganzen Leib schlotterte.
Nicki drückte mich an sich.
«Sei doch froh, dass du 'nen Vater hast», meinte er mit bebender Stimme. «Auf dich hat wenigstens einer aufgepasst. Mir wär's lieber gewesen, mich hätte mal einer so richtig zusammengestaucht. Dann hätte ich vielleicht all den Mist nicht gemacht.»
Ich spannte meine Schultern an. Ich fror. Ich kam mir vor, als wüsste ich überhaupt nicht mehr, wo ich war.
Domenico nahm meine Hand. Wir sprachen nicht, aber ich wusste, dass er ein Ziel im Sinn hatte. Und ich überließ ihm die Führung. Rollentausch war angesagt. Jetzt war er offenbar derjenige, der den Überblick hatte, während ich diejenige war, die getröstet werden musste.
Es war ein dauerndes Wechselspiel.