19. Tiefe Reue

Die ganze Nacht war ich dabei, alles zu tun, um Domenicos Fieber so rasch wie möglich zu senken und ihn vor einer ernsthaften Lungenentzündung zu bewahren. Ich erneuerte ihm fast jede Stunde die Essigsocken. Ich rieb ihm immer wieder die Brust mit der Salbe ein, kochte ihm Tee und kühlte ihm die warme Stirn. Ich hatte Ann Merete Früchte und Vitaminpillen abgebettelt und ihr versprochen, sie ihr so bald wie möglich zu ersetzen. Ich hielt fast die ganze Nacht neben Nickis Bett Wache und betete nebst all meinen Maßnahmen darum, dass seine Lunge nicht kollabieren würde. Er redete die ganze Zeit wirres Zeug, hauptsächlich in seiner Muttersprache, aber Mingos und auch mein Name kamen mehrmals in seinem Gestammel vor. Irgendwann am frühen Morgen schlief ich erschöpft neben seiner Matte ein.

Als ich viel später wieder aufwachte, saß Nicki aufrecht da und schaute auf mich runter. Er war blass, und seine Haare standen in alle Richtungen ab.

«Ey … wie spät haben wir?»

«Keine Ahnung», murmelte ich erschöpft.

Ich fühlte, wie seine warme Hand meine Stirn berührte. Meine Augen fielen wieder zu. Ich kam erst das nächste Mal wieder zu mir, als er sich mit einem Teller Früchte neben mich kauerte.

«Hier, iss», sagte er rau.

«Iss du das …», murmelte ich.

«Hab schon …»

In dem Moment platzte Hendrik herein. Er sah ziemlich übernächtigt, aber recht zufrieden aus.

«Heihei! Ihr müsst unbedingt sofort mitkommen!», rief er aufgeregt. «Hast du es Nick schon ersählt, Maya?»

«Nein», sagte ich. «Er hat ja die ganze Zeit geschlafen.»

«Heihei, wie geht's dir, Nick?» Hendrik setzte sich zu uns auf die Matratze.

«Besser.»

«Kein Fieber mehr?»

Er zuckte mit den Schultern. «Im Moment nicht. Was faselt ihr da eigentlich für Zeug?»

Hendrik lächelte. «Hej Bruder, meinst du, du bist fit genug, mit uns ins Auto su steigen und mit uns nach Nittedal su deinem Vater su fahren? Er möchte gern mit dir reden.»

«Was?» Domenico riss ungläubig die Augen auf.

«Ich habe Hendrik alles gesagt, Nicki», gestand ich. «Du kannst mich von mir aus mit deinem Blick erschießen, aber wenn du mir noch zwei Minuten gibst, kann ich dir erklären, was …»

Hendrik legte Domenico die Hand auf die Schulter. «Hejhej, es ist alles in Ordnung, Bruder», grinste er. «Nur keine Panik, ja?»

«Bruder?»

«Naturlig. Wir sind doch Halbbrüder. Das weißt du doch!»

Domenico starrte Hendrik an.

Hendrik grinste wieder. «Also, falls du es schaffst, mitsukommen – dein Vater erwartet dich.»

Domenico blieb sitzen. Er hatte offensichtlich immer noch nicht ganz kapiert, dass es kein Traum und auch kein Trip war. Doch dann senkte er die Augen und schüttelte den Kopf. «Ich kann das nicht.»

«Komm jetst. Es wird gut. Vertrau mir.» Hendrik klopfte ihm zuversichtlich auf die Schulter.

«No … nein …»

«Stell dich nicht so an, Tiger-X. Ich bin ja bei dir», sagte ich und packte seine schwitzende Hand. «Los, komm.»

«Ey … ey, wartet mal, ja? Nun mal langsam. Kann ich vielleicht erst mal aufs Klo gehen und duschen und frische Klamotten anziehen?», fragte er etwas genervt.

Hendrik lächelte. «Klar doch.»

Domenico verschwand in der Dusche und blieb ziemlich lange dort. Mein Blick fiel auf den Teller mit den Früchten. Hatte er die extra für mich zubereitet? Ich zählte nach und stellte fest, dass er selber auch was gegessen haben musste. Offenbar ging es ihm wirklich besser.

