In dieser Nacht schlief ich so wohlig und entspannt wie schon lange nicht mehr. Die ganze Zeit war mir, als ob zwei warme Hände mein Herz hielten und sogar die Sorgen um meine Eltern verdrängten. Vermutlich musste auch mein Körper einiges an Schlaf nachholen, denn ich erwachte erst gegen zehn Uhr.
Ich lauschte, doch im Haus herrschte Stille. Ich rechnete nach, was heute für ein Tag war, und kam auf Mittwoch.
Ich stand auf, ging ins Bad und zog mich dann an. Dann warf ich einen kurzen Blick ins Nebenzimmer und sah, dass Domenico noch tief und fest schlief. Also ging ich leise nach unten in der Hoffnung, Hendrik zu treffen. Durch das Fenster im Wohnzimmer sah ich endlich seit langem wieder einen Sonnenstrahl. An den Bäumen hingen noch immer glitzernde Wasserperlen. Es musste die ganze Nacht geregnet haben.
Als ich in die Küche trat, saß Morten im Trainingsanzug über eine Zeitung gebeugt am Esstisch. Er blickte sofort auf, als er mich hörte.
«Oh, hallo», sagte er freundlich.
«Hallo.»
Er faltete die Zeitung zusammen. «Habt ihr beide gut geschlafen?»
«Ja, danke. Domenico schläft noch.»
«Klar. Kein Problem. Lass ihn einfach.» Morten fuhr sich wie so oft mit der Hand durchs Haar. Eine gewisse Nervosität war spürbar. «Möchtest du vielleicht etwas essen?»
«Ja, gern», sagte ich. Morten ging zum Küchenschrank und öffnete ihn. Ob Liv wohl immer noch drüben beim Nachbarn war?
«Ich kann dir Waffeln machen, wenn du möchtest. Das isst man hier zum Frühstück. Du kannst später auch welche für Domenico machen. Ich zeige dir, wie es geht. Es ist überhaupt nicht schwer.»
Ich nickte. Morten holte ein paar Zutaten raus, rührte einen Teig zusammen und zeigte mir, wie das Waffeleisen funktionierte. Ich schaute ihm zu. Seine Hände waren für einen ehemaligen Zehnkämpfer erstaunlich feingliedrig. Dafür waren seine Oberarme umso muskulöser.
Wir setzten uns zusammen an den Tisch. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war nicht einfach, ein Gespräch mit jemandem zu führen, den man kaum kennt. Und kein Hendrik war da, der mir helfen konnte. Der war natürlich in der Schule, wie mir schließlich eingefallen war. Morten war offenbar genauso verlegen.
«Ich bin so froh, dass es zu einer Aussprache gekommen ist», fasste ich mir endlich ein Herz. «Domenico wollte lange nicht darüber reden.»
«Na ja.» Morten lächelte gequält. «Ich kann es ihm nicht verübeln.»
«Er braucht immer sehr viel Zeit. Er redet nie gern über sich.»
Ich fand irgendwie, dass ich Morten diese Erklärung schuldig war. «Es ist noch nicht so lange her mit seinem Bruder.»
Morten schüttelte leise den Kopf und starrte auf seine Waffel.
«Ich habe jetzt zwei schlaflose Nächte hinter mir deswegen. Er wird mir das wohl nie verzeihen können. Das habe ich auch gar nicht verdient.»
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
«Was … sagt Ihre Frau denn zu all dem?», lenkte ich ab.
«Na ja, Liv ist im Moment natürlich ziemlich sauer auf mich, das hast du wohl mitgekriegt. Aber das soll nicht euer Problem sein.»
«Und … was ist mit Kjetil und Solvej?»
«Die wissen es noch nicht. Im Moment ist der Zeitpunkt nicht so günstig. Vor allen Dingen für Solvej nicht … sie …» Morten wurde ein wenig rot. «Na ja, wie es scheint, hat sie sich in … in Domenico verliebt. Wenn ich das ihrer besten Freundin Hanne wirklich so abkaufen kann. Es ist vielleicht nicht so klug, sie nach all dem, was sie im Moment durchmacht, auch noch vor diese Tatsache zu stellen, dass er ihr Bruder ist. Das … das hat Zeit, glaube ich.»
«Ups», sagte ich.
