2. Ein gefährliches Märchen

Dieses Mal hatte ich die Entscheidung nicht allzu lange rausgezögert. Ich wollte wissen, was Sache war! Da Domenico seit der Therapie kein Handy mehr besaß und ich ihn somit telefonisch nicht erreichen konnte, hatte ich kurzerhand beschlossen, ihn gleich am Montag nach der Schule bei Mike aufzusuchen. Es war wirklich ein perfektes Timing, dass Paps gerade in dieser Woche zu dem Seminar reisen musste.

Ich hatte mich in mein neues blaues T-Shirt geschmissen, das ich letzte Woche mit Delia zusammen gekauft hatte. Besonders warm war es allerdings nicht draußen; ich kam also um eine Jacke nicht herum. Und um keinen unnötigen Ärger zu riskieren, hatte ich extra den Umweg mit der U-Bahn durch die Stadt gemacht, damit ich nicht durch den ominösen Parkausgang musste und Gefahr lief, von einem Dealer angemacht zu werden. Ich hatte mir ausgerechnet, dass die Mittagszeit die beste Zeit war, um Nicki zu treffen: Die Chance, dass er dann ausgeschlafen hatte, war relativ groß, und die Wahrscheinlichkeitsquote, dass er um die Uhrzeit das Haus noch nicht verlassen hatte, lag um mindestens siebzig Prozent höher als am Abend. Es sei denn, er war in der Therapie zum braven Stubenhocker mutiert. Aber bei seinem Adrenalinüberschuss war diese Vorstellung ziemlich unrealistisch.

Auf dem Weg zu Mike kam ich unweigerlich an dem Erotik-Shop vorbei, wo Domenico und Mingo damals mit ihrer Mutter gelebt hatten, doch ich hatte nicht den Nerv, stehen zu bleiben. Mike wohnte nur ein paar Straßen weiter in einem dieser eintönigen Betonklötze mit den dreckigblauen Jalousien und den hässlichsten Balkonen, die man sich nur vorstellen kann.

Ich schaute zu den Fenstern hoch, und richtig, im dritten Stockwerk waren überall die Rollläden unten. Ich konnte nicht verhindern, dass die Nervosität meine Knie zum Schlottern brachte, als ich die Treppe runter zum Eingang lief. Auch wenn wir uns so nah gewesen waren, auch wenn wir uns unheimlich geliebt hatten – ich hatte meinen Respekt vor Domenicos unberechenbarer Seite nie ganz verloren.

Meine Nervenstränge rissen fast durch, als ich den Klingelknopf drückte, doch in die Furcht mischte sich auch wilde Vorfreude. Ich raste schnell wieder ein paar Schritte die Treppe hoch, weil ich wusste, dass Mike immer erst prüfte, mit wem er es zu tun hatte. Prompt wurde der Rollladen hochgezogen, und das Gesicht eines glatzköpfigen jungen Mannes erschien.

Ich winkte. «Hallo! Ist Domenico da?»

Mike kratzte sich an seinem kahlen Schädel und schrie etwas in die Wohnung. Und dann tauchte Domenicos kupferbrauner Haarschopf neben ihm auf.

«Nicki!» Ich winkte stürmisch. «Darf ich raufkommen?»

«Maya?» Er starrte mich an, als wäre ich eine Fremde. Genau, wie ich befürchtet hatte … Sofort ließ ich meine Arme sinken und sah zu, wie er etwas zu Mike sagte. Dann rief er: «Warte, ich komm zu dir runter!»

Ich setzte mich auf die Treppe und wartete. Es dauerte ziemlich lange, bis Domenico erschien. Ich bemühte mich währenddessen, den Tumult in meinem Körper einigermaßen in den Griff zu bekommen – von Kopf bis Fuß war jede einzelne Zelle in vibrierender Aufregung. Ich schalt mich selber dafür, aber ich konnte es nun mal nicht ändern.

