18. Schockierende Wahrheit

Domenico war in einen unruhigen Fiebertraum gesunken, als wir still und leise aufbrachen. Ann Merete war bereit, sich um ihn zu kümmern, und versprach, ihm sogar neue Wickel zu machen. Das war eine unheimlich nette Geste von ihr, fand ich. Zumal sie ja keine Ahnung hatte, wer Nicki war …

Hendrik bestand darauf, mit dem Auto zuerst wieder nach Grünerløkka zu fahren, um sein geliebtes Motorrad abzuholen und dann damit direkt zu Morten zu fahren. Der Regen hatte wieder etwas nachgelassen, so dass wir es wagen konnten.

Hendrik rief seinen Vater von unterwegs an und teilte ihm mit, dass wir vorbeikommen würden. Ich war beinahe so aufgeregt, als würde ich meinen eigenen Vater zum ersten Mal treffen. Immer wieder musste Hendrik mich beruhigen.

«Mein Vater ist kein Unmensch», sagte er. «Naturlig wird er sjokkert sein, aber er wird Nick nicht rausschmeißen. Da bin ich mir gans sikker. Ich mache mir viel mehr Sorgen wegen Liv. Sie kann siemlich hysterisk reagieren.»

Wir hatten uns darauf geeinigt, dass Hendrik das Gespräch führen und ich für die detaillierten Erklärungen zuständig sein sollte. Trotzdem linderte das meine Nervosität nicht im Geringsten.

Als wir später in Grünerløkka auf das Motorrad umstiegen und damit die ziemlich lange Strecke nach Nittedal fuhren, musste ich meinen Kopf an Hendriks Rücken lehnen, damit ich die Anspannung einigermaßen ertrug. Einzig der Gedanke, dass ich es für Nicki tat, half mir, meine Aufregung zu zähmen.

Hatte am Vortag die Sonne Nittedal in den schönsten Farben erscheinen lassen, war nun alles in eine trübe Nebelsuppe gehüllt. Es war so düster, dass sogar das Lämpchen neben der Haustür des Janssen-Hauses brannte. Hendrik stellte sein Motorrad unter der Pergola ab, und wir gingen zum Haus und klingelten. Wir wollten taktvoll sein.

Kjetil öffnete uns. Seine Augen, mit denen er uns misstrauisch musterte, waren ganz verquollen, als ob er geheult hätte.

«Hei Kjet, wo ist Vater?»

«Papa!», rief Kjetil in die Wohnung rein. «Hendrik ist da!»

Morten kam an die Tür und bat uns herein. Er nickte Hendrik zu und gab mir zurückhaltend die Hand. Ich betrat tatsächlich das Heim dieses berühmten Sportlers, von dem ich so viel im Internet und in den Zeitungsartikeln gelesen hatte, doch seltsamerweise fühlte es sich an, als ob ich ein ganz gewöhnliches Haus betreten würde. Vielleicht rührte es unter anderem auch von daher, dass Morten so normal wirkte, fast schon eigenartig schüchtern.

Kjetil war bei der Treppe stehen geblieben und starrte mich mit Eisaugen an. Dann rannte er polternd nach oben in den ersten Stock und rief irgendwas.

«Wir möchten gern unter seks Augen mit dir reden, Vater», sagte Hendrik ernst. «Es geht nemlig um den Jungen, der Solvej gerettet hat.»

«Gehen wir nach unten.» In Mortens Augen regten sich kaum Gefühle. Ich suchte Hendriks Blick. War der Mann immer so wortkarg? Doch Hendrik zwinkerte mir zu und hob siegesbewusst den Daumen. Wir folgten Morten die Treppe runter in den Keller, und spätestens jetzt war einem klar, dass man in dem Haus eines Profi-Sportlers war. Ein komplettes Fitnessstudio mit allem Drum und Dran war hier im Keller eingerichtet worden. Morten schloss eine schmale Tür auf und bat uns hinein. Dahinter befand sich ein überschaubares, karg eingerichtetes Arbeitszimmer mit einer kleinen Sofaecke und einem Schreibtisch. Der ganze Raum war geschwängert von einem warmen, süßlichen Geruch, der bestimmt schon seit Jahren in den Holzwänden hing. Auf einem Regal neben dem Schreibtisch reihten sich sämtliche Siegestrophäen und Pokale, und daneben an der Wand hingen nebst Urkunden und Zertifikaten die vielen Gold-, Silber- und Bronzemedaillen, die Morten gewonnen hatte. Ich schaute mich staunend um. So etwas bekam man nicht alle Tage zu sehen.