Neben seinem Bett lagen ein paar zerdrückte Kippen, die er nicht angerührt hatte. Ich nahm sie und packte sie vorsorglich in meine Handtasche, zusammen mit der angebrochenen Blisterpackung Rohypnol.

Nach einer geraumen Weile kam Nicki endlich fertig angezogen und halbwegs gestylt aus der Dusche. Er sah allerdings ziemlich käsig aus. Er hatte seine Handgelenke mit den Fetzen seines ohnehin schon zerrissenen Oberteils umwickelt, weil er seine Lederbändel ja durchgeschnitten hatte. Wahrscheinlich hatte er deswegen so lange gebraucht im Bad.

«Ich habe das Auto aus Grünerløkka geholt», sagte Hendrik. «Es steht bereit. Du brauchst nur einsusteigen.»

Als wir zum Wagen gingen, fragte Nicki schüchtern: «Können wir zuerst noch Nikotinkaugummis besorgen? Ich kotze zwar fast, wenn ich die Dinger nur sehe, aber …»

«Klar. Wir fahren bei einer apotek vorbei.»

Ich ließ Nicki vorne bei Hendrik sitzen und stieg hinten ein. Das Wetter war wie am Vortag ziemlich trüb und passte eigentlich überhaupt nicht zu meiner neu aufgebrochenen, hoffnungsvollen Stimmung. Wir machten einen kleinen Umweg in eine Apotheke und fuhren dann auf direktem Weg nach Nittedal.

Das kleine Lämpchen vor Mortens Haus brannte wieder, als Hendrik vor der Einfahrt parkte. Morten kam höchstpersönlich an die Tür und nahm uns in Empfang. Er war ungefähr gleich käsig wie Nicki, und seine Augen waren aufgequollen – ich hegte den festen Verdacht, dass auch er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte. Er wirkte fast, als wäre er seit dem Vortag etwas geschrumpft, obwohl er größer war als Domenico. Vielleicht lag es daran, dass er leicht geduckt ging. Er gab zuerst mir die Hand und dann Domenico, doch sie beide schauten aneinander vorbei.

Ich schob Nicki in die Wohnung und zog ihm die Jacke aus. Er schien sich momentan nur schwer auf so alltägliche Dinge konzentrieren zu können. Morten nahm mir Domenicos Jacke ab und hängte sie auf.

Es war ganz still im Haus. Offenbar war außer Morten keiner daheim. Vielleicht arbeitete Liv irgendwo. Und die Kids waren sicher in der Schule, nachdem man Solvejs Wunden im Krankenhaus genäht hatte. Ich fragte mich, wie es ihr wohl ging. Und überhaupt: Wie die Familie auf die schockierende Neuigkeit von dem verschollenen Sohn reagiert hatte.

Morten bat uns wieder in sein Arbeitszimmer im Keller und schloss die Tür hinter uns. Er blieb kurz stehen, und sein Gesicht zuckte. Ich legte den Arm um Domenico und führte ihn zum Sofa. Hendrik zog zwei Stühle heran.

Morten holte tief Luft und setzte sich. Domenico hielt seinen Blick gesenkt und schaute den Teppich an. Ich nahm seine fieberwarme Hand und beschloss, sie unter keinen Umständen loszulassen. Morten rutschte nervös auf dem Stuhl herum und schien darum zu ringen, den richtigen Anfang zu finden.

«Also … ich bin kein Mann, der große Worte macht, und ich hoffe, dass es einigermaßen richtig rüberkommt», begann er, ebenfalls den Teppich anstarrend. Jedenfalls klang dieser Satz wie das Ergebnis einer durchwachten Nacht. «Deine Freundin hier und mein Sohn Hendrik …» Er stockte, hob den Kopf, und Nicki tat das Gleiche, und eine Millisekunde lang wagten sie, einander in die Augen zu sehen. Domenicos Finger zuckten, und ich musste sie drücken, damit sie still waren.

«Die beiden hier haben mir deine Geschichte erzählt, und … und jetzt bist du hergekommen, weil du mich sehen wolltest, stimmt das?»

Domenico schaffte es nicht zu antworten. Er fuhr sich mit seiner freien Hand durchs Haar und wusste nicht, wo er hinschauen sollte.

