16. Der Junge ohne Familie

Ann Merete machte mir auf und fragte nicht, warum ich so merkwürdig blanke Augen hatte. Ich ließ mich gleich auf die Matratze fallen und wollte sie mit den angestauten Tränen durchtränken, doch es funktionierte nicht. Es war nicht das erste Mal, dass mir das passierte. Merkwürdige Sachen gingen in mir ab. Regungen, die ich bis jetzt noch nie wahrgenommen hatte, begannen an mir zu zerren. Ich zückte mein Handy, wollte meine Mutter anrufen, wollte ihr mitteilen, dass es mir miserabel ging – und tat es dann doch nicht. Nein, sie sollte sich nicht unnötig Sorgen machen … sie musste mit ihren eigenen Konflikten fertig werden …

Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Vielleicht hatte ich tatsächlich ein Schiff bestiegen und befand mich nun in einem ganz anderen Leben, in dem all das nicht mehr existierte, was vorher gewesen war. Keine Laterne, keine Liebe, kein Nicki und auch keine Maya mehr. Vielleicht war ich nun jemand anders.

Aber nein … ich wusste ja, dass es nicht so war.

Nicki … er würde mich also verlassen. Er hatte einen Traum, und das war gut. Es war vernünftig. Es war das, was ich mir immer für ihn gewünscht hatte. Nur, dass ich keine Rolle mehr in diesem Traum spielen konnte. Weil es nicht ging. Er hatte Recht. Und ich wusste es. Vielleicht war das der Grund, warum keine Tränen kamen. Weil ich ihm deswegen nicht mal böse sein durfte. Es blieb ihm ja nichts anderes übrig, als an sich selbst zu denken und Pläne für sein eigenes Leben zu schmieden. Weil ich ihm eben offensichtlich auch nicht geben konnte, was er brauchte, nämlich ein bedingungsloses Ja, und zwar für immer. Es war eine komplette Illusion.

Ganz mechanisch setzte ich mich auf, öffnete den Verschluss der silbernen Herzkette und nahm sie vom Hals. Ich steckte sie in meine Handtasche, ganz zuunterst in die dunkelste Nische. Dann ließ ich mich zurück aufs Kissen plumpsen und konzentrierte mich darauf, mich wieder an das Gefühl ohne die Kette um den Hals zu gewöhnen …

Irgendwann schlief ich ein und bekam nur vage mit, wie Domenico zurückkam und sich auf den zweiten Mattenstapel neben mir legte.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war von allem nur ein brennender Schmerz in meiner Brust übrig, den ich ignorierte, weil ich ihn sowieso gewohnt war. Vielleicht war genau das der Grund, warum auch Nicki seine Schmerzen dauernd verdrängte, egal ob körperlicher oder seelischer Natur. Er lebte einfach schon zu lange damit.

Ich warf einen kurzen Blick auf ihn. Er schlief wie ein Stein, und die Rohypnolschachtel lag neben ihm. Er hatte sie irgendwann aus meiner Handtasche genommen …

Ich kramte meine Papiere heraus, die ich inzwischen in meinem Koffer verstaut hatte, und sah nach. Um vierzehn Uhr ging mein Flug, ich musste also zusehen, dass ich spätestens um zwölf am Flughafen sein würde. Ich hatte keinen Schimmer, wie ich dorthin kommen sollte, aber Hendrik würde mir sicher helfen, die Züge rauszusuchen.

Während ich die mittlerweile trockene Wäsche von der Leine nahm, fiel mein Blick auf die kleine Bibel, die neben Nickis Matratze auf dem Boden lag. Ich zögerte, doch dann griff meine Hand danach. Dass er sie immer noch hatte, obwohl sie in so einem erbärmlichen Zustand war, ließ mich einen Moment innehalten. Erstaunlicherweise fielen keine Seiten raus, als ich die Bibel aufschlug, nein, sie waren alle geklebt und repariert worden. Auch die durch Zigarettenkippen angesengten Seiten waren mit transparentem Tesafilm geklebt worden, um sie vor weiterem Zerfall zu schützen. Für einen Moment war mir, als ob ein winzig kleiner Lichtstrahl durch mein erstarrtes Herz drang. Ich schlug die Bibel auf, und mein Blick fiel auf einen Vers, der mit rotem Kugelschreiber markiert worden war: So werft eure Zuversicht nicht weg, die eine große Belohnung hat.