«Alles Andenken», meinte Morten beinahe entschuldigend zu mir. «Es sieht nach mehr aus, als es ist.»

«Tu nicht so bescheiden, Vater», stichelte Hendrik.

«Ich müsste hier mal wieder aufräumen», murmelte Morten mehr zu sich und zündete die Lämpchen an, die am Fenster hingen.

In der Tat, besonders ordentlich war das Zimmer nicht. Zeichneten sich hier wieder ähnliche Gene ab? Oder war Domenicos Hang zum Chaos eher die Folge seiner traumatischen Kindheit? Hendrik und ich quetschten uns zusammen auf das enge Sofa und warteten, bis Morten einen Stuhl herangezogen und sich zu uns gesetzt hatte.

Morten sah erst mich an, dann Hendrik. Er wartete, dass wir unser Anliegen vorbrachten. Und ich wartete, bis Hendrik anfing, und bat Gott in einem stillen Gebet, dass alles gut kommen würde. Ich musste Hendrik nun vertrauen, dass er die Sache schlau rüberbringen würde.

Hendrik hatte anscheinend beschlossen, nicht lange um den heißen Brei herumzuschwafeln.

«Vater, du warst doch mal auf Sisilien, nicht wahr?»

Morten zögerte, als würde er ahnen, dass ihm etwas Unangenehmes bevorstand.

«Ja.» Er kniff seine Augen auf dieselbe Art und Weise zusammen, wie Domenico es immer tat, wenn er etwas zu verbergen hatte.

«Hattest du dort etwas mit einer Frau?»

Hoppla, das war nun wirklich sehr direkt! Ich bohrte meine Fingernägel in meine Handballen. Hoffentlich wusste Hendrik, was er tat!

Morten schnappte nach Luft und warf einen nervösen Blick zu dem kleinen Fenster, hinter dem allerdings nicht viel zu sehen war.

«Ich … kann mich nicht erinnern, dir je was davon gesagt zu haben.» Seine Stimme klang etwas belegt.

«Das spielt keine Rolle. Ja oder Nei?»

Morten seufzte und stand auf. «Also gut. Ja. Aber …»

«Bleib sitsen, Vater. Ich habe vielleicht eine siemlich sjokkerende Frage.»

Morten setzte sich gehorsam wieder. Sein Gesicht wirkte auf einmal fast durchscheinend, und für ein paar Sekunden sah er mir direkt in die Augen. Ein gut aussehender Mann mit einem schönen Profil; ein Gesicht, das aber nicht ohne Schatten war.

«Kann es sein, dass … dass du vielleicht … noch einen Sohn hast? Oder … sogar swei Söhne?» Hendrik sprach sachte und doch sehr beherrscht.

Es war, als würde Morten in diesem Moment förmlich einknicken. Ein leichtes Zucken erfasste sein Gesicht. Er beugte sich nach vorne und stützte den Kopf in seine Hände. Ich warf Hendrik einen angstvollen Blick zu, doch Hendriks Miene blieb fest. Die Stille würgte mich fast. Wenn bis jetzt meine Innereien noch nicht zerrissen waren, würden sie es bestimmt im nächsten Moment sein, während mir jede Sekunde, die verstrich, wie ein zähflüssiger Blutstropfen vorkam. Ich wusste, dass die Antwort Domenico entweder ganz zerbrechen oder eine große Wunde in ihm heilen konnte.

Und endlich, nach einer langen Zeit, hob Morten seinen Kopf wieder.

«Ja. Ja, ich weiß es.» Sein Seufzer kam aus den tiefsten Kammern seines Herzens, wo er vermutlich jahrelang im dunkelsten Moder vor sich hingeschlummert hatte.

Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit so einem schlichten Ja. Ich war so verblüfft wie selten in meinem Leben.

«Ersählst du uns davon?» Es war Hendrik deutlich anzuhören, dass er seine Stimme unter Kontrolle halten musste.

Morten schloss die Augen. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. «Ich hatte eigentlich gehofft, diese Geschichte würde nie ans Licht kommen», flüsterte er mit wunder Stimme. «Es ist keine schöne Geschichte. Es ist der dunkelste Punkt meines Lebens.»