Und dann ging die Tür auf, und Domenico stand vor mir.

«Nicki!»

Sein Anblick haute mich mal wieder völlig von den Socken, obwohl ich es mir verboten hatte, mich davon beeindrucken zu lassen. Aber er stand so lässig da, die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Kopf leicht zur Seite geneigt, dass ich gar nicht anders konnte.

Sein Haar war immer noch ungebändigt, lang wie eh und je, und fiel ihm tief ins Gesicht. Er brauchte das, um ab und zu seine Augen dahinter verstecken zu können. Auf jeden Fall hatte Suleika Recht gehabt: Er sah hammergut aus, viel gesünder als vor der Therapie. Richtig erholt und auch schön braungebrannt. Er war zwar nach wie vor dünn, doch seine gut trainierten Oberarme sahen richtig zum Anbeißen aus. Er hatte sogar wieder ein klein wenig zugenommen, was ihm in Anbetracht der Tatsache, dass er nach dem Knast in London ziemlich ausgemergelt gewesen war, nur gut stand.

Weiter fiel mir auf, dass er Mingos Nietengürtel nicht mehr trug, sondern einen neuen Ledergürtel mit einer trendigen Schnalle. Dazu ein Paar recht intakte Jeans und ein dunkelgraues, ärmelloses Tank Top.

Ich erhob mich und wollte zu ihm runtergehen, doch seine graublauen Augen musterten mich, als würden sie sich einen Stuhl ansehen.

«Hallo Maya», sagte er nur.

Ich blieb abrupt stehen. In seiner Stimme war nicht die geringste Tonlage zu hören. Keine Nuance von Freude oder Erregung, aber auch keine Wut, einfach überhaupt nichts.

«Freust du dich nicht, mich zu sehen?»

«Klar freu ich mich.» Er breitete seine Arme zu mir aus und stieg die paar Stufen hoch, bis nur noch wenige Zentimeter uns trennten und ich seinen mir so vertrauten Geruch wahrnehmen konnte.

«Was ist mit dir los?»

«Nichts. Lass dich endlich umarmen.»

Zaghaft überwanden wir auch diese letzten Zentimeter, und er schloss seine Arme um mich. Ich legte mein Gesicht auf seine Schulter und fühlte, wie er seine Wange, die etwas rauer geworden war, an die meine drückte. Sein Atem, der leicht nach Rauch roch, kitzelte mich im Nacken.

Was war anders? Was war in der Therapie passiert? Was stimmte nicht? Wo waren unsere Herzschläge? Wo die zarten Töne, die nur wir beide hörten? Und die Fähigkeit, auch ohne Worte miteinander zu kommunizieren? Warum strömte keine Hitze aus seinem Körper wie sonst immer, wenn er mich in seinen Armen hielt?

«Gibt's keinen Kuss?», dröhnte Mikes Stimme von oben herab. Den hatte ich ganz vergessen!

«Klappe, Mike!», rief Domenico und ließ mich sachte wieder los. «Verzieh dich. Ich geb hier keine Gratisvorstellung!»

Er sah mich unschlüssig an, als müsse er irgendwas in seinem Kopf abwägen. Mike gab sich nicht so schnell geschlagen.

«Ey, wollt ihr nicht raufkommen, Alter?»

«Nee, besser nicht.»

«Und warum nicht?», fragte ich prompt. Was gab es wieder zu verbergen?

«Weil's da oben zu … chaotisch ist.»

«Aha.»

«Ich wohn nur vorübergehend hier», beeilte er sich zu erklären. «Ließ sich auf die Schnelle nix anderes finden. Aber ich hab bald was Besseres.»

«Eine eigene Wohnung?» Ich dachte an das, was Suleika mir erzählt hatte.

«Nein.» Er verzog keine Miene. «Eine WG mit zwei Studenten. Das mit der eigenen Wohnung … ist noch zu früh.»

«Warum? Aus finanziellen Gründen?»