Zuversicht? Seltsam. Das war doch gar nicht meine Markierung aus den früheren Zeiten. Ich hatte nie einen roten Kugelschreiber benutzt …

Es war, als ob dieser Vers in dem Moment zu mir sprechen würde. Fast eindringlich sogar. Zuversicht … Belohnung … konnte es sein, dass doch noch eine Überraschung auf uns wartete? Ich richtete meine Augen unwillkürlich gegen die Decke, als müsste Gott irgendwo da oben sein. Hatte er am Ende doch noch Antworten für mich parat, auch wenn es momentan so aussah, als ob alles zu Ende sei?

In diesem Augenblick sprang die Tür mit Karacho auf, und Hendrik stürmte in den Raum, auf dem Rücken seine Gitarre.

«Ah, Gott sei Dank, ihr seid da. Es ist so spät geworden gestern! Unnskyld, dass ich so reinplatse. Ich muss sofort wieder los. Wir haben einen Notfall. Ich muss nur meine Gitarre hier abladen!»

«Einen Notfall?» Es war mir ein wenig peinlich, dass ich noch im Schlafanzug war.

«Solvej ist seit gestern Abend verschwunden. Sie ist einfach nicht nach Hause gekommen. Wir haben überall gesucht. Wir haben sogar die Polisei eingeschaltet. Ich muss gleich wieder los. Ich schwänse grad Schule.»

«Warte, Hendrik. Ich muss nachher gleich zum Flughafen, aber …»

«Oh, stimmt! Ihr müsst ja nach Hause.» Hendrik sah mich bedauernd an.

Ich würde mir selber einen Zug raussuchen … Ich wollte Hendrik jetzt nicht auch noch damit belasten.

«Aber ich muss dir noch was sagen wegen Solvej … Nicki und ich haben sie gestern Abend getroffen. Sie wollte in die Stadt zu ihrem Freund, aber sie hat uns gebeten, es niemandem zu sagen.»

«Ja, ja, das habe ich mir schon gedacht. Es ist nicht das erste Mal, dass sie hemmelig ausbükst und sich mit Jungens trifft, aber sie kommt normalt immer wieder heim.»

«Und ihr Zwillingsbruder weiß nichts?»

«Kjet ist total sjokkert. Er isst nicht mal was. Darum hat Morten ihn auch gar nicht sur Schule geschickt. Ich muss los, mein Vater wartet auf mich.»

«Dann muss ich dir aber jetzt auf Wiedersehen sagen.»

«Okay. Schade. Was ist mit Nick? Reist er auch heute ab?»

«Keine Ahnung, sorry», sagte ich mit unbeabsichtigt kalt klingender Stimme.

«Ich will ihn jetst nicht wecken, aber ich hoffe sehr, dass er noch bleibt. Richtest du ihm aus, dass er auf keinen Fall abhauen soll, ohne sich von mir su verabschieden, ja?»

Ich nickte. Hendrik umarmte mich.

«Tja, dann … es war so toll mit euch. Tusen takk for alt.»

«Ich danke dir, Rick!»

Wir lächelten einander an. Ich stellte mir kurz vor, wie er wohl reagieren würde, wenn ich ihm jetzt sagen würde, wer Domenico war, aber ich wusste, dass dazu nun keine Zeit war. Und wenn Nicki es nicht wollte, musste ich das respektieren.

«Hej, willst du mir deine E-Mail geben? Dann können wir uns schreiben», sagte Hendrik.

«Gern!» Ich versprach, ihm einen Zettel mit meiner E-Mail-Adresse zu hinterlegen.

«Super. Und die von Nick auch, ja?»

«Der hat gar keine. Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt einen Computer anschalten kann.» Ich winkte ab. «Aber er kann ja mit meiner Adresse schreiben, wenn er das will.»

«Okay.» Hendriks Blick blieb einen kurzen Moment auf mir ruhen, dann wandte er sich der Tür zu. «Komm gut heim. Ekstrem schade, dass du nicht beim Contest dabei sein kannst!»

Wir lächelten uns ein allerletztes Mal zu. Er war so lieb. Man konnte sich echt in ihn verlieben …

Als er gegangen war, ließ ich meine Sachen stehen und ging ins Bad, um mich erst mal zu duschen und anzuziehen, bevor nochmals jemand in den Raum stürmen würde.

Als Nicki um halb zehn Uhr immer noch tief und fest schlief, beschloss ich, ihn zu wecken. Wie viele Rohypnol hatte er wohl intus? Na, war doch auch egal … Ich setzte Wasser auf, um ihm einen starken Kaffee zu machen, und brauchte fast zehn Minuten, um Nicki endlich wachzukriegen, was zur Folge hatte, dass ich den Kaffee wieder aufwärmen musste. Ich drückte ihm die Tasse mit dem pechschwarzen Gebräu in die Hand. Ich hatte eine doppelte Portion Instantpulver reingeschüttet.