«Na ja … sie … ähm … ich habe ihnen gesagt, dass ihr Freunde von Hendrik seid und dass sie dafür bei Hanne schlafen darf und Kjetil bei Petter und … Liv bleibt auch bei ihr … und … na ja, sie haben jedenfalls immer viel Spaß drüben bei Arne und seinen Kids.»
«Aber geht es Solvej besser?»
«Ach, sie … ist momentan in einer sehr schweren Phase, fürchte ich. Der Umzug, meine vielen Reisen … dann hat sie ein paar Enttäuschungen mit Jungs erlebt, na, du weißt schon, in dem Alter halt … wir müssen schauen, ob wir sie vielleicht zu einem Psychologen schicken, damit so was nicht noch mal vorkommt. Sie hatte schon mal eine Zeitlang Essstörungen, aber das ist nun besser. Ach!» Morten fasste sich an die Stirn, offenbar überfordert von den Problemen seiner Kids. Dann winkte er schnell ab und schaute mich wieder an.
«Aber auch das soll nicht eure Sorge sein. Das … hat überhaupt nichts mit Domenico zu tun. Das Einzige, was ich unbedingt von ihm wissen möchte, ist, woher er gewusst hat, dass Solvej dort in diesem Haus ist. Ich habe wirklich null Ahnung, was da abgelaufen ist.»
«Ich auch nicht, aber ich werde ihn danach fragen», versprach ich.
Wir aßen eine Weile schweigend. Ich wurde es nicht satt, die Ähnlichkeiten zwischen diesem Mann und Nicki zu studieren. Auch die Zähne mit der großen Lücke vorne gehörten dazu, die ich ja bis jetzt nur selten auf den Bildern gesehen hatte. Und ich entdeckte immer neue Sachen, je mehr ich Mortens Bewegungen beobachtete.
Morten war es, der das Schweigen wieder brach. «Hast du eigentlich Michele gekannt?»
«Ja», sagte ich. «Er war ein guter Freund von mir.» Ich war seltsamerweise erstaunt und irgendwie auch erfreut, dass Morten Mingos richtigen Namen so genau wusste.
«Und wie war er so? Sie sahen sich sehr ähnlich, die beiden, nicht wahr?»
«Ja … vielleicht zeigt Ihnen ja Domenico später die Fotos. Er sah Kjetil irgendwie ähnlich. Und er trug auch so eine Nietenkette.»
«Ach, Kjet und seine komischen Ketten.» Morten lächelte zerknirscht. «Du kannst mich übrigens ruhig duzen. Aber erzähl mir mehr von Michele. Weißt du, warum er Drogen genommen hat?»
Ich überlegte. Ich durfte nichts Falsches sagen. Nichts, was Domenico mir später übelnehmen würde.
«Es war halt eine schwierige Situation. Ihre Mutter … war oft weg … und … na ja, ich glaube, das muss Domenico dir besser selber erzählen», wich ich schnell aus. «Aber Mingo war sehr gut darin, Sachen auseinanderzunehmen und wieder zusammenzubauen. Er konnte praktisch alles reparieren. Er hat mir zum Beispiel meinen halb zertrümmerten CD-Player geflickt. Er wusste auch, wie man Strom anzapft oder verschrottete Motorräder wieder in Gang kriegt.»
Ich sah, wie Mortens Brust sich schwer hob und wieder senkte. Er schien intensiv nachzudenken. Auf seiner Stirn standen tiefe Furchen. Ich ahnte, dass die letzten beiden Tage sein Herz bis in die Grundfesten erschüttert hatten.
«Wer von den beiden wurde eigentlich zuerst geboren?»
«Das weiß niemand so genau», sagte ich.
«Nein?» Morten wirkte überrascht. «Aber … das müsste man doch wissen?»
Ich kaute auf meiner Unterlippe rum. Was bei der Geburt der Zwillinge wirklich passiert war, würde ich ihm besser nicht erklären.
«Ähm … ich kann dir leider nichts darüber sagen. Frag Domenico lieber selber. Ich möchte da keine falsche Aussage machen.» Ich hoffte, dass Morten sich damit begnügen würde.
«Bist du eigentlich seine feste Freundin?» Irgendwie lag ein Funken Hoffnung in seiner Stimme.
«Öhm … na ja … ich weiß es nicht … es läuft zurzeit alles ein wenig kompliziert zwischen uns.»