«Dann wird es ja Seit.» Hendriks Stimme brach. Weitere Sekunden vergingen. Eine regelrechte Emotionsschlacht fand in mir statt. Hass und Mitleid und Trauer und Hoffnung und Wut und Zuneigung – ich empfand in einem einzigen Augenblick alles gleichzeitig für diesen Mann, den ich doch gar nicht wirklich kannte.

«Also gut. Dann kommt das jetzt eben alles ans Licht. Gut. Das war wohl schon lange fällig. Früher oder später fordert einer im Himmel eben Rechenschaft.»

«Aber nur, um das Negative ins Positive su wandeln», sagte Hendrik.

Morten stand auf und schlurfte zur Tür. Er öffnete sie, um sich zu vergewissern, dass niemand davorstand und lauschte. Als er wieder bei uns saß, lag ein inständiges Flehen in seinen blaugrauen Augen.

«Ihr müsst mir aber versprechen, vorerst nichts zu Liv und zu den Kindern zu sagen, ja? Bitte. Ich muss da erst noch einiges regeln.»

Hendrik nickte. «Okay.»

Morten zückte ein Taschentuch und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. Er brauchte ziemlich lange dafür. Es war ganz offensichtlich, dass er noch etwas Zeit schinden wollte. Dann gab er sich endlich einen Ruck.

«Es war eine … dumme Geschichte, und ich schäme mich noch heute dafür. Wir hatten dieses Trainingscamp auf Sizilien, bei Cefalù, und an unseren freien Abenden gingen wir manchmal in die Stadt. Da waren diese Mädchen, die sich … ähm … angeboten hatten. Wir waren jung und ziemlich erschöpft von dem harten Training, so dass uns eine gewisse Abwechslung willkommen war, wenn ihr versteht, was ich meine. Ich war damals ja erst neunzehn – so alt wie du jetzt bist, Hendrik – und trainierte quasi bei Wind und Wetter für die nächste Weltmeisterschaft. Da war dieses schöne Mädchen, Maria hieß sie … sie war erst sechzehn Jahre alt und trotzdem schon Animiermädchen in einer Bar, wahrscheinlich illegal, aber das kümmerte mich damals nicht groß. Ich weiß nicht, ob sie Drogen nahm oder nicht, jedenfalls schien sie ziemlich in Geldnot zu sein.»

Hier machte Morten eine Pause, um sich wieder mit dem Taschentuch über die Stirn zu fahren.

«Als sie erfuhr, wer ich war – ich war ja damals weltweit in der Presse gewesen als jüngster Olympiasieger im Zehnkampf seit vielen Jahren –, machte sie sich an mich ran. Ich war fasziniert von ihr, weil sie echt schön war, wollte aber eigentlich nichts weiter von ihr. Mein Trainer, der zugleich auch mein Manager war, hatte mir nämlich verboten, mich auf Frauengeschichten einzulassen. Doch Maria lief mir fast nach wie ein Hündchen und bediente mich besonders aufmerksam, sprich: Sie sorgte dafür, dass ich betrunken wurde … und so ging ich dann halt mit auf ihr Zimmer …»

Dieses Mal wischte er sich nicht nur über die Stirn, sondern auch über die Augen.

«Ich … gehörte leider nicht zu den vernünftigen Männern in meiner Jugend. Ich nutzte meinen Status gern aus», gab er zu. «Ich … war ja zu diesem Zeitpunkt noch mit deiner Mutter zusammen, Hendrik, und … hat dir deine Mutter nie erzählt, warum unsere Beziehung in die Brüche ging?»

«Nicht direkt», sagte Hendrik. «Ersähl einfach weiter, Vater.» Seine Hände krallten sich in seinen Schoß, offenbar fehlte ihm seine Gitarre. Ich biss angespannt auf meiner Unterlippe rum. War dieser «Beziehungsbruch» nicht genau das gewesen, was Nicki befürchtet hatte?

«Ich folgte ihr also in ihre kleine Mansarde – und sie versicherte mir immer wieder, dass sie die Pille nehmen würde. Ich vertraute ihr – naiv, wie ich damals war. Zudem verstanden wir einander kaum, sie konnte weder Deutsch noch Englisch, noch konnte ich Italienisch. Wir mussten uns also irgendwie mit Händen und Füßen verständigen.»

Wieder wedelte Morten mit seinem Taschentuch vor seinen Augen herum, während Hendriks Miene wie in Stein gemeißelt war.