Es wirkte tatsächlich Wunder, obwohl Domenico kaum ein Wort rausbrachte. Er verzog sich ins Bad, und als er eine geschlagene halbe Stunde später wieder rauskam, war er auf einmal völlig da.

«Soll ich dich zum Flughafen begleiten?», fragte er.

«Wie du willst», sagte ich kühl. «Hendrik war übrigens da.» Ich schilderte ihm in knappen Worten, was geschehen war.

«Solvej wird vermisst?» Er runzelte die Stirn. Er nahm sich eine Zigarette und ging zu dem kleinen Klappfenster, doch einen Augenblick später steckte er die Kippe unberührt wieder weg und kam zurück zu mir.

«Kacke!»

«Was ist los?»

«Hast du Hendriks Handynummer?»

«Nein …»

«Ich muss ihm dringend was sagen.» Er schaute sich suchend im Zimmer um und durchwühlte seinen Rucksack, bis er die roten Russekarten in der Hand hielt.

«Was musst du ihm sagen?» Ich stellte mich neben ihn.

Er gab keine Antwort und warf stattdessen einen prüfenden Blick Richtung Fenster. Dann zog er seinen Kapuzenpullover über und hob seine Lederjacke auf.

«Würde es dir was ausmachen, allein zum Flughafen zu fahren?» Er stopfte die Karten in die Jackentasche.

«Kein Problem, aber würdest du vielleicht die Güte haben und mir erklären, was jetzt läuft?», sagte ich spitz.

Er schlüpfte in seine Jacke und ging dann rüber zu Hendriks Motorrad, das in seiner üblichen Ecke stand. Offenbar war Hendrik mit dem Auto unterwegs.

«Ich geh sie suchen.»

«Das ist nicht dein Ernst, oder?»

Er strich kurz über den Sattel und prüfte das Zündschloss. Hendrik hatte tatsächlich in seiner Schusseligkeit den Schlüssel stecken lassen.

«Du willst doch nicht etwa das Motorrad benutzen?»

Er sah mich an. «Hör zu, ich erklär dir das später, okay? Oder besser gesagt, wenn wir wieder zu Hause sind. Nehme nicht an, dass ich in 'ner Stunde schon wieder zurück bin. Und dann bist du ja längst unterwegs.»

Ich wurde unermesslich sauer, weil ich mal wieder keine Ahnung hatte, was hier los war. Warum wusste Nicki immer Dinge, die ich nicht wusste?

Er setzte sich den Helm auf.

«Willst du etwa tatsächlich mit Hendriks Motorrad fahren?», stieß ich fassungslos hervor. «Das kannst du doch nicht machen, Nicki!»

«Ey, was ist nun wichtiger? Das Motorrad oder seine Schwester?»

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Dem war nicht zu helfen!

«Sie ist in Gefahr», sagte er. «Und ich weiß, dass ich ihr helfen kann.» Er schob die Maschine zur Tür und öffnete sie.

«Gut, aber dann nimm mich mit!» Ich quetschte mich an ihm vorbei und stellte mich ihm einfach in den Weg.

«Bist du verrückt? Du musst zu deinem Flug.»

«Ich reise ganz bestimmt nicht ab, ohne zu wissen, was passiert!»

«Ist deine Sache.» Er setzte sich auf das Vehikel und startete den Motor. «Aber dein Vater wird sich natürlich ganz derbe Sorgen machen.»

«Lass mich aufsteigen!» Ich machte Anstalten, auf den Sozius zu klettern, doch Domenico stieß mich ziemlich heftig weg.

«Kommt nicht in Frage. Und ohne Helm schon gar nicht.»

Er ließ das Motorrad langsam und vorsichtig auf die Straße rollen und wandte sich dann zu mir um: «Versuch lieber, Hendrik irgendwie zu erreichen!»

Und ehe ich antworten konnte, gab er Gas und brauste die Straße runter. Ich starrte ihm nach, bis er meinen Blicken entschwunden war.

Dann stampfte ich wütend mit dem Fuß auf. Das war mal wieder typisch! Ließ mich einfach stehen und klammerte mich aus seinem Leben aus. So ein Macho-Italiener! Supertoll. Der Zeiger meiner Armbanduhr rückte unvermeidlich auf die Elf zu, und ich musste dringend zusehen, dass ich zum Flughafen kam. Ich hatte überhaupt nicht mehr mit Paps über meine Heimreise geredet, aber ich wusste, dass er sich felsenfest darauf verließ, dass ich an diesem Nachmittag auf dem heimischen Flughafen eintreffen würde. Der Flug war reserviert, und ich hatte die Bestätigung bekommen. Alles war bereit.