Hendrik, der neben Morten saß, bedeutete seinem Vater mit einer stummen Geste, weiterzureden. Morten nickte nachdenklich.

«Also, Domenico … ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Gibt es … irgendetwas, das du mir sagen möchtest? Gibt es … irgendein … irgendetwas …» Morten fuhr sich ebenfalls durchs Haar, und ich realisierte die Ähnlichkeit ihrer Bewegungen. Vater und Sohn.

«Du kannst mir alles sagen. Du kannst mir sagen, dass ich der größte Mistkerl bin, du kannst mich hassen oder mich auf den Mond schießen. Was du möchtest. Nur sei einfach ehrlich.»

Ich spürte, wie dieser Mann innerlich kämpfte, wie er schon wieder den Tränen nahe war. Sein stummes Weinen zog mein Herz fast in die Kniekehlen runter. Ich fühlte, wie Nickis Finger sich ganz arg um meine krampften.

Eine ganze Weile schien die Zeit einfach stillzustehen, und keiner brachte mehr ein Wort heraus. Morten wartete. Er wartete so flehend auf Nickis Antwort, dass man es im ganzen Zimmer spürte, doch Domenico hatte sich mindestens hinter drei Schichten Mauern verschanzt. Ich bat ihn mit einem stummen Händedruck, etwas zu sagen, doch er war überfordert.

«Möchtest du mir nicht deinen Schmerz mitteilen? Mir am liebsten alle Schande ins Gesicht brüllen oder so?», startete Morten einen weiteren hilflosen Versuch.

Schließlich lehnte sich Hendrik zu seinem Vater hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Morten nickte, offenbar dankbar um jeden guten Rat.

«Möchtest du hören, wie das alles in Wirklichkeit war, Domenico?», fragte Morten. «Soll ich dir meine Geschichte erzählen?»

Domenicos Schultern spannten sich. Obwohl er sein Gesicht immer noch nicht hob, signalisierte er endlich mit einem stummen Nicken, dass er bereit war, Morten Einlass zu gewähren. Hendrik blinzelte mir verhalten zu.

Und Morten wiederholte die Geschichte fast detailgetreu so, wie er sie uns erzählt hatte. Seine Rede wurde ab und zu von Nickis zerhackten Hustenstößen unterbrochen, bei denen Morten jedes Mal ins Stocken geriet.

Dann, als Morten fertig war, blieb es wieder lange ruhig.

«Erinnerst du dich daran?», setzte er der Stille schließlich ein Ende. «Weißt du noch, wie ihr zwei, du und dein Bruder, vor meinem Haus gewartet habt, bis ich euch öffnete?»

In Domenicos Blick regte sich etwas, das ich nur schwer einordnen konnte. Vielleicht waren es Funken von vagen Erinnerungen. Vielleicht war es auch nur ein riesiges Fragezeichen. Doch dann schüttelte er matt den Kopf.

«Bitte sag mir, was du empfindest, Domenico.» In Mortens Stimme lag ein verzweifeltes Drängen. «Schleudere mir alles ins Gesicht, deinen Hass, deine Gefühle, deinen Schmerz. Alles. Ich habe es verdient. Ich war ein Versager, ein kompletter Versager. Und alles, was ich dir sagen kann, ist, dass es mir leidtut und dass ich wiedergutmachen will, was immer mir irgendwie möglich ist.»

Auch ich hoffte inständig, dass Nicki endlich etwas sagen würde, doch er schwieg, und sein Schweigen machte mich fast verrückt. Seine Finger fühlten sich wieder so heiß an wie ein kleiner Ofen.

Morten sank nach vorne und schüttelte deprimiert den Kopf.

«Lass gut sein, Vater», beschwichtigte Hendrik leise. «Es schmertst ihn doch. Lass uns vielleicht eine Pause machen.»

Morten nickte. «Du hast Recht.»

«Ich glaube, er hat wieder Fieber», entschuldigte ich ihn.

«Verstehe. Dann sollte er vielleicht etwas schlafen.» Morten dachte nach. «Wir haben im Moment leider kein Gästezimmer, weil da die alten Möbel drinstehen. Aber er kann das Zimmer von Kjetil haben. Die Kids und Liv werden heute Nacht sowieso drüben bei Arne schlafen.»