«Oh, ich kenne das.» Morten zeigte ein verwegenes Grinsen, das dem von Nicki so ähnlich sah und seine Wangengrübchen erscheinen ließ. Er beugte sich etwas zu mir vor.
«Kannst du mir denn noch mehr von Domenico erzählen? Was macht er so? Geht er noch zur Schule? Was will er für einen Beruf erlernen?»
Ich überlegte, wo ich anfangen sollte. Was durfte ich erzählen, was nicht? Schließlich erzählte ich Morten vorsichtig, dass Domenico eine Therapie hinter sich hatte wegen Mingos Tod. Das war kein Geheimnis, und ich fand es angebracht, dass Morten das wusste. Die ganze Zeit dachte ich, dass ich eigentlich Groll gegen diesen Mann empfinden müsste, der Nicki so viel Schmerz zugefügt hatte. Aber ich fühlte keinen Groll. Im Gegenteil. Ich mochte diesen Mann. Er war schließlich Nickis Vater. Und er war kein schlechter Kerl. Und ich spürte seinen aufrichtigen Wunsch, sein Versagen wiedergutzumachen.
Ich erzählte Morten von Domenicos Plänen, eine Ausbildung im Gastgewerbe zu machen. Vor allen Dingen aber brachte ich Domenicos Zeichenkünste und seine sportlichen Ambitionen zur Sprache.
«Er ist wahnsinnig gut im Sport. Er war der Beste von allen. Er … kommt total nach Ihnen … nach dir, meine ich. Er wollte eines Tages ein Profisportler werden wie du, aber er … musste aus verschiedenen Gründen aufhören.» Ich brach ab; der Rest war Domenicos Part.
Morten schaute gedankenversunken auf seinen Teller.
«Das ist wirklich interessant. Weißt du, keines meiner Kinder hat sich je für Sport interessiert. Hendrik hat seine Liebe zur Musik entdeckt, und Kjetil und Solvej … na ja, ich fürchte, ich habe zu sehr versucht, sie nach meinen Wünschen zu trimmen. Mittlerweile ist mir klar, dass ich sie ihren eigenen Weg gehen lassen muss, aber ich muss ganz ehrlich zugeben, dass ich gerne mal eines meiner Kinder zu einem kleinen Wettkampf herausgefordert hätte.»
War hier Mortens Enttäuschung darüber zu hören, dass seine Kinder nicht ganz nach seinen Vorstellungen geraten waren? Egal, das war nicht unser Problem …
«Für welche Sportarten interessiert sich Domenico denn?»
«Ich glaube, so ziemlich für alle … Leichtathletik, Ballspiele … Er hat auch vor nichts Angst.»
«Kannst du mir vielleicht einen Rat geben, wie ich an ihn rankommen kann? Was empfindet er mir gegenüber? Hasst er mich?»
«Er kann es im Moment nicht einordnen, glaube ich. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich dir für einen Tipp geben kann. Er versteckt sich oft hinter einer coolen Maske, und es ist nicht immer einfach, Zugang zu ihm zu finden, auch für mich nicht. Ich glaube, du musst ihm einfach Zeit lassen.»
«Natürlich», sagte Morten. «Ich verstehe das sehr gut. Ich bin ein ähnlicher Typ. In meiner Karriere musste ich lernen, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen.» Er stand auf und trug das Geschirr zur Spüle. Etwas ungeschickt suchte er darin noch einen freien Platz für seinen Teller und seine Tasse. Ich ahnte, dass er normalerweise nicht allzu viel Hausarbeit verrichtete.
Als Morten gegangen war und ich meine Zähne putzen wollte, lungerte Domenico vor der Badezimmertür rum. Er hatte sich geduscht und angezogen und sah aus, als ob er etwas suchen würde.
«Nicki, du bist ja wach!»
Er grinste schwach. «Ich hab Hunger.»
«Das kann ich mir denken. Ich kann dir Waffeln machen. Morten hat mir gezeigt, wie es geht.»
«Ja?»
«Hey, Nicki, er ist wirklich nett. Du musst unbedingt mit ihm reden.»
Er zuckte mit den Schultern und runzelte die Stirn, als ob er etwas ausrechnen würde.
«Suchst du deine Zigaretten?»
«Ich … möchte gern wieder auf sieben oder acht pro Tag zurück, falls ich das hinkriege … sind denn noch welche da?»