«Schließlich erfuhr mein Trainer von der Geschichte. Er zog mir ziemlich das Fell über die Ohren und verbot mir, mich weiterhin mit der Frau zu treffen. Es würde meine Karriere gefährden … Also ging ich nicht mehr in diese Bar. Doch Maria verfolgte mich im wahrsten Sinne des Wortes. Sie fand heraus, dass wir vorhatten, nach Palermo weiterzureisen, und versteckte sich sage und schreibe in unserem Reisebus. Irgendwann hat mein Manager sie gefunden und verjagt, und so bin ich dann später wieder nach Deutschland zurückgekehrt, ohne sie noch einmal gesehen zu haben.»

Morten machte eine Pause, um einen Moment die Augen schließen zu können. Er musste sich kräftig schnäuzen.

«Du wusstest also nicht, dass sie svanger war, als du gingst?», drängte Hendrik ihn zum Weiterreden.

Morten zerknüllte sein Taschentuch. «Nein, das wusste ich nicht. Ich hatte ihr ja auch keine Chance mehr gegeben, es mir zu sagen. Das fand ungefähr zur gleichen Zeit statt wie deine Geburt, Hendrik, und als ich nach Norwegen reiste, um dich das erste Mal zu sehen … da plagte mich das schlechte Gewissen, und ich gestand deiner Mutter diese Geschichte. Ich schämte mich zutiefst dafür, doch sie hat es nicht verkraftet …» Er schüttelte den Kopf und faltete sein Taschentuch wieder auseinander. Ich saß stocksteif da und wagte mich kaum zu rühren. Ich fühlte mich schuldig, obwohl ich gar nicht schuld war.

«So trennten wir uns kurz nach meinem Italienaufenthalt, und ich kehrte wieder nach Deutschland zurück und konzentrierte mich voll auf meine Karriere. Ein paar Jahre später lernte ich Liv kennen, und als sie schwanger war, haben wir geheiratet.»

Wieder folgte eine kurze Pause, in der Morten sich sammeln musste. «Aber die Karriere forderte alles von mir, und die Chancen, die sich vor mir auftaten, waren verlockend. Ich war auf dem Weg, eine Sportlegende zu werden, war das vielversprechende Talent. Sponsoren rissen sich um mich, Getränkefirmen wollten mich als Werbeaushängeschild. Es war wie ein Rausch. Ich verdiente ziemlich gut Geld und war viel auf Reisen, doch ich ließ Liv und die Kids zu oft allein.»

Wieder machte Morten eine Pause, musterte abwechselnd Hendrik und mich. Ich hielt die Luft an, denn ich ahnte, dass der Hammer erst noch kam.

«Dann, ungefähr sieben Jahre später, stand Maria eines Tages vor meinem Haus. Ich erkannte sie wieder, obwohl sie sich sehr verändert hatte. Sie hatte zwei Jungs bei sich und erklärte mir in gebrochenem Deutsch, dass ich der Vater sei. Ich war ziemlich vor den Kopf gestoßen, das könnt ihr mir glauben. Ich hatte nicht mal die Möglichkeit, Fragen zu stellen, weil Maria zu schlecht Deutsch sprach, um mich verstehen zu können. In meiner allerersten Verzweiflung und Hilflosigkeit habe ich sie weggeschickt. Ich wollte auf keinen Fall, dass Liv davon erfuhr. Ich schlug Maria quasi die Tür vor der Nase zu.»

Morten musste sich schon wieder unterbrechen, das Sprechen fiel ihm zunehmend schwerer. Seine Stimme zitterte nun richtig. Ich spürte, dass ihm nun die schwerste Passage bevorstand.