Wieder fand ein Blickwechsel zwischen Hendrik und mir statt. War das Mortens Art, seine Familienprobleme zu lösen? Aber jetzt war es nicht gerade günstig, solche Fragen zu stellen.

«Kommt, ich zeige euch das Zimmer.»

Morten führte uns in das obere Stockwerk und öffnete eine Tür, hinter der ein unordentliches Jungenzimmer zum Vorschein kam.

«Hendrik, kannst du rasch frisches Bettzeug holen und das Bett neu beziehen? Ich bin gleich zurück.» Morten spurtete wieder die Treppe runter. Hendrik nickte und holte Bettzeug aus dem Schrank. Domenico setzte sich auf einen Stuhl, während ich mich umsah. Kjetil hatte wirklich alles, was ein Junge sich wünschen konnte: einen Fernseher, einen Computer, eine Stereoanlage und sogar eine Playstation und dazu jede Menge Computergames plus natürlich DVDs in Hülle und Fülle. Und dazu unendlich viele Plastikfiguren aus Science-Fiction-Filmen, die überall rumlagen und dabei waren, zu verstauben.

Hendrik bezog das Bett mit einem giftgrünen Spannlaken und schmiss dabei die Nachttisch-Lampe um, die die Form eines Totenkopfes hatte.

«Sorry, Kjetil steht momentan auf so Seug.» Er richtete die Lampe vorsichtig wieder auf. «Ich hoffe, du kannst neben dem gruseligen Ding schlafen.»

Domenico war offenbar so froh, sich wieder unter der Decke verkriechen zu können, dass ihn die Lampe nicht groß interessierte. Ich legte meine Hand auf seine Stirn. Man hätte glatt darauf Spiegeleier braten können.

Morten trat wieder ins Zimmer. Er wirkte nervös.

«Braucht ihr etwas? Fiebermesser, Tabletten und so?»

Ich überlegte. Ich hatte natürlich nicht daran gedacht, die Arzneimittel mitzunehmen.

«Haben Sie Essig und Tücher? Und ein paar große Socken? Und Hustentee? Und was gegen Fieber?»

«Ja, haben wir alles. Am besten suchst du dir selber raus, was du brauchst.»

Morten führte mich ins Erdgeschoss und zeigte mir, wo was zu finden war. Dann verzog er sich wieder. Hendrik gesellte sich zu mir. Ich war so froh, dass er da war.

«Positiv», meinte er lächelnd und hob den Daumen.

«Hat Morten seine Familie wegen uns weggeschickt?», fragte ich besorgt.

«Ich weiß es nicht. Er hat es jedenfalls für das Beste gehalten, sie für eine Nacht su Arne su schicken. Er meint, das ist eine gute Ablenkung für Solvej. Arnes Tochter ist ihre beste Freundin.»

«Wie geht es Solvej denn?»

«Jeg vet ikke. Vater hat nichts gesagt.»

«Denkst du eigentlich, sie wissen schon Bescheid wegen Domenico?»

«Ich weiß nicht, ob Vater schon mit ihnen geredet hat. Aber er hat sich gut geschlagen, finde ich. Ich habe fast die ganse Nacht mit ihm geredet. Er hat suerst lange gesögert. Es hat ihn viel Überwindung gekostet, aber ich glaube, er ist froh, dass er es gemacht hat.»

«Nicki hat kein Wort zu ihm gesagt.»

«Ist psykologisk voll verständlich. Er ist überfordert. Aber der Anfang ist gemacht.» Hendrik strahlte. Er ließ sich wirklich durch nichts entmutigen. Er war echt der tollste Junge, der mir je begegnet war, und wenn ich hier in Norwegen gelebt hätte …

Ich räumte den halben Arzneimittelschrank leer und ging mit all den Sachen beladen hoch zu Domenico. Morten hatte Socken und Tücher und Essig bereitgelegt. Ich machte Nicki ein neues Paar Essigsocken, obwohl er irgendwas Unwilliges murmelte und mit den Füßen zappelte. Ich kochte ihm Tee und gab nicht eher Ruhe, bis er ihn getrunken hatte. Danach folgte eine Portion Hustensirup. Nur die Erkältungssalbe fehlte mir …

Nicki war froh, als ich ihn endlich in Ruhe ließ und er wieder schlafen durfte.