«Noch zwei. Aber wenn du willst, können wir nachher einen Spaziergang zum Laden runter machen und dir welche kaufen. Ich brauch auch noch Sachen. Das Wetter ist übrigens sehr schön.»
«Okay, dann essen wir erst mal was», entschied er und fuhr sich durch sein immer noch ein wenig feuchtes Haar. «Machst du mir so 'ne Waffel?»
Ich ging nach unten in die Küche und bereitete alles vor, während er mit einer Kippe vors Haus ging. Morten war nicht mehr da, vermutlich werkelte er irgendwo im Keller herum.
Als Nicki etwas später zu mir in die Küche kam, hatte sein frisch gewaschenes Haar gerade einen besonders schönen, rötlichen Glanz. Er lehnte sich an den Türrahmen und musterte mich, während ich die einigermaßen gelungenen Waffeln auf einen Teller legte. Ich durfte ihn nicht anschauen. Warum sah er nur wieder so unverschämt gut aus, trotz eben erst abgeklungener Erkältung?
«Du, hast du jetzt allen Ernstes den Flug sausenlassen?», fragte er leise.
«Ja, hab ich.» Ich setzte ein schmerzhaftes Lächeln auf.
«Und wie hat dein Vater reagiert?»
«Ziemlich merkwürdig.» Ich schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht … er ist ganz komisch drauf.»
«Und deine Mutter?»
«Ich … hab seit Tagen nicht mehr mit ihr geredet … sie hat mich nie angerufen. Ich … ich glaub, meine Eltern haben jetzt die totale Krise. Ich … trau mich im Moment gar nicht, mich zu melden.»
Domenico kam zu mir und streichelte wortlos meinen Rücken. Mich schauderte auf einmal. Ich wollte nicht an Zuhause denken. Irgendwas würde dort auf mich warten, das spürte ich. Domenico legte von hinten die Arme um mich, während ich die Waffeln mit Rømme und Marmelade bestrich. Ich musste aufpassen, dass meine Hände nicht zu zittern anfingen.
Als wir am Tisch saßen und Nicki die Waffeln verdrückte – ein Frühstück ganz nach seinem Geschmack –, hörten wir die Haustür zuschlagen. Gleich darauf stürmte Hendrik mit strahlendem Gesicht zu uns in die Küche.
«Hei. Ich sehe, dir schmeckt norsk frokost, Bruder!»
Domenico grinste verlegen.
«Er hat sieben Waffeln verputzt», stöhnte ich. «Ich wäre an seiner Stelle schon längst fett wie eine Tonne, aber ich habe keine Ahnung, wo er die ganzen Kalorien hintut. Das ist einfach ungerecht!»
«Tja.» Hendrik schmunzelte und nahm sich ebenfalls noch eine Waffel. Er erkundigte sich nach Neuigkeiten, doch viel zu berichten gab es nicht.
«Ich habe keine Ahnung, wo Morten ist», sagte ich.
«Ach, der ist unten am Trainieren.» Hendrik winkte ab. «Der lässt sich die nächsten swei Stunden nicht mehr blicken. Habt ihr Lust, ein wenig spasieren su gehen?»
«Gern», sagte ich, und auch Domenico nickte.
Wir räumten die Küche auf. Hendrik meinte, dass es immer noch ziemlich kühl und nass sei, deswegen holten wir unsere Jacken.
Er hatte Recht. Als wir in den Garten traten, war das Gras feucht und glitschig. Domenico betrachtete fasziniert das blaue Trampolin.
«Das haben hier fast alle», winkte Hendrik ab. «Morten hat es für die Kids gekauft, aber nun steht es nur noch rum.»
«Darf ich's mal ausprobieren?», fragte Nicki.
«Bitte schön», sagte Hendrik. Und ehe ich etwas einwenden konnte, sprang Domenico schon auf das Trampolin.
«Nicki … du bist doch noch nicht ganz gesund», mahnte ich. «Pass auf deine Lunge auf.»
«Mir tut nichts mehr weh!», behauptete er.
Er sprang höher und höher und landete dann nach einem perfekten Salto wieder auf den Füßen.
«Wow!» Hendrik war beeindruckt.
«Jetzt kommst du aber runter, Nicki, ja? Du musst dich schonen!»