«Sie haben mir in der Therapie davon abgeraten», sagte er mit seiner leicht heiseren Stimme, die das Resultat von zu vielen Zigaretten in der Vergangenheit war. «Ich brauch 'ne WG mit Regeln, sonst hau ich wieder ab oder bau Chaos. Ist halt 'ne Gefahr bei mir. Und in ein Wohnheim will ich nicht mehr, also ist das irgendwie die beste Lösung.»

Er ließ sich auf der Treppe nieder und schlang seine Arme um die Knie, so dass mein Blick unvermeidlich von seinen neuen Lederarmbändchen angezogen wurde, die er sich massenweise um die Handgelenke gebunden hatte. Einige waren richtig kunstvoll ineinander verflochten, und in dem Geflecht steckten sogar kleine Muscheln. Er bemerkte die Frage, die auf meinen Lippen lag, und zog die Hände schnell weg. Ich setzte mich neben ihn.

«Warum hast du mir nicht gesagt, dass du früher zurück bist?», fragte ich leise. «Wolltest du mich denn nicht sehen?»

«Doch, klar wollte ich dich sehen.» Wieder diese emotionslose Stimme, diese sonore Tonlage. «Aber ich wollte vorher noch etwas erledigen.»

Ich zwang mich zur Ruhe. «Und das wäre?»

«Eigentlich möchte ich das niemandem erzählen.»

«Aber ich bin doch deine Freundin!»

Er sah mich schweigend an.

«Oder etwa nicht?»

«Doch, klar», meinte er.

«Mann, warum bist du denn so komisch, Nicki?», stöhnte ich. «Du hast doch irgendwas! Wir haben uns ein halbes Jahr nicht gesehen, und du … du tust so, als … wäre nie etwas zwischen uns gewesen!»

Er senkte die Augen und öffnete den Mund, um etwas zu erklären. Doch dann schüttelte er lediglich den Kopf. «Es ist alles okay, Maya.»

«Das glaube ich dir nicht. Du zeigst überhaupt keine Freude, dass ich da bin. Gib es zu, du hast eine andere!»

«Nein, definitiv nicht», sagte er ernst. «Das hab ich dir doch versprochen.»

Jetzt sah er mich endlich richtig an und legte mit einer hauchzarten Bewegung den Zeigefinger auf meine Lippen.

«Es ist alles ziemlich kompliziert, Maya, capito? Kann ich dir das später erklären? Nicht hier und nicht jetzt, okay?»

Na schön – ich musste mich ja wohl mal wieder zufriedengeben. Es hatte keinen Zweck, ihm die Antwort mit Gewalt aus der Nase ziehen zu wollen. Das funktionierte bei ihm einfach nicht.

«Dann küss mich wenigstens mal», murmelte ich stattdessen.

Er beugte sich vor und berührte meine Lippen mit seinen. Ich öffnete meinen Mund ein wenig, um seinen Kuss bis in alle Poren zu spüren, doch er schmeckte nicht so süß und köstlich wie sonst. Schließlich zog ich den Kopf verwirrt wieder zurück. Über uns applaudierte jemand.

«Na, dann erzähl mir wenigstens, wieso du überhaupt früher zurückgekehrt bist», sagte ich mit ungewohnt forscher Stimme, die nur einen Zweck hatte – nämlich die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.

«Ja, los, Mann, erzähl deiner Puppe die Story, Nico», heulte Mike dramatisch von oben. «Das ist mal wieder echt stark. Typisch Tiger-X, sozusagen.»

Domenico verdrehte die Augen. «Gaffst du uns immer noch zu?»

«Ich darf ja wohl noch das schöne Wetterchen da draußen betrachten.»

«Bist du besoffen? Es ist bewölkt, cretino!»

«Na und? Dann guck ich mir eben die Wolken an.»

«Okay, aber lass die Tiger-X-Geschichte, ja?»