Morten fragte uns, ob wir was essen wollten. Da er ziemlich unbeholfen war im Kochen, überließ er Hendrik und mir die Küche. Es war noch ein Rest Hackbällchen im Kühlschrank vorhanden, und ich kochte etwas Reis dazu. Ab und zu schaute ich nach Nicki, doch er schlief schon wieder. So aßen wir zu dritt, Morten, Hendrik und ich. Draußen hatte es wieder angefangen zu regnen.

Wir verbrachten den ganzen Nachmittag damit, uns Filme anzugucken. Morten erkundigte sich zwischendurch bei uns, ob es Domenico besser ginge, und ich eilte mindestens alle fünfzehn Minuten in sein Zimmer, um nach ihm zu sehen oder um die Essigumschläge zu wechseln. Doch er schlief meistens oder stellte sich schlafend. Hunger hatte er wohl keinen.

Dann stand Morten wieder im Türrahmen: «Ihr könnt übrigens gern heute Nacht hierbleiben. Ich habe mit Liv gesprochen. Es ist okay …» Er fuhr sich hektisch durchs Haar, und ich wusste, dass sich hinter dem Wort «okay» eine lange Diskussion mit seiner Frau verbarg.

«Wir … möchten auf keinen Fall stören», sagte ich vorsichtig.

«Ihr stört nicht. Ich meine … er ist immerhin …» Er holte tief Luft.

Ich schaute mich hilfesuchend nach Hendrik um. «Bleibst du auch da heute Nacht?»

«Das wird aber eng, weil das Gästesimmer im Moment unbrauchbar ist.» Hendrik rieb sich nachdenklich die Nase.

Ich warf ihm einen bittenden Blick zu. Ich wollte nicht so allein sein in diesem fremden Haus … ich hatte irgendwie Angst davor, Kjetil, Solvej und Liv zu begegnen. Ich brauchte dringend Hendriks Beistand.

«Na gut, aber nur, wenn ihr mir versprecht, bis sum Fylkecontest su bleiben.» Hendrik zwinkerte mir zu und rief dann Richtung Morten: «Kann ich auf dem Sofa pennen, Vater?»

«Natürlich, Rick.» Morten nickte ihm zu und verschwand schon wieder.

«Dann lass uns gleich nach Lillestrøm fahren und alle eure Sachen holen, wenn du magst», schlug Hendrik vor. Ich war einverstanden. Da würde ich dann auch gleich die Salbe mit einpacken.

Unser Trip nach Lillestrøm dauerte etwa eine Stunde, und als wir zurückkamen, war Liv kurz da. Sie diskutierte mit Morten, während sie ein paar Sachen in eine Tasche packte. Ich konnte nichts verstehen, weil sie Norwegisch sprachen.

Bevor sie aus der Tür ging, warf sie mir einen stechenden Blick zu. Ich grüßte sie schüchtern. Sie erwiderte meinen Gruß nur vage. Ich konnte es nicht verhindern, dass ich mich wie ein Eindringling fühlte. Ich hatte Angst vor dieser Frau.

Am Abend rief ich Paps an.

«Paps? Wir sind jetzt bei Domenicos Vater. Nicki hat ziemlich Fieber. Wir dürfen über Nacht dableiben. Sobald es ihm besser geht, kommen wir heim, versprochen!»

«In Ordnung. Macht, was ihr wollt. Ihr seid ja so gut wie erwachsen. Ihr werdet schon einen Weg nach Hause finden.» Paps' Stimme klang immer noch fremd und tonlos.

«Paps … stimmt was nicht?»

Er schnaubte durch die Nase. «Hör zu, bringt eure Sache zu Ende, und dann kommt heim.» Und schon hatte er aufgelegt. Es war, als ob eine eiskalte Hand mein Herz umklammern würde. Meine Eltern … was war da los?

Ich durfte in Solvejs Zimmer übernachten. Es lag direkt neben Kjetils Bude und war ein typisches Mädchenzimmer mit Pferdebildern und Starpostern und lauter Krimskrams, den ein vierzehnjähriges Mädchen nun mal brauchte. Auch hier standen lauter Hi-Fi-Geräte rum, und ein nagelneuer Laptop lag auf dem Schreibtisch, dazu überall Kerzen und Räucherstäbchen. Plus jede Menge Kosmetika.