«Ein paar Wochen später fand ich die beiden Jungen vor meinem Haus. Sie saßen zusammengekauert draußen in der Kälte vor der Haustür, halb erfroren und hungrig und darauf wartend, dass jemand sie hereinließ. Es war tiefster Winter. Einer der beiden Jungs hielt einen Brief von Maria in seiner Hand. Der Brief war in schlechtem Deutsch verfasst, vermutlich hatte ihn jemand anders für Maria geschrieben. Darin wurde mir wiederum erklärt, dass ich der Vater von diesen Zwillingen sei und dass sie, Maria, in einer finanziellen Notlage stecke und für die Jungen nicht mehr sorgen könne und sie deshalb mir überlasse. Ich war natürlich komplett überrumpelt. Wir hatten schon zwei Kinder, und ich konnte das Liv nicht zumuten. Sie ist so sensibel. Ich hatte große Angst davor, wie sie reagieren würde, und auch davor, dass die Geschichte an die Öffentlichkeit dringen könnte. Ich nahm die Jungen erst mal mit hinein, damit sie sich aufwärmen konnten, und gab ihnen zu essen. Ich stand total neben mir, ich … ich war nicht mehr ich selbst. In meiner Not erzählte ich Liv, dass eine verrückte Frau diese Kinder bei uns ausgesetzt hätte. Ich nahm die beiden Jungen und brachte sie zu meinem Manager, den ich übrigens in der Zwischenzeit gewechselt hatte. Ich erzählte ihm die Geschichte, und er versprach, sich darum zu kümmern und Maria ausfindig zu machen. Ich beruhigte mein Gewissen damit, dass ich ihr eine größere Summe Geld bot, wenn sie mir versprach, die Kinder zurückzunehmen und Stillschweigen zu bewahren. Ein paar Tage später war alles geregelt. Maria zeigte sich offensichtlich einverstanden mit dem Geld. Ich habe seither nie wieder was von ihr gehört.»

Hier brach Morten ab, und ich war froh, denn ich konnte mich nicht mehr gegen die Bilder wehren, die in meinem Kopf auftauchten und mich fast zum Weinen brachten. Nicki und Mingo halb erfroren draußen in der Kälte, herausgerissen aus ihrer Heimat in Sizilien, darauf wartend, dass ihr Vater ihnen die Tür öffnete und sie aufnahm … Konnte Nicki sich nicht mehr daran erinnern? Hatte er all das so stark verdrängt? Ach, das stellte mich schon wieder vor so viele neue Rätsel!

Auch Hendriks Augen sahen aus, als wäre er kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Leise fügte Morten hinzu: «Im Nachhinein bin ich fest davon überzeugt, dass Maria das alles eingefädelt hatte. Sie wollte ein Kind von mir, um mich an sich zu binden und sich dadurch ihren Lebensunterhalt zu sichern. Es war alles einkalkuliert. Trotzdem entschuldigt dies mein Verhalten in keinster Weise. Das weiß ich.»

Und da explodierte Hendrik. Er sprang auf, und seine Augen sprühten regelrechte Zornesfunken. «Ich kann das einfach nicht glauben, Vater!», rief er voller Schmerz. «Wie konntest du so etwas machen?»

«Was hätte ich sonst tun sollen?» Morten sprang ebenfalls auf und schaute Hendrik verzweifelt an. «Liv und die Kids …»

«Aber wie konntest du bloß mit so einem Wissen leben? Dass du swei Kinder hast und sie einfach weggeschickt hast? Hat es dich nie interessiert, was aus ihnen geworden ist? Det er … så skrekkelig!!!»

«Rick, es tut mir so leid.» Tränen liefen aus Mortens Augen. «Ich kann dir gar nicht beschreiben, wie leid es mir tut! Ich habe in all den Jahren … ich habe oft von ihnen geträumt, und ich habe sogar daran gedacht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen … Hendrik … ich kann dir gar nicht sagen … ich musste es tun. Ich musste es für Liv und die Kids tun. Ich redete mir die ganze Zeit ein, dass die Jungen es gut hätten bei der Mutter, wenn sie genug Geld hätte, um für sie zu sorgen …»

«Aber eine richtige Mutter würde nie ihre Kinder in der Kälte stehen lassen!», warf ich ein. Was Maria mit dem Geld angestellt hatte, wollte ich lieber gar nicht wissen …

Morten fiel in seinen Stuhl zurück und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Auch Hendrik setzte sich wieder. Seine Augen standen auf Gewittersturm, seine hellen Wangen waren vor Aufregung gerötet.

«Ich fasse es einfach nicht», murmelte er.

«Das hat Nicki mir alles nie erzählt», sagte ich tonlos. «Er hat behauptet, seinem Vater noch nie begegnet zu sein.»

«Nicki?» Morten putzte sich die Nase und hob seinen Kopf.

«Domenico. Ich nenne ihn Nicki.»

«Ah so.» Morten nickte und klammerte sich mit seinem Blick richtiggehend an mir fest, als könnte ich ihm alle Antworten auf die offenen Fragen geben. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen.

«Darf ich Ihnen eine Frage stellen?»

Morten nickte knapp und formte sein Taschentuch wieder zu einem Klumpen.

