Nicki führte mich auf die Burg hinauf, die man nur erreichte, wenn man einen Riesenbogen machte. Die Wiesen drumherum waren voller Menschen, die das schöne Wetter genossen und sich von ihren Feierlichkeiten erholten. Dann, als wir im Gänsemarsch die Böschung entlanggingen, musste Domenico mich wieder loslassen, aber er schien sehr genau zu wissen, wo er hinwollte.
«Hier», sagte er und zog mich unter den Schatten eines Baumes. «Da war ich in der Nacht damals.»
Ich konnte bald sehen, warum Domenico sich diesen Platz ausgesucht hatte. Von hier aus hatte man mit ziemlicher Sicherheit einen der schönsten Ausblicke über den Hafen und den Fjord. Ein heftiger, aber erfrischender Wind blies mir die Haare ins Gesicht.
«Schön, was?», meinte er heiser.
Ich nickte, aber ich wusste, dass er mich nicht allein der Aussicht wegen hierher geführt hatte. Er hatte seinen Pullover wieder ausgezogen, und ich glaubte zu fühlen, wie es in seiner Brust regelrecht brannte und tobte.
Er holte tief Luft. «Es wird Zeit, dass ich es dir sage.»
«Was denn?», brachte ich würgend hervor, während mein Körper gleichzeitig in Hitze und Schüttelfrost ausbrach. Was war es? Was war dieses Geheimnis, das schon lange im Untergrund vor sich hin gebrodelt hatte, nur darauf wartend, dass er es endlich herausließ?
Er rutschte ein wenig von mir weg und streckte seine Füße aus.
«Hör zu … es … fällt mir echt schwer, das zu sagen, aber … sieh mal … ich hatte in der Therapie … ich hatte einige Gespräche mit meinem Therapeuten … weißt du, der Typ, der mir auch gesagt hat, dass ich meinen Vater suchen soll … Und da haben wir auch über dich geredet.»
«Über mich?» Trotz des Aufruhrs in meinem Körper schaffte ich es noch halbwegs, das wie eine trockene Feststellung klingen zu lassen.
«Mhmm. Über deine Entwicklung und unsere Freundschaft und so.»
«Ach ja?» Was ging diesen Therapeuten denn meine Entwicklung an?
Domenico rückte wieder näher an mich heran und legte seine Hand auf meinen Rücken. Doch sie war viel zu unruhig, um mich besänftigend streicheln zu können. Ich spürte, wie heftig es ihn nach einer Zigarette verlangte, doch er gab dem Drang nicht nach.
«Erzähl», forderte ich.
«Na ja, du bist siebzehn … und du bist dabei, dich von deinem Elternhaus abzulösen. Ist voll normal. Aber ich hab das schon lang hinter mir. Oder besser gesagt, bei mir gab es nie ein Elternhaus.» Er schloss die Augen und versuchte, seine Hand auf meinem Rücken still zu halten.
«Du warst am Anfang offenbar fasziniert von mir, weil ich … so aufregend und … weiß nicht, verwegen bin. Wild, oder wie du das nennst. Ist voll in Ordnung. Waren sie alle, die Mädchen. Ihr fahrt ja angeblich auf wilde Typen ab. Aber die Wahrheit ist, dass ich zerrissen bin. Kaputt. Das weißt du ja schon lange, aber erst jetzt fängst du an, es richtig zu kapieren, stimmt's?»
Ich wusste nicht, welche Antwort ich ihm darauf geben sollte. Aber anscheinend war jegliche Antwort überflüssig, denn Domenico konnte mich manchmal besser erfassen, als ich selbst es schaffte.
«Jetzt ist dir klar geworden, dass man mich nicht so schnell wieder hinbiegen kann. Auch ich hab das erst in der Therapie so richtig geschnallt. Ich hab zwar einiges besser im Griff als früher, aber … du und ich … wir stehen an zwei total verschiedenen Punkten im Leben. Du wirst erwachsen, und ich … ich hab schon mehr erlebt, als es für 'nen Achtzehnjährigen gesund ist. Ich sollte mindestens dreißig sein oder so. Mag sein, dass es noch zwei, drei Jahre aufregend ist für dich, mit mir rumzuhängen, aber irgendwann wirst du die Schnauze voll haben. Das hat mir der Therapeut klar und deutlich verklickert. Du wirst dir 'nen Typen wünschen, der mit dir … stesso livello … auf gleichem Level steht, mein ich.»