«Wieso? Liegt dir eben im Blut, alter Hengst.»

Domenico sprang auf seine Füße und schwang drohend seine Faust nach oben. «Vatinne, o acchianu!»

Offenbar wusste Mike zu gut, dass man Domenicos Zorn ernst nehmen musste, denn endlich verschwand sein Kopf.

Domenico setzte sich wieder hin, doch dieses Mal ließ er einen größeren Abstand zwischen uns. Ich sah ihn erwartungsvoll an, und dabei fiel mein Blick auf seinen Hals. Und erst jetzt bemerkte ich es. Beinahe verlor ich dabei die mir so hart antrainierte Selbstbeherrschung.

Die Kette mit seinem Tigerzahn trug er nach wie vor – aber meine Kette, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, war weg!

Für eine klitzekleine Sekunde blieben unsere Augen aneinander haften. Ich versuchte durch die seinen auf den Grund seines Herzens zu sehen, schaffte es aber nicht, weil da eine eigenartige, mir fremde Nebelwand war. Diesmal war ich diejenige, die wegschauen musste, denn hinter dieser Nebelwand lagen offensichtlich Antworten verborgen, vor denen ich mich fürchtete. Ich war geradezu froh, als er mit seiner Geschichte begann.

«Ich kann eben einfach nicht zugucken, wenn sie heimlich Drogen einschmuggeln, verstehst du? Ich krieg so was halt schnell mit. Und da in der Therapie waren nun mal einige Ex-Junkies. Da hat sich dann so 'ne richtige Gruppe gebildet. Die hatten da einiges am Laufen, und die Leiter haben einfach nix unternommen. Ich fand das voll daneben und hab die Typen gestellt. Am Schluss sind die dann alle auf mich los und haben mich verprügelt.»

Er zeigte auf seine Schläfe, auf der eine kleine Wunde noch nicht ganz verheilt war. Mir war sie kaum aufgefallen, weil es schon fast nichts Neues mehr war, dass er irgendwo eine Verletzung hatte.

«Und die Leiter haben nichts unternommen?»

«Nee, es hieß bloß, ich solle mich nicht dauernd einmischen und mich um meinen eigenen Kram kümmern. Aber zwei der Hauptleiter waren auf meiner Seite und haben mich unterstützt. Das gab dann dort richtig Spaltungen. Ich glaub, wegen mir sind sogar einige entlassen worden. Auf jeden Fall haben sie mich dann früher heimgeschickt, damit da endlich wieder Ruhe einkehrte. Hatte mein halbes Jahr ja eh längst rum.»

«Aber dann warst du ja eigentlich voll im Recht?»

«Wie man's nimmt. Wäre vielleicht schon klüger gewesen, mich da rauszuhalten. Der für mich zuständige Psychoheini meinte, das sei idiotisch, weil ich mich dadurch nur selber gefährde.»

Mir war aufgefallen, dass sein italienischer Akzent wieder stärker geworden war. Kein Wunder, er hatte ja mindestens ein halbes Jahr fast ausschließlich in seiner Muttersprache geredet.

Noch ehe ich Zeit hatte, mir eine endgültige Meinung über diese Geschichte zu bilden, stand Mike vor uns. Konnte uns dieser Trottel nicht endlich mal in Ruhe lassen?

«Ey Nico, da ist eine für dich dran! Ne Sabrina.» Er streckte Domenico ein Handy entgegen.

«Wimmle sie ab, ich hab jetzt echt keine Zeit. Und verdünnisier dich und stör uns nicht mehr, mi capisti?» Domenico war schon wieder auf den Füßen und baute sich drohend vor Mike auf.

Mike grinste nur und säuselte etwas auf Italienisch in den Hörer.

«Wer ist Sabrina?», fragte ich ungewohnt scharf.

«Ehrlich, keine Ahnung mehr. Mila hat anscheinend alle meine Ex-Freundinnen zusammengetrommelt. Sie wollen es mir heimzahlen.»