Nur ich nicht.

Und dann brauchte ich nur noch wenige Minuten, um meinen Entschluss zu fällen. Solche Dinge gingen jetzt von Mal zu Mal schneller bei mir. Noch so eine unheimliche Entwicklung.

Tut mir leid, Paps. Tut mir leid, Mama.

Ich konnte jetzt nicht nach Hause. Die Maschine würde ohne mich starten müssen. Ich würde Paps das Geld für den verpassten Flug zurückzahlen. Egal, wie teuer es war. Irgendwie halt. Ich würde mir im Sommer einen Ferienjob suchen. Das machten andere ja auch. Das war mir gleichgültig. Aber das hier war wichtiger. Ich konnte hier nicht weg, ohne zu wissen, was geschehen würde.

Ich versuchte, nicht zu einem hysterischen Huhn zu mutieren, meine Gedanken beieinander zu behalten und einen vernünftigen Plan zu schmieden.

Zuallererst mal brauchte ich Hendriks Handynummer. Aber woher? Wer konnte mir helfen? Seine Mutter war bestimmt bei der Arbeit, und ich hatte nicht die leiseste Idee, in welchem Fitnesscenter sie arbeitete – und davon gab es bestimmt mehrere in Lillestrøm. Doch sogleich blitzte die Idee durch meinen Kopf. Natürlich! Ich hatte ja noch die Nummer von Sverre.

Ich hatte Glück. Nach dem fünften Mal Klingeln meldete sich eine verschlafene Männerstimme.

«Bist dü nicht süße jenta vom Tyskland?», säuselte Sverre, nachdem er mich dreimal nach meinem Namen gefragt hatte.

«Ja. Ich brauche dringend Hendriks Handynummer», sagte ich, ohne auf sein Geflirte einzugehen. Dazu hatte ich einfach keine Zeit. Außerdem hatte ich den vagen Verdacht, dass Sverre einen ziemlichen Kater hatte und es offenbar auch nicht in die Schule geschafft hatte.

Ich notierte die Nummer, wünschte Sverre einen erholsamen Tag und wählte dann sofort Hendriks Nummer. Schon nach dem zweiten Klingeln hatte ich ihn dran.

«Hei?»

«Hendrik, ich bin's! Maya.»

«Maya?»

«Habt ihr Solvej schon gefunden?»

«Nei. Wir suchen jetst bei Akerselva, wo sie manchmal mit ihren Freunden rumhängt.»

«Hör zu, Nicki hat offenbar eine Ahnung, wo sie sein könnte. Er … ähm … hat dein Motorrad genommen und ist losgefahren, um sie zu suchen.»

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Hendrik begriff.

«Er hat mein Motorsykkel genommen?»

«Ja. Tut mir leid, ich hab versucht, es ihm auszureden, aber er scheint wirklich eine Vermutung zu haben. Er hat mir aber nicht gesagt, was er vorhat. Wir hatten deine Nummer nicht, und ich hab jetzt Sverre angerufen und …» Ich quasselte wie ein Wasserfall.

«Aber musst du denn nicht su dein Flugseug?» Hendrik schien verständlicherweise ziemlich verwirrt zu sein.

«Na ja … ähm … ich hab mich entschlossen … ähm … ich lass den Flug sausen. Meine Eltern werden das schon verstehen. Hoffentlich …»

«Wo ist denn Nick hingefahren?»

«Ich hab keine Ahnung. Er hat mir überhaupt nichts gesagt!» Ich konnte den Groll in meiner Stimme nicht verbergen. Ich hatte echt so richtig Lust, Nicki den Hals umzudrehen!

Hendrik schwieg kurz und sagte dann: «Okay, ich komme und hole dich ab. Vielleicht meldet er sich ja inswischen.»

Und schon legte er auf. Mein Herz hämmerte regelrecht vor Aufregung. Ich musste irgendwie auf dem Flughafen Bescheid sagen, dass ich den Flug nicht nehmen würde. Ob ich Paps anrufen und ihm die Sache erklären sollte? Ich setzte mich auf die Matratze und starrte unschlüssig auf das Handy-Display. Und da saß ich und rührte mich nicht von der Stelle, bis Hendrik auf einmal in den Keller stürmte. Der musste ja wie ein Irrer gerast sein!

«Schon was von Nick gehört?»

«Nein.»

Hendrik schüttelte grimmig den Kopf.

«Tut mir leid wegen dem Motorrad. Nicki macht manchmal so verrücktes Zeug … aber er …»

«Den er grei. Das ist im Moment nicht mein Problem. Ich frag mich nur, warum er etwas weiß, was wir nicht wissen? Er kennt doch meine Schwester kaum.»