«Haben Sie nie einen Brief von Maria erhalten, in dem sie Sie gebeten hat, ihr die Abtreibung zu bezahlen?»

Morten schüttelte perplex den Kopf. «Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Ich habe eine Zeitlang so viel Fanpost bekommen, und es gab hin und wieder verrückte Mädchen, die ein Kind von mir wollten. Ich habe das ziemlich ignoriert. Ich habe ehrlich gesagt mit der Zeit auch die Fanpost kaum mehr gelesen.»

«Vielleicht interessiert es dich, Vater, dass einer der beiden Jungs nun tot ist», sagte Hendrik mit eiskalter Stimme.

«Wie bitte?» Morten schlug erneut die Hände vor sein Gesicht. «Einer von den beiden ist tot? Warum?»

«Eine Überdosis Heroin. Er war schwer drogenabhängig.»

Das war zu viel für den ohnehin schon gebrochenen Mann. Zerhackte Schluchzer füllten den Raum. Seine Schultern bebten, sein ganzer Leib schlotterte. Morten Janssen, der große Sportler, weinte. Mein Hals war zu eng, um den Kloß runterzuschlucken, der in Sekundenschnelle anwuchs.

«Vater.» Hendrik stand schließlich auf und legte Morten seine Hand auf die Schulter, bemüht, seine Fassung wieder zu erlangen. «Du kannst i alle fall etwas davon wiedergutmachen. Du musst sogar. Das bist du Domenico schuldig.»

Morten schüttelte gequält den Kopf und schaute uns an. «Sagt mir, wann ist das passiert? Wann ist … er gestorben?»

«Vorletzten Winter», sagte ich leise. «Mingo – so nannten wir ihn – war ungefähr seit seinem vierzehnten Lebensjahr heroinabhängig.»

«Und der andere? Domenico?»

«Er hat zum Glück keine harten Drogen genommen.» Ich wollte keine weiteren Details über Domenicos kriminelle Vergangenheit enthüllen, das war seine eigene Aufgabe. «Aber er ist beinahe zerbrochen an Mingos Tod. Er leidet immer noch wahnsinnig darunter, mehr, als wir uns das ausmalen können. Sie waren eineiige Zwillinge.»

«Ich weiß.» Morten wischte sich die Tränen ab. «Und Domenico ist nun hergekommen, um nach mir zu suchen?»

«Ja», sagte ich.

Wieder schüttelte er den Kopf, vom Schmerz richtiggehend gefoltert.

«Hast du egentlig nie einen DNA-Test gemacht, Vater?», fragte Hendrik und setzte sich wieder. Morten winkte ab.

«Nein. Es ist nicht nötig. Ich sehe, dass er mein Sohn ist. Schau dir seine Augen an. Es besteht kein Zweifel.»

Er stand auf.

«Bitte lasst mich einen Moment allein. Ich muss das jetzt alles erst mal verdauen.»

«Vater, Domenico verdient es, die Wahrheit su wissen», sagte Hendrik streng. «Er hat viel durchgemacht.»

Morten ließ geschlagen die Schultern sinken. «Ich weiß nicht, wie ich das Liv und den Kindern beibringen soll.»

«Vater!» Hendrik schoss hoch und ging ein paar Schritte auf Morten zu. «Bitte. Du musst!»

«Rick – bitte lasst mich jetzt einfach allein. Lasst mir Zeit. Ich muss erst mal in aller Ruhe nachdenken.»

Er wandte sich an mich. «Wie lange bleibt ihr hier?»

«Ich weiß es nicht. Ich hätte eigentlich heute abreisen sollen, aber ich habe den Flug abgesagt. Ich muss erst mal einen neuen Flug buchen. Aber Domenico kann im Prinzip bis Ende Mai bleiben …»

«Und wo ist er jetzt?»

«Bei uns», sagte Hendrik. «Er ist siemlich krank. Meine Mutter kümmert sich um ihn.»

Morten nickte, immer noch sehr blass. «Okay. Ich melde mich, sobald ich kann. Ich will sehen, was ich für ihn tun kann. Aber lasst mich jetzt erst mal allein.»