Weil Hendrik vorhatte, am nächsten Morgen wieder zur Schule zu gehen, und wir die letzten Nächte nicht viel Schlaf abgekriegt hatten, gingen wir dieses Mal vor Mitternacht ins Bett.

Doch bevor ich mich schlafen legte, hatte ich vor, Nicki nochmals neue Wickel zu machen und seine Brust mit Salbe einzureiben. Leise öffnete ich die Tür. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und so fiel genug Licht von der hellen Nacht herein, um zu erkennen, dass Domenico wach war.

«Nicki?», wisperte ich leise.

«Ja?»

«Kann ich reinkommen?»

«Ja, aber mach das Licht nicht an.»

Ich machte die Tür zu und tapste zu seinem Bett. Behutsam setzte ich mich auf die Kante.

«Wie geht es dir?»

«Gut …»

«Ist das Fieber weg?»

«Fast.» Als Beweis streckte er die Hand nach mir aus. Ich berührte sie, und tatsächlich, sie war nicht mehr so heiß.

«Hast du noch Schmerzen in der Brust?»

«Nein.» Er schüttelte den Kopf und sah mich an. Mir wurde eine Spur leichter ums Herz. Er ließ meine Hand nicht los.

«Bist du mir böse, dass ich es Hendrik gesagt habe?» Diese Frage hatte mich schon den ganzen Nachmittag beschäftigt.

Er zögerte. Im Halbdunkel betrachtete ich die Umrisse seines Profils, das dem von Morten so ähnlich sah.

«Nein», sagte er schließlich. «Ich glaube, es war ganz gut.»

«Und was denkst du nun über deinen Vater?»

Er zuckte mit den Schultern und starrte ins Leere.

«Bist du wütend auf ihn? Oder traurig? Was fühlst du?»

Eine paar lange, schweigsame Minuten folgten. Ich rieb mit meinem Daumen über seinen Handrücken.

«Ich … ich weiß es nicht.»

«Aber irgendwas musst du doch fühlen?»

«Was soll ich denn fühlen? Der Mann ist mir total fremd.»

«Aber er ist dein Vater, Nicki.»

«Vater? Den Gedanken an einen Vater hab ich schon vor langer Zeit gekillt. Für mich ist er einfach Morten.»

Ich seufzte. Wie konnte man bloß diese meterdicke Mauer durchbrechen?

«Ist mir einfach zu blöd. Meine Erzeuger wollten mich nicht haben. Na und? Sollen sie es doch lassen. Ich steh niemandem im Weg.» Sein Zeigefinger zog kleine Kreise um meinen Mittelfinger. Seine Hand war wirklich nicht viel größer als meine …

Ich seufzte wieder, als ich den Stachel in seiner Stimme hörte, der von tiefem Schmerz zeugte.

«Ich mein … ist ja jetzt auch nicht mehr nötig.»

Da war nichts zu machen. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass nicht mal ein Bagger hinter seine Schutzschicht dringen konnte. Da brauchte es etwas Besonderes …

«Na gut. Aber darf ich dir wenigstens noch eine Frage stellen?»

«Okay …»

«Kannst du dich wirklich nicht dran erinnern, dass ihr damals bei eurem Vater im Haus wart?» Ich begann, vorsichtig seine Fingerspitzen zu kneten.

Er schloss die Augen und überließ mir seine Hand. Er musste einige Zeit nachdenken.

«Nee … war so 'ne schwierige Zeit damals. Ich kann's nicht mehr einordnen. Haben wir alles in der Therapie versucht, aber ich hab's nicht auf die Reihe gekriegt. Ich weiß nur noch ungefähr, wie wir von Sizilien nach Deutschland gekommen sind. Unsere Alte hat uns jeden Tag 'nen anderen Stuss erzählt. Hat dauernd gelogen und rumgeheult und uns immer wieder an 'nen anderen Ort gebracht. Ins Heim, zu 'ner Pflegefamilie … ach, ich weiß das doch nicht mehr genau, Maya. Mag da auch gar nicht mehr dran denken.»