«Aha», sagte ich nur.

Er lehnte sich an das Treppengeländer und schaute mich schweigend an.

Mike zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche und hielt sie ihm hin. Domenico zögerte und schüttelte dann den Kopf.

Mike feixte anerkennend. «Nicht schlecht. Standhaft, der Mann.»

«Hast du jetzt eigentlich aufgehört mit dem Rauchen?», fragte ich vorsichtig, obwohl diese Frage nach all den missglückten Versuchen fast überflüssig schien.

Domenico seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. «Nein, leider nicht ganz.»

«Aber fast», grinste Mike. «Nur noch acht pro Tag. Oder sind's zehn?»

«Egal, Alter. Kannst eh nicht zählen.» Domenico schwang sich auf das Geländer. «Sie haben mir in der Therapie geraten, dass ich mir keine unrealistischen Ziele mehr stecken soll.»

«Allerdings unrealistisch», stichelte Mike. «Du und Nichtraucher. Wenn ich das eines Tages erlebe, werde ich einen ganzen Monat nicht mehr mit 'ner Frau pennen.»

Domenico winkte ab. «Passiert eh nicht. Bin ja quasi schon nikotinsüchtig zur Welt gekommen.»

«Kopf hoch, Alter. Ich mein, die Heinis in der Therapie haben doch voll Recht. Lieber 'n paar Kippen am Tag und dafür keinen Totalabsturz mehr.»

«Ja, vernünftiger und stabiler Umgang mit Nikotin war das Therapieziel. Wenigstens brauch ich die ekligen Nikotinkaugummis nicht mehr», stöhnte Domenico.

Ich hatte es aufgegeben, seine Nikotinabhängigkeit nachvollziehen zu wollen. Wir hatten schon alles Erdenkliche versucht, um ihm zu helfen – vergeblich.

«Ey, easy, Alter. Ist ja nicht dein größtes Problem. Wenn ich an dein Borderline-Syndrom denke … Junge-Junge, echt, das wusste ich ja vorher gar nicht.» Mike kratzte sich wieder am Kopf.

«Können wir jetzt aufhören, über den ganzen Psychokram zu labern?», erwiderte Domenico genervt. «Ich hab dir eigentlich gar nicht erlaubt, den Therapiebericht zu lesen, lo sai? Und würdest du dich jetzt bitte verziehen? Grazie. Du störst nämlich, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.»

«Aber die Puppe weiß das doch, oder?»

«Ja, sie weiß es, und jetzt schieb ab. Und wehe, du erzählst es weiter!»

«Jedenfalls versteh ich jetzt endlich, warum du dauernd Schwarz getragen hast.»

Domenico riss Mike die Zigarettenschachtel aus der Hand und warf sie ihm mit einem präzisen Wurf an den Schädel.

«Yo!» Mike hielt sich in gespielter Einfalt den Kopf fest. «Au, Nico, das gibt 'ne Riesenbeule.»

«Ja, steht dir sicher galaktisch gut. Zieh jetzt Leine, du Penner! E lèviti!»

Endlich trollte sich Mike. Ich war erleichtert. Ich konnte einfach nicht vergessen, dass er damals, als Janet mich um Geld hatte erpressen wollen, mit von der Partie gewesen war. Ich blickte immer noch nicht durch, auf welcher Seite er nun wirklich stand.

«Tut mir leid. Er ist manchmal anstrengend», sagte Domenico und sprang vom Geländer, um sich wieder neben mich zu setzen.

«Ist er eigentlich dein Freund oder nicht?», fragte ich.

«Er ist Kumpel, Nervensäge, Feigling, Freund … kannst dir was aussuchen. Nee, er ist … wie soll ich sagen? Er war der Erste, mit dem Mingo und ich uns in Deutschland angefreundet hatten. Weil er eben auch Sizilianer ist. Ich kenn den praktisch seit zehn Jahren. Haben immer zusammen rumgehangen. Manchmal gab's auch Zoff, klar.» Er hob gleichgültig die Schultern. «Lass dich nicht einschüchtern. Wir reden immer so miteinander.»