«Rick … ich hab wirklich auch keine Ahnung … aber Nicki kann so was.»

«Kannst du versuchen, ihn ansurufen?»

«Okay, aber ich sollte vielleicht erst noch beim Flughafen anrufen und sagen, dass ich den Flieger nicht nehme.»

«Ja vel … hast du die Dokumenter?»

Ich holte sie, und Hendrik nahm sie mir sofort aus der Hand.

«Perfekt, da steht eine Telefonnummer drauf. Ich erkläre das für dich, ja? Geht schneller. Hast du Passnummer?»

Ich nickte und hielt den Pass bereit. Nach ein paar Minuten war alles erledigt. Mir wurde heiß und kalt, wenn ich an Paps dachte.

Kaum hatte Hendrik aufgelegt, klingelte mein Handy.

«Nicki?»

«Ich hab sie», sagte er nur. «Ist Rick schon zurück?»

«Ja, er ist da.»

«Gib ihn mir.»

Hendrik riss mir das Handy buchstäblich aus der Hand.

«Ja? Hejhej, ist schon okay … ja? Wo? Wie?» Er hielt die Luft an – offenbar erklärte Domenico ihm etwas ziemlich Unerfreuliches. «Im Ernst? Okay. Wir kommen sofort.»

Er gab mir das Handy zurück. «Grünerløkka», sagte er kurz. «Lass uns hinfahren.»

«Grünerløkka?»

«Das Künstlerviertel von Oslo. In der Nähe vom Akerselva. Komm!»

«Hat er dir gesagt, was passiert ist?», fragte ich auf dem Weg zum Auto.

«Nicht virkelig. Sie muss offenbar ein Krangel mit ihrem Freund gehabt haben. Ein riesen Soff, weißt du. Streit.»

Wir stürzten uns ins Auto. Einen kurzen Moment sah Hendrik mir tief in die Augen, ehe er den Motor startete. «Dein Freund ist echt ein wilder Kerl, weißt du das?»

«Ich weiß.» Ein paar Sekunden lang überlegte ich, ob ich Hendrik nicht doch sagen sollte, wer Domenico wirklich war.

«Ich muss unbedingt Morten Bescheid sagen.» Hendrik zückte wieder sein Handy und legte es ans Ohr, während er mit einer Hand lenkte und die Straße runterfuhr. Ich merkte erst jetzt, dass es zu nieseln angefangen hatte. Aufgeregt verknotete ich meine Finger ineinander. Ich konnte nur beten, dass alles gutgehen würde. Und dass Paps mir noch ein letztes Mal verzeihen würde …

Wir parkten etwa fünfundzwanzig Minuten später vor einem etwas heruntergekommenen, pastellgrün angestrichenen Haus im Stadtteil Grünerløkka. Domenico hatte Hendrik offenbar eine genaue Adresse angegeben. Vor dem Haus stand auch das Motorrad. Hendrik suchte die Namensschilder ab und klingelte dann bei einem Schild mit dem Namen «Svandahl». Auf meinen fragenden Blick hin zuckte er nur mit den Schultern. «Ich hab auch keine Ahnung, Maya. Er hat mir nichts erklärt.»

Der Summton kam, und wir stürmten in das alte Treppenhaus und jagten die Stufen hoch. Im Flur roch es ziemlich streng nach einem merkwürdigen Pfeifenkraut. Im zweiten Stock stand die Wohnungstür offen. Hendrik stieß sie vorsichtig auf und streckte den Kopf rein. «Hallo?»

Es kam keine Antwort. Wir betraten die ziemlich auf den Kopf gestellte Wohnung. Schon im Flur lagen, wild auf dem Boden zerstreut, lauter Klamotten, zerknitterte Russekarten in Hülle und Fülle, Papierschlangen und alles, was nach einer rauschenden Party aussah. Ein Blick in das sperrangelweit geöffnete Wohnzimmer bestätigte die Vermutung: Da war wirklich eine wilde Fete im Gang gewesen. Mit einer beträchtlichen Menge Bier.

«Hallo?», riefen wir noch einmal.

«Hier», kam Domenicos Stimme aus dem gegenüberliegenden Raum, auf dessen Tür eine Menge Poster und Sticker klebten. Es handelte sich offenbar um ein Jungenzimmer. Wir tauschten einen Blick und traten vorsichtig näher.

Domenico saß mit Solvej auf dem zerwühlten Bett und hielt sie fest an sich gedrückt. Ihr Gesicht war ganz in seinem Schoß verborgen, und Schluchzer drangen irgendwo aus der Tiefe zwischen Bettdecke und Nickis Schoß hervor.