Ich brachte immer noch keinen Ton raus. Mein Herz schlug irgendwo außerhalb meines Körpers. Ich jagte meinen Gedanken nach, die in alle Himmelsrichtungen davonstürmten, und versuchte, sie zu einer Antwort zusammenzubauen. Ich schaffte es nicht.
Er musterte mich kurz und redete dann weiter: «Sieh mal, ich hab echt keine Lust mehr, mit Mädchen rumzuspielen, und ich schwör dir, ich hab in der Therapie keine Einzige angemacht. Ich kann echt nicht mehr. Ich mag nicht mein Herz jemandem verschenken und dann wieder enttäuscht werden, sonst ist es irgendwann wirklich nicht mehr da. Ich hab noch 'nen Rest in mir, und den will ich aufbewahren für die Menschen, die mich brauchen. Ich kann mir nicht erlauben, dass das auch noch kaputtgeht.»
Ich spürte, wie sein Zittern stärker wurde und wie er seine ganze Kraft aufbrachte, um seinem Bedürfnis nach Nikotin zu widerstehen. Er nahm die Hand von meinem Rücken weg und fuhr sich damit hektisch durchs Haar und übers Gesicht.
«Sieh mal, ich weiß ja nicht mal mehr richtig, wie wir heute Früh nach Nittedal gekommen sind. Voll zu. Blackout. Wir waren plötzlich dort. Na gut, ich hör mit den Ropys ja wieder auf, wenn wir zu Hause sind. Ist ja nur 'ne Notlösung. Aber … du weißt ja, dass ich dann wieder die Medikamente nehmen muss, nicht wahr? Wie lange, weiß ich auch nicht. Vielleicht für immer. Ich mein, das kann ich dir nicht zumuten.»
«Aber …» Ich fühlte mich wie betäubt.
«Maya, Süße … bei dir bricht doch jetzt so viel auf in deinem Leben. Ich bin da doch nur im Weg. Werde du erst mal in aller Ruhe erwachsen. Aber beeil dich nicht. Ich hatte keine Jugend und auch keine richtige Kindheit. Oder meinst du, es war einfach, bei 'ner Nonne aufzuwachsen?»
«Ich dachte, ihr wärt bei ihr glücklich gewesen?» Wenigstens brachte ich endlich etwas raus, auch wenn es nicht das war, was ich eigentlich sagen wollte. Vorausgesetzt, ich wüsste endlich, was ich sagen wollte …
«Ja, schon, aber … als Kind weißt du vieles nicht. Die Erinnerungen … sie sind kein Traum mehr, Maya. Sie … sie sind wahr.» Er sah mir intensiv in die Augen, und dort, ganz in der Tiefe seines Blickes, regte sich ein Wechselspiel von Hoffnung und Furcht. Da war etwas, das erst dabei war, von ihm vorsichtig ergründet zu werden.
«Seit deine Mutter mich … na ja, da ist was aufgebrochen, und seither … ich kann mich auf einmal wieder an so vieles erinnern. Es macht mir Angst. Aber lassen wir das …»
«Das heißt, du w-willst dich v-von mir trennen, hab ich Recht?», brachte ich die Sache endlich auf den Punkt.
Er seufzte und hob die Schultern. «Sie haben es mir geraten in der Therapie. Sie haben mir klar und deutlich gesagt, dass so was keine Zukunft haben kann.»
«Aber was ist mit unserer Laterne? Mit dem Versprechen?», krächzte ich. Es war, als würde der Wind meine Stimme irgendwo weit in den Fjord hinaustragen.
«Vergiss die Laterne», sagte Domenico müde. «Wach auf. È stato solo un sogno. Es war nur ein Traum. Du musst dich mit der Realität abfinden. Ich kann dir nicht geben, was du brauchst. Sieh das ein.»
Ich schnappte nach Luft, aber es fühlte sich an, als wenn überhaupt keine vorhanden wäre.
«Schau mal, gewisse Dinge kann man sich nicht wünschen oder ändern, capito? Ich muss das aus meinem Leben machen, was noch möglich ist.»
«Aber möglich ist doch alles, wenn man daran glaubt …?» Obwohl diese Worte so lange in mir verschüttet gewesen waren, drangen sie mit einer Impulsivität an die Oberfläche, die mich in Erstaunen versetzte. War tatsächlich ich das, die das eben gesagt hatte?