«Aha», sagte ich nur. Es änderte nichts daran, dass ich Mike nicht über den Weg traute und es mir nicht gefiel, dass Domenico immer noch mit diesem Gauner verkehrte.

Nicki hob zögernd seine Hand und wollte meine Wange berühren, doch ich wich zurück.

«Wann reden wir endlich Klartext miteinander?», fragte ich so schroff, dass er regelrecht zusammenzuckte.

«Wenn ich wieder zurück bin», sagte er heiser und schob die Hand unter sein Gesäß.

«Zurück? Warum? Hast du denn vor, schon wieder wegzugehen?»

Er lehnte sich nach hinten und starrte in den Himmel.

«Nicki?»

Er seufzte. «Na gut, aber das muss unter uns bleiben, ja? Das darf keiner wissen, nicht mal Bianca. Du bist die Einzige, der ich das erzähle.»

«Schieß los», sagte ich ungeduldig.

«Also, ich hab beschlossen, nach Norwegen zu reisen und die Sache mit meinem Vater zu klären. Die haben mir das in der Therapie ziemlich gründlich eingehämmert. Es bleibt mir wohl wirklich nichts anderes übrig, wenn ich mit dem Chaos in mir drin fertig werden will.»

«Ist das dein Ernst?» Ich wäre beinahe aufgesprungen vor Überraschung, doch die Freude währte nur kurz, als ich den nächsten Gedankenschritt wagte.

«Ich dachte, wir hätten vor der Therapie ausgemacht, dass wir zusammen gehen?»

Wieder seufzte er tief. «Ich weiß, ich weiß, aber das ist leider unmöglich.»

«Warum?» Ich erschrak selber über den barschen Tonfall in meiner Stimme.

Er sah mich an. «Glaubst du im Ernst, dein Vater würde dir das erlauben, nachdem er dir sogar verboten hat, mehr als einmal im Monat mit mir zu telefonieren?», zischte er beinahe wütend.

«Ich könnte ihn zumindest fragen», sagte ich trotzig, obwohl ich genau wusste, dass er mit seinem Argument Recht hatte. «Meine Mutter würde mich bestimmt unterstützen.»

«Die Illusion mach ich mir nicht», sagte er. «Und überhaupt … sieh mal, so wie ich vor der Therapie drauf war … ich hab keinen Bock, dich wieder so runterzuziehen, verstehst du? Außerdem brech ich schon morgen Abend auf.»

«Morgen Abend schon?», kreischte ich so laut, dass er wieder zusammenzuckte.

«Pssst, schrei nicht so, Sü…, Maya. Ich hab doch gesagt, dass es geheim ist. Hab zwei Kumpels organisiert, die mich bis Hamburg mitnehmen.»

«Du hast also vor, ganz allein zu gehen?» Jetzt, wo ich mich bemühte, leiser zu sprechen, zitterte meine Stimme wieder.

«Wen soll ich denn mitnehmen? Außerdem gibt mir mein Bewährungshelfer nur bis Ende Mai Urlaub dafür. Und ab Anfang Juni hab ich ja den Job.»

«Du hast einen Job?»

«Ja. Hab ich dir das noch nicht erzählt? Als Hilfskellner in der Trattoria Siciliana. Der Chef wollte unbedingt 'nen jungen Sizilianer. Na ja … ist keine große Sache. Aufwischen, Geschirr spülen, ab und zu beim Servieren helfen. Viel Lohn gibt's da nicht, aber ich bin total froh, dass ich diesen Job überhaupt gekriegt hab.»