Er sprang wieder auf die Erde. Ich presste meine Hand auf seine Stirn, und sie war wärmer, als mir lieb war. Ich schaute ihn streng an.
«Wieder mal zu viel Adrenalin im Blut, was?», schimpfte ich ihn aus.
«Ach, Sü…, Maya, ich hab jetzt zwei Tage gepennt. Ich dreh fast durch, wenn ich mich nicht bewegen kann. Was ist eigentlich da drunter?» Domenico zeigte auf eine graue Plane im hinteren Teil des Gartens.
«Ach, das ist ein Boot», sagte Hendrik. «Wir haben ja so viele Seen hier in Norge, da muss man fast eins haben.» Er schlenderte hinüber und hob die Plane hoch. Die zwei Katzen schossen darunter hervor.
«Ups, die hab ich wohl erschreckt», lächelte Hendrik. «Apropos Boot: Wir könnten auch su einem der Seen spasieren, wenn ihr mögt.»
«Das wäre schön», sagte ich. Domenico zögerte ein wenig, er schien etwas zu überlegen.
«Wir können vorher noch zum Laden gehen und Zigaretten kaufen, Nicki», erriet ich seine Gedanken.
«Echt?» Seine Miene entspannte sich.
«Wenn du willst, darfst du mein Motorsykkel leihen. Dann kannst du runterfahren su dem kleinen Einkaufssentrum», sagte Hendrik. «Dort sind die Preise günstiger.»
«Du willst mir im Ernst dein Motorrad leihen?» Domenico starrte Hendrik fassungslos an.
«Sikker …»
«Obwohl ich keinen Führerschein hab?»
«Ach ja …» Hendrik winkte ab. «Das ist eine Ausnahme, weil du mein Bruder bist. Außerdem ist es ja nicht weit. Sie kontrollieren hier nicht so streng. Und sonst gehe ich für dich in den Knast.» Hendrik lachte über seinen eigenen Witz.
Domenico grinste auch und sah dann mich an.
«Du brauchst doch auch noch was aus dem Laden, hmm?»
«Das eine oder andere …»
«Du kannst sie mitnehmen», sagte Hendrik. «Mein Vater hat irgendwo noch einen sweiten Helm. Ich hole ihn rasch.»
Etwas später saßen Nicki und ich zusammen auf dem Motorrad, und in meiner Bauchgegend fand ein Riesenaufruhr statt, als ich meine Arme wie damals auf Sizilien um Domenicos Körper schlang. Ich hoffte, dass keiner es merkte. Hendrik winkte uns, und Domenico gab Gas. Obwohl ich mittlerweile etwas Übung hatte, musste ich mein Gleichgewicht völlig anders verlagern als bei Hendriks Fahrweise – Nicki fuhr schlicht und einfach um einiges offensiver, aber auch besser. Seine Fahrweise war weitaus geschickter als die von Hendrik. Als ich den Dreh endlich wieder raushatte, waren wir leider schon am Ziel.
Direkt vor dem Einkaufszentrum gab es Parkplätze. Nicki half mir behutsam beim Absteigen und nahm mir den Helm ab. Ich wusste, dass es eine unglaublich großzügige Geste von Hendrik gewesen war, uns das Motorrad zu leihen.
Domenico legte den Arm um mich, als wir eine Weile einfach ohne bestimmtes Ziel durch das Einkaufszentrum flanierten. Ich hob noch einmal ein wenig Geld ab und kaufte ein paar Sachen für mich ein, zwei T-Shirts, Unterwäsche und einen Pullover. Nicki war es seit langem so gewohnt, mit wenig auszukommen, dass er nur eine Schachtel Zigaretten wollte.
Als wir später draußen in der Sonne auf einer Mauer saßen und er sich eine anzündete, dachte ich daran, dass er, sobald unser Trip hier in Norwegen beendet war, zu Hause das Antidepressivum wieder würde einnehmen müssen. Ich ertappte mich bei dem absurden Gedanken, dass es mir fast lieber war, wenn er ein paar Zigaretten pro Tag mehr brauchte, als wenn seine Gefühle durch die Medikamente wieder völlig gedämpft würden.
Ich seufzte bei der Vorstellung.
Domenicos Hand kraulte zärtlich meinen Hinterkopf.
«Woran denkst du?», fragte er leise.
«Nichts …»
«Ey, Principessa, mir kannst du nichts vormachen.»
«Ich möchte am