Domenico seufzte wieder. «Ich weiß. Glaub ich auch irgendwie, und ich weiß auch, dass es 'nen Gott gibt. Er hat mir ja schon echt viel geholfen. Ohne ihn wär ich schon lange tot. Aber … weißt du, was ich in letzter Zeit manchmal nachts träume, hmm? Ich träum, dass ich diesen Typen umlege, der Mingo dieses kranke Heroin angedreht hat. Wenn ich mir vorstelle, dass Mingo nie mehr zurückkommt … ich darf gar nicht so weit denken. Ich kann nicht an morgen denken und nicht an übermorgen. Ich darf mir nicht vorstellen, dass Mingo für den Rest meines Lebens nicht mehr bei mir sein wird, okay? Ich mein, ich hab's ja mittlerweile kapiert, aber … ich hab auch keinen Bock, mich dauernd von dir aufpäppeln zu lassen. Ich finde immer noch, dass der Mann die Frau beschützen soll. Vielleicht ist das mein italienisches Blut in mir.»
«Und was, wenn ich das anders sehe?», flüsterte ich.
«Maya, du weißt doch selber nicht, was du willst», sagte er, und ich hörte deutlich, dass er dabei seine letzte Beherrschung aufbrachte. «Das spür ich doch genau. Du bist total hin- und hergerissen zwischen deinen Gefühlen und der Realität. Mir brauchst du echt nix vorzumachen.»
Ich hätte ihm so gerne das Gegenteil gesagt, aber im Grunde genommen wusste ich, dass er mit der Behauptung voll ins Schwarze traf.
«Und warum … warum hast du mir dann dieses Armbändchen gemacht? Was … sollte das? Warum?», stieß ich hervor.
«Es soll einfach heißen, dass ich für immer dein Freund sein werde. Auf rein freundschaftlicher Ebene. Egal, wo ich hingehen werde», sagte er müde. «Das ist das einzige Versprechen, das ich dir geben kann.»
«Was soll das heißen – egal, wo du hingehen wirst?»
Er streckte bittend die Hand nach meiner Tasche aus. Ich zog die Zigarettenschachtel raus und reichte sie ihm. Seine Finger waren beinahe zu nervös, um die Zigarette überhaupt anzünden zu können. Sie fiel ihm zweimal runter.
«Na gut, irgendwann muss ich es dir sagen. Ich hab beschlossen, dass ich wieder nach Italien gehe.» Er stieß erlöst den Rauch durch die Nase.
«Was?» Ich wäre beinahe die Böschung runtergekullert, hätte er mich nicht instinktiv am Arm gefasst.
«Wir haben in der Therapie viel über meine Zukunft geredet», gestand er. «Mir ist klar geworden, dass ich nicht nach Deutschland gehöre. Meine Wurzeln sind nun mal in Italien.»
Ich hielt die Luft an.
«Ich weiß, dass es für dich 'n Schock ist, aber ich … ich brauch auch so was wie Zukunftspläne, verstehst du? Im Herbst hol ich den Hauptschulabschluss nach. Dann versuch ich, 'ne Ausbildung als Fachkraft im Gastgewerbe zu kriegen. Das geht mit 'nem Hauptschulabschluss. Und ich mach den Job echt gern, das hab ich in der Mensa in Rimini festgestellt. Wenn ich mich anstrenge, dann … bring ich's vielleicht eines Tages sogar noch zum Restaurantmeister, wer weiß? Ist zwar 'n großes Ziel, aber nicht unmöglich. Müsste zwar 'ne Menge pauken dafür, aber wenn ich endlich 'n Ziel habe, dann kann ich mich auch besser ranhalten. Dumm bin ich ja anscheinend nicht. Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich könnte mir echt vorstellen … vielleicht sogar mal in Italien ein Ristorante zu führen. Am Meer. Drum will ich ja auch versuchen, die Ausbildung in Milano oder in Roma zu machen. Falls das klappt.»
Es war, als hätte mir jemand einen Strick um den Hals gezogen. Ich bekam kaum noch Luft.
«Und was ist mit Manuel? Und Bianca?», würgte ich gerade noch raus. Ich selbst zählte ja nicht mehr …
«Carrie muss aus diesem Heim raus, die dreht da drin sonst durch. Sie ist bald volljährig, und spätestens nach meiner Ausbildung werden wir 'nen Weg finden, dass sie mit Manuel zu mir nach Italien kommen kann. Die will hier eh weg. Ich kann für die beiden sorgen. Wenn's nicht anders geht, heirate ich sie halt.»