Ich schwieg. Eigentlich hätte ich mich über diese handfesten Zukunftspläne freuen sollen, aber irgendwie gefiel mir nicht, was da abging. Und ich konnte mir nicht mal erklären, was mich wirklich daran störte. Es war, als würde mein Unterbewusstsein irgendwas wittern, was mein Verstand nicht einordnen konnte.

«Und warum ist die Sache mit Norwegen so geheim?» Vielleicht lag da der Hund begraben?

«Warum wohl? Was meinst du, was in der Szene los ist, wenn die erfahren, dass mein Vater ein weltbekannter Sportler ist?»

«Okay.» Das war zwar ein ziemlich einleuchtendes Argument, aber …

Er sprang abrupt auf die Füße. «Wartest du rasch hier? Ich muss schnell rauf … ach ja, und überhaupt hab ich ja noch was für dich!»

«Für mich?»

«Ja! Bin gleich wieder da.»

Ich blieb sitzen, während er im Hauseingang verschwand. Zwei Minuten später kam er mit einer einzelnen Zigarette und einem kleinen Päckchen wieder.

«Da. Das ist für dich.» Er setzte sich und legte das Päckchen in meine Hand. Es war federleicht und in braunes Seidenpapier eingewickelt.

«Verspätetes Geburtstagsgeschenk.»

Ich wickelte das Seidenpapier vorsichtig ab, während er mir dabei zuschaute und sich die Zigarette anzündete. Zum Vorschein kam eine kleine Schachtel. Ich hob sachte den Deckel, und auf Watte gebettet lag da ein Muschelarmband, kunstvoll verarbeitet und mit weißen Perlen bestückt. Es sah nach sorgfältiger Handarbeit aus. Für einen Augenblick vergaß ich meinen Ärger und zog das Kunstwerk behutsam heraus.

«Das ist ja schön», hauchte ich.

«Hab ich selbst gemacht.»

«Das hast du gemacht?»

«Mhmm.» Er zog vorsichtig an der Zigarette und bemühte sich, den Rauch nicht zu tief in seine Lungen zu ziehen. Ich legte das Armband um mein Handgelenk, doch es wollte mir nicht gelingen, den Verschluss in die Öse einzuführen. Domenico klemmte die Zigarette zwischen die Lippen, um beide Hände frei zu haben, und nahm mir das Armband sanft aus der Hand. Als seine Finger meine Haut berührten, erschauerte ich. Behutsam machte er den Verschluss zu und ließ meine Hand wieder los.

«Es ist wirklich wunderschön», flüsterte ich.

Er schwieg, und wir blieben stumm nebeneinander sitzen, bis er mit der Zigarette fertig war und den übrig gebliebenen Stummel mit dem Fuß zertrat. Dann erhob er sich wieder.

«Komm, Sü…, Maya, ich bring dich nach Hause.»

«Heißt das mit anderen Worten, dass ich gehen soll?»

«Lass es uns einfach langsam angehen, ja?», sagte er rau.

Ich war ganz und gar nicht zufrieden. Da war noch so vieles nicht geklärt!

«Wie gesagt, wir reden nach meiner Rückkehr.» Er sah mich eindringlich an.

«In Ordnung», sagte ich gekränkt und rappelte mich hoch. «Ich kann übrigens allein gehen.»

«Ich hab gesagt, ich begleite dich. Du solltest nicht allein hier durch diese Gegend spazieren.»

«Danke. Ist nicht nötig. Ich bin kein dummes, naives Kind mehr, Nicki.» Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke zu, weil ein kühler Wind aufgekommen war. Domenico selbst stand immer noch im ärmellosen Oberteil da. Er verschränkte seine Arme und lehnte sich cool ans Geländer.

«Okay. Dann eben nicht.»

«Ich wünsch dir viel Glück in Norwegen», brachte ich gerade noch mit einigermaßen klarer Stimme hervor. Dann wandte ich mich um, ohne noch einmal zurückzuschauen, und als ich anfing zu laufen, übermannten mich die Tränen.