«Ich würde sie zur Sicherheit ins Krankenhaus bringen», sagte Domenico, ehe wir überhaupt eine Frage stellen konnten. «Ich hab versucht, die Wunde zu verbinden, aber das muss man professionell machen.»

«Wunde?» Hendrik setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und berührte das rotblonde Haar seiner aufgewühlten Schwester.

«Na, sie ist ganz blutig – sie hat sich das Handgelenk aufgeritzt», sagte Domenico.

«Wie bitte?»

«Wusstet ihr das nicht? Die ritzt sich schon die ganze Zeit.»

Hendrik schüttelte fassungslos den Kopf. «Das wusste ich wirklich nicht. Darf ich sehen?»

Domenico richtete Solvej behutsam auf, doch sie verbarg sogleich ihr Gesicht an seiner Schulter. Er hob sachte ihren Arm und hielt ihn Hendrik hin. Der nahm ihre Hand und untersuchte sie. Um ihr Handgelenk war ein Verband aus grauem, blutgetränktem Stoff gebunden. Gleich darauf sah ich, dass auch das Laken des Bettes voller Blutflecken war. Und dann entdeckte ich noch ein zerknülltes graues Etwas, das aussah wie Nickis T-Shirt, das er wohl irgendwie unter dem Pullover ausgezogen hatte.

«Ist es schlimm?» Hendrik befühlte zögernd den Verband.

«Sie hat wohl keine Hauptschlagader getroffen. Aber sie muss ins Krankenhaus», sagte Nicki ernst.

«Warum hat sie das gemacht?» Hendrik sah Nicki an.

«Schon mal was vom Borderline-Syndrom gehört?»

«Schon, aber ich verstehe nicht … sie … wollte sich doch nicht umbringen?»

«Nein. Sonst hätte sie die Tür nicht offen gelassen. Sie wollte, dass man sie findet und sich um sie kümmert.»

Solvej wimmerte immer noch in Nickis Schulter. Ich warf einen prüfenden Blick auf den Verband. Er sah nicht schlecht aus. Nicki hatte tatsächlich eine Art Druckverband gemacht.

«Hej Solvej … går det bra med deg eller?», fragte Hendrik und streichelte liebevoll über ihr Haar. Dann sah er Domenico wieder an. «Aber ich würde trotsdem gern wissen, wie …»

«Stell jetzt nicht so viele Fragen. Bring sie lieber endlich in ein Krankenhaus», sagte Domenico in ruppigem Tonfall und übergab Hendrik vorsichtig seine weinende Schwester.

«Vater wird bestimmt gleich hier sein.» Hendrik nahm seine Schwester tröstend in die Arme, während ich nicht davon ablassen konnte, Nicki verblüfft anzuschauen. Auch ich hatte tausend Fragen im Kopf. Wie war es bloß möglich, dass er davon gewusst hatte?

Domenico rutschte vom Bett und kramte in seiner Hosentasche. Er zog den Motorrad-Schlüssel hervor und warf ihn Hendrik zu. «Sorry. Ich hatte keine andere Wahl.»

Hendrik fing den Schlüssel auf. «Schon gut. Das war flott. Erklärst du mir dann aber später, was hier passiert ist?»

Bevor Domenico antworten konnte, klingelte es.

«Das ist mein Vater. Machst du auf, Nick?»

Ich starrte Nicki an, doch er wandte sich sofort um und schnappte sich sein T-Shirt – oder das, was davon noch übrig war – und stopfte es in die Tasche seiner Lederjacke. Da er keine Anstalten machte, zur Tür zu gehen, tat ich es und drückte auf den Knopf. Ich hörte, wie unten geöffnet wurde und wie mehrere Paar Füße die Treppe hochtrampelten.

Ich ging wieder zurück. Domenico hatte sich ins Wohnzimmer verzogen. Er stand da und starrte auf das Durcheinander und dann zu dem hellen Fenster.

Im nächsten Augenblick betrat Morten die Wohnung, gefolgt von Liv und Kjetil. Ich blickte in drei aufgeregte, verzweifelte Gesichter.

«Hva har skjedd?», fragte Liv mit schluchzender Stimme.

Ich wies in Richtung Jungenzimmer. Morten stürmte an mir vorbei. Liv folgte ihm weinend. Kjetil blieb mit schuldbewusster Miene stehen, als wäre er für die ganze Misere verantwortlich. Domenico stand immer noch im Wohnzimmer. Er hatte sich wieder umgewandt und starrte in meine Richtung, doch sofort wurde mir klar, dass er nicht mich anschaute, sondern das Jungenzimmer im Visier hatte, das direkt gegenüber vom Wohnzimmer lag und in dem sich nun die ganze Familie versammelte.