Hendrik und ich kamen seinem Wunsch nach. Von Liv und den Kids war nichts zu sehen und zu hören, als wir den Keller verließen und zur Haustür gingen. Mein Kopf schwirrte. Wieder eine Menge Dinge und Rätsel, die mich viele Stunden Gedankenarbeit kosten würden. Ich wusste nicht, ob ich mich erleichtert fühlen sollte oder nicht. Auf jeden Fall würde noch eine Riesenmenge auf uns zukommen. Ich schaute in Hendriks Gesicht. Seine Miene wirkte immer noch grimmig.

Draußen an der frischen Luft ließ er seinem Zorn erneut freien Lauf.

«Ich kann das einfach nicht glauben. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass mein Vater so … so etwas Grässlikes getan hat!» Er hob einen der Bälle hoch, die auf dem Rasen rumlagen, und schleuderte ihn wutentbrannt ins Gebüsch.

«Und ich war überzeugt, Nicki wäre seinem Vater noch nie begegnet. Das hat er jedenfalls steif und fest behauptet!»

Hendrik ließ seine Hände sinken.

«Hej Maya … Morten ist mein Vater. Er ist ein anständiger Mann, trots seiner Fehler. Ich hätte ihm so was einfach nie sugetraut.»

Nicki hatte Recht gehabt: Nun war das totale Chaos ausgebrochen. Nun waren auch Hendriks Überzeugungen dabei, aus den Fugen zu geraten.

«Bist du nun sauer auf Nicki?», fragte ich ängstlich.

Doch da verwandelte sich Hendriks zornige Miene in einen überraschten Gesichtsausdruck. «Warum sollte ich sauer auf Nick sein?»

«Weil er quasi schuld dran ist, dass deine Eltern sich getrennt haben …»

«Ach was, auf ihn bin ich doch nicht sauer. Er kann doch am wenigsten was dafür. Nei, auf meinen Vater bin ich wütend, aber … ach, Maya!» Er schüttelte den Kopf. Wir sahen einander an, gleichzeitig lachend und weinend.

«Nun ist es also raus …»

«Ja …»

«Maya …»

Und da fielen wir uns einfach in die Arme und hielten einander fest, und allerspätestens jetzt wusste ich, dass ich in Hendrik einen Freund fürs Leben gefunden hatte. Ich hatte ihn nie gefragt, ob er eigentlich wieder eine feste Freundin hatte.

Wir ließen einander wieder los, und Hendrik schaute zum wolkenverhangenen Himmel rauf.

«Ist das nicht alles verrückt? Ich habe einen Halbbruder, der fast so alt ist wie ich … und ich habe nie etwas von ihm gewusst. Und er nicht von mir.»

«Nein …»

«Weißt du … manchmal, in solchen Situasjoner, da bete ich einfach … Wollen wir das nicht auch machen, jetst? Für Nic und Morten und so? Bist du einverstanden?»

«Gern.»

Wir gaben uns die Hände, und Hendrik sprach aus tiefster Seele ein kurzes Gebet. Und auf einmal fühlte ich, wie in mir wieder etwas erwachte, etwas, das lange verschüttet gewesen war. Ob vielleicht das Puzzle am Ende doch noch aufgehen würde?

Hendriks Augen blitzten, als wäre ihm eben ein Gedanke gekommen. Er schüttelte fasziniert den Kopf.

«Was ist?»

«Nichts … mir ist nur eben was eingefallen … etwas siemlich Unglaubliches … Ich ersähle dir später davon.»

«Du bist irgendwie derselbe Träumer wie Nicki …»

«Hm, wir sind ja auch Brüder …» Hendriks Augen flackerten zwischen Fassungslosigkeit und Freude und Stolz.

«Du, Rick … eine schüchterne Frage: Hast du eigentlich wieder eine Freundin?» Ich wurde puterrot, als ich das aussprach.

«Oh.» Hendrik seufzte. «Im Moment nicht. Meine Ex-Freundin Eila hat erst vor einem Monat mit mir slutt gemacht. Es war so skrekkelig. Ich habe mich noch nicht erholt. Warum fragst du?» Er sah mich so lauernd an, dass ich noch röter wurde.

«Nur so», murmelte ich mit glühendheißem Kopf. «Es … hat mich bloß interessiert.»

«Komm, gehen wir. Nick braucht dich. Unsere Mission ist noch nicht su Ende.»

Nein, das war sie nicht. Im Gegenteil. Es war erst der Anfang. Da waren noch viele, sehr viele Gespräche nötig.

Wir setzten uns wieder auf Hendriks Motorrad und brausten los. Die Sonne war vermutlich gerade hinter den Wolken am Untergehen.