«Was hat sie euch denn über euren Vater erzählt?»

Er schnaubte. «Jedenfalls nicht das, was Morten erzählt hat. Was komplett anderes. Ist doch auch egal. Wir haben irgendwann die Poster und Bilder gefunden, die sie von ihm gesammelt hat …» Er schüttelte matt den Kopf, während er wohl zum x-ten Mal versuchte, seine wirren Erinnerungen zu verstehen.

«Drum kauf ich ihr das mit Bianca ja auch nicht ab. Ist doch nur 'n weiterer schmutziger Deal, genauso wie Mingo und ich nur ein Deal waren. Ein Deal, um an Geld ranzukommen. Und als es nicht geklappt hat, wollte sie uns wieder aus der Welt schaffen. So einfach ist das.» Abgrundtiefe Verachtung lag in seiner Stimme, und er keuchte. Ich legte sachte meine Hand auf seine Brust.

«Schscht. Ganz ruhig.»

«Tut mir leid. Ich kann nicht anders … ich …» Er hustete.

Ich massierte ihn schweigend. Er schloss die Augen. Nach einer sehr langen Weile spürte ich, wie sein Atem wieder regelmäßiger wurde. Ich dachte schon, er sei weggedämmert, als er die Augen wieder aufschlug.

«Das hilft mir total, weißt du das?»

«Wenn ich dich massiere?»

«Ja. Wenn du deine Hand da drauflegst.» Er nahm meine Hand und drückte sie fester auf seine Brust.

«Es hilft mir so», flüsterte er. «Es hilft mir gegen den Zorn. Und gegen den Schmerz.» Es war mir, als würden Tränen in seine Augen treten.

«Echt?» Ich hielt den Atem an, weil ich das Gefühl hatte, etwas sehr Wertvolles entdeckt zu haben. Er streichelte zärtlich meine Finger und schob meine Hand dann vorsichtig unter sein T-Shirt, damit ich sie auf seine nackte Haut legen konnte. Wir sagten eine ganze Weile lang kein einziges Wort. Ich spürte das nervöse Pochen seines Herzens und streichelte ihn ein wenig. Jetzt war ich es, die die Augen schließen musste.

«Ich hab dir nie gesagt, wie froh ich bin, dass du mitgekommen bist, was?» Seine Stimme war nur noch ein Hauch.

Es war, als ob nach einer langen Eisstarre die ersten Tautropfen auf mein Herz fallen würden.

«Nicht wirklich …», murmelte ich.

«Deine Eltern hätten es nie erlaubt, wenn sie gewusst hätten, dass ich meine Antidepressiva nicht dabeihabe.»

«Heißt das …»

«Schscht.» Er sah mich eindringlich an; er wollte offenbar nicht, dass die Frage meinen Lippen entwich.

«Aber was ist mit all deinen Aussagen da oben bei der Burg, dass …»

Er legte sanft den Zeigefinger auf meine Lippen, damit ich nicht weitersprach.

«Ich will dich jetzt einfach nur spüren», bat er.

Ich schloss die Augen, während ich fühlte, dass unsere Herzen in genau demselben Takt schlugen; keins von beiden schlug schneller oder langsamer als das andere.

Irgendwann bemerkte ich, dass er die Augen geschlossen hatte.

«Nicki?»

«Hast du zufällig die Ropys mitgenommen?», fragte er.

«Ja …»

«Bringst du sie mir? Ich hab keine Lust, die ganze Nacht hier wachzuliegen …»

«Okay.» Ich düste rüber ins Nebenzimmer und holte sie. Mir war schon lange nicht mehr so warm gewesen. Draußen rauschte der Regen, aber ich nahm ihn kaum wahr.

Ich schmierte Nicki nochmals die Brust mit Erkältungssalbe ein. Ich nahm mir ausgedehnt Zeit dafür. Dann gab ich ihm einen schüchternen Gutenachtkuss auf die Lippen. Er war schon fast eingeschlafen.

«Oh, die Essigsocken!», rief ich. «Ich habe die Essigsocken vergessen.»

«No», stöhnte er im Halbschlaf. «Bitte keine Essigsocken mehr. Bitte … hab schon ganz wunde Füße …»