«Heiraten? Carrie?!» Mit einem Satz war ich auf den Füßen. Ich taumelte, und Nicki konnte mich gerade noch am Bein packen.
«Maya, spinnst du? Setz dich! Du fällst sonst runter.» Er zog mich behutsam wieder auf den Boden und verlor dabei seine Kippe.
«Maya», sagte er eindringlich, als ich wieder einigermaßen ruhig atmete. «Sieh doch mal, ich werde eh nie wieder so 'ne Frau finden wie dich. Und für Manuel würde ich das tun. Damit er in 'ner einigermaßen anständigen Familie aufwachsen kann. Und für Mingo. Ich … ich weiß, dass es sein Wunsch ist, dass Manuel an dem Ort leben kann, wo er selbst am glücklichsten war.»
«Taormina?» Ich zitterte am ganzen Leib.
«Mhmm. Er liebte diesen Ort. Warum, weiß ich nicht, aber es war so. Vielleicht, weil er die Großstadt satt hatte, die ihn so in den Sumpf runtergezogen hat. Das Leben auf Sizilien ist nicht leicht. Aber ich weiß, wie man sich durchschlägt.»
«Ich dachte, du kannst nicht mehr zurückkehren wegen Paolo?» (Kämpfen!, sagte ich mir. Ich musste kämpfen … es konnte nicht sein … er durfte nicht wieder weggehen!)
«Doch. Wenn ich will, geht das. Außerdem hab auch ich meine Leute dort. Einige sind mir noch was schuldig. Das würde ich schon geregelt kriegen.»
«Und was ist mit Bianca?» (Mein letzter Versuch …)
«Sie kommt zu mir, sobald sie achtzehn ist. Dauert zwar noch 'ne Weile, aber dieser Traum wird ihr Kraft geben, durchzuhalten. Und vorher kann sie ja zu mir in die Ferien kommen …»
Mir war es, als hätte man mir sämtliche Eingeweide rausgerissen.
«Und das war es also, was du mir nach der Reise sagen wolltest?» In mir braute sich nun ein Feuerball zusammen, und ich brauchte ein paar Sekunden, ehe ich einordnen konnte, was es war.
Es war Wut. Kränkung. Enttäuschung. Ich wollte heulen, aber ich konnte nicht. Er steckte sich eine neue Kippe in den Mund und zündete sie an. Er zog so fest daran, dass ihm beinahe die Tränen kamen.
«Siehst du mal, wie krank das ist?», zischte er. «Ich rauche immer noch, obwohl meine Lunge nur noch ein Wrack ist. Das hast du echt nicht verdient, Maya.»
Ich schwieg.
«Wir sind nun mal in zwei verschiedenen Welten zu Hause. Und daran wird sich nix ändern. Auch mein Vater ist in 'ner anderen Welt zu Hause als ich. Und Hendrik. Und Kjetil und Solvej. Ich werde nie zu ihnen gehören. Bitte lass mich allein. Geh zu Hendrik oder sonst wohin!»
Er drehte seinen Kopf von mir weg und wischte sich über die Augen. Meinem Blickfeld blieb nur noch sein kupferfarbener Haarschopf übrig, alles andere war verborgen. Obwohl ich wusste, dass es längst keinen Sinn mehr hatte, blieb ich immer noch sitzen.
«Vattene! Geh! Ich komm später.» Seine Stimme klang, als hinge er an einem Marterpfahl.
«Sieh mich an, Nicki.» Ich wollte wissen, ob er tatsächlich heulte.
«No.»
Die Rathausuhr schlug sieben Uhr, und das Glockenspiel begann. Einen Moment war mir, als würde ich in der Luft schweben, während der Wind die Töne der klingelnden Glocken an mein Ohr herantrug. Und da unten waren all die Leute, die feierten.
Ein paar endlose Sekunden lang starrte ich über die Weite des Fjords und auf das Schiff, das gerade ablegte. Und ich wünschte mir, einfach einzusteigen und aus meinem Leben hinauszufahren, irgendwohin, wo eine neue Geschichte beginnen würde, eine, die Sinn machte und in der das Puzzle am Ende wirklich aufging. In der nicht jedes Mal, wenn ich glaubte, ein weiteres Teilchen eingefügt zu haben, wieder ein Windstoß kam und alles durcheinanderwirbelte, so dass ich von vorne beginnen musste.
Ich fühlte mich, als wären meine Einzelteile irgendwo auf der ganzen Welt verstreut.