Ich hörte zu, wie sie alle aufgeregt durcheinanderredeten und sich über Solvej beugten. Mein Blick ging wieder zurück zu Nicki, der einsam und verlassen dastand und einfach nur zuschaute. Der Junge ohne Familie.

Ich wollte zu ihm hingehen, doch seine drohenden Augen befahlen mir zu bleiben, wo ich war. Dieses gewisse Etwas lag in seinem Blick, das mir jedes Mal schier das Herz zerriss, und er drehte schnell seinen Kopf weg, als er merkte, dass ich ihn beobachtete. Es war, als würde ich mich zwischen zwei sich abstoßenden Magneten befinden; ich konnte nicht ins Schlafzimmer zu der Familie, weil ich dort ein Fremdkörper war, und ich konnte nicht zu Nicki. Hätte Hendrik mich nicht aus diesem Zustand erlöst, hätte ich wahrscheinlich noch stundenlang so dagestanden.

«Hej, Maya, wo ist Nick? Mein Vater möchte sich bei ihm bedanken.»

Ich drehte mich wieder zum Wohnzimmer um.

Domenico war verschwunden.

«Nicki?» Ich machte ein paar Schritte in den Raum hinein und schaute mich um. Niemand war da. Seltsam …

«Nicki? Bist du da?»

Keine Antwort. Nur der Wind wehte durch die offene Balkontür und bewegte die Vorhänge. Schnell suchte ich den Raum nach möglichen Verstecken ab, aber außer einem Wandschrank und der angrenzenden Küche gab es keinen Winkel, in dem man sich verbergen konnte. Und eigentlich war mir auch völlig klar, dass ich hier drin nicht lange suchen musste.

Ich ging langsam auf die offene Balkontür zu.

«Maya?» Hendrik kam mir nach. «Wo steckt Nick?»

Ich stieß die Balkontür ganz auf und trat hinaus. Da war niemand. Ich schloss die Augen. Dann trat ich an das Geländer und schaute runter in den Hof. Der Balkon lag nicht sehr hoch, und direkt darunter befand sich das Dach eines Fahrradschuppens. Wenn man geschickt war – und das war Nicki zweifelsohne –, dann konnte man vom Balkon aus auf dieses Dach springen und von dort runter in den Hof …

Ich sah Hendrik an. Da war kein Zweifel mehr. Ich kannte Nicki, und ich wusste, dass er genau das getan hatte.

«Er ist abgehauen», stellte ich fest.

«Nein, im Ernst? Warum?»

Da trat Morten zu uns heraus. «Wo ist der Junge, der Solvej gefunden hat?»

«Er ist weg», sagte ich.

«Warum?» Morten stellte die gleiche Frage wie Hendrik.

«Er … musste gehen.»

«Aber warum ist er nicht sur Tür raus?» Hendrik sah mich an, und Morten sah mich an. Zwei Paar blaugraue Augen blickten mich an, fragend und nahe daran, Domenicos Geheimnis zu lüften. Und ich platzte fast, weil ich wusste, dass ich in diesem einen Moment die Katze aus dem Sack lassen konnte, dass ich Morten und Hendrik erklären konnte, wer Nicki war …

Ich musste mich zwingen, ganz ruhig zu denken. Hier stand Nickis Vater vor mir und wollte sich bei ihm bedanken. Und neben Nickis Vater stand Hendrik, sein Halbbruder. Hier stand seine Familie und fragte sich, wer dieser mysteriöse Junge war – nichts ahnend, dass er zu ihnen gehörte! Und auch wenn Liv in mir bis jetzt noch nicht allzu warme Gefühle ausgelöst hatte, war ich ihr in diesem Moment mehr als dankbar dafür, dass sie nun hinzutrat und Morten mit einer Frage ablenkte. Und ich deswegen mit Hendrik allein war.

Wir schauten einander an, und ich wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Hendrik war längst klar, dass ein großes Geheimnis um Nicki schwebte.

«Hendrik … ich muss dir etwas sagen.»

Da unterbrach uns Morten schon wieder, und er wandte sich an mich. «Entschuldige bitte die Unterbrechung, aber ich habe eine ganz wichtige Frage: Bist du auch dabei gewesen, als dein Freund meine Tochter gefunden hat?»

«Nein.»

«Weißt du wirklich nicht, was passiert ist?»

«Nein», wiederholte ich.

«Okay, kannst du deinen Freund kontaktieren? Ich würde ihm sehr gerne ein paar Fragen stellen.» Morten wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er zog einen kleinen Holzschemel heran und setzte sich. «Ich habe keine Ahnung, was ich nun machen muss. Warum hat sie das getan? Wer ist diese Familie Svandahl? Hat man ihr etwas angetan? Muss ich die Polizei rufen? Ich komme überhaupt nicht mehr mit, und meine Tochter ist im Moment unfähig zu sprechen. Ich dachte, vielleicht hat dein Freund ein paar Antworten.»

«Ich werde ihn fragen», sagte ich.

Morten nickte und schaute mich dann nachdenklich an. «Ihr seid doch die beiden deutschen Fans, die mich um ein Autogramm gebeten haben, nicht wahr?» Er kniff dabei seine Augen zusammen, genau so, wie Domenico es immer tat. Im selben Augenblick rief Liv wieder nach Morten. Ihre Stimme klang, als wäre sie völlig am Ende. Morten stand auf und verschwand. Und ich war wieder mit Hendrik allein.

Hendrik warf mir einen erwartungsvollen Blick zu. «Was wolltest du mir vorhin sagen?»

«Hendrik … hast du Zeit für mich? Jetzt gleich? Ich muss mit dir reden. Unter vier Augen. Es geht um Nicki.» Ich hatte meine Entscheidung gefällt. Wenn Domenico an seinem Glück vorbeigehen wollte, würde ich ihm eben etwas nachhelfen. Selbst wenn Morten es niemals erfahren würde – wenigstens Hendrik sollte es wissen! Das war ich ihm mehr als schuldig. Er hatte so viel für uns getan!

«Ja, ich hab Seit. Ich glaub, Morten braucht mich im Moment nicht mehr. In der Schule ist auch nichts Viktiges los. Die halbe Klasse liegt heute flach, und das wissen die Lehrer sowieso im Voraus. Ich muss also nirgendwo hin, und du musst auch nicht mehr auf deinen Flugseug. Fahren wir su mir heim. Dann können wir in Ruhe reden. Sieht sowieso nach Regen aus.»

In der Tat, der Himmel war immer noch verhangen.

Wir gingen wieder hinein und schlossen die Balkontür. Kjetil kauerte im Jungenzimmer am Boden und hatte seine Arme um Solvej gelegt, während Morten und Liv beide aufgeregt telefonierten. Wir drückten uns lautlos an ihnen vorbei. Hendrik machte seinem Vater ein Zeichen, und Morten antwortete mit einem knappen Nicken.

Unten vor der Haustür stand immer noch Hendriks Motorrad.

«Weißt du, was? Ich würde lieber damit fahren als mit dem Auto. So eine alte Karre wird hier weniger schnell geklaut als ein neues Motorsykkel. Traust du dich, hinauf su sitsen hinter mich?»

«Na klar doch», lächelte ich.

«Gut. Ich hab noch einen sweiten Helm im Kofferraum. Den kannst du nehmen. Ich kann das Auto später holen.»

Während Hendrik sich am Kofferraum zu schaffen machte, schrieb ich Domenico eine kurze SMS und teilte ihm mit, dass wir nach Lillestrøm fahren würden, falls er vorhatte, später wieder zu uns zu stoßen – wo immer er sich nun auch herumtrieb.

Dann setzte ich den Helm auf, den Hendrik mir überreichte, und kletterte auf den Sozius.

«Sitst du behagelig?» Hendrik warf einen prüfenden Blick zu mir nach hinten. «Halt dich ruhig fest.»

Etwas zaghaft schlang ich die Arme um Hendriks Körper und verknotete meine Finger vor seiner Brust. Hoffentlich war ich noch nicht völlig außer Übung. Sizilien lag ja nun doch schon fast zwei Jahre zurück …

Hendrik startete den Motor und fuhr los. Wir schlängelten uns durch den Verkehr, und ich platzte beinahe vor Ungeduld, weil wir ständig von roten Ampeln aufgehalten wurden. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns endlich auf der Straße Richtung Lillestrøm befanden.

Hendrik fuhr einiges vorsichtiger als Nicki; er beherrschte auch nicht die Kunst, sich so wagemutig und doch behutsam in die Kurven zu legen. Es fühlte sich irgendwie schön an, seinen Körper zu halten. Wenn ich hier in Norwegen leben würde, hätte ich mich vielleicht wirklich in Hendrik verliebt … und doch … kam es darauf überhaupt noch an?

Der Regen setzte wieder ein. Ein leichtes, unangenehm feuchtes Nieseln. Ich fragte mich, wo Domenico nun bei dem Wetter herumlungerte. Ob er vielleicht in Lillestrøm auf uns wartete? Aber eine vage innere Stimme sagte mir, dass er nicht dort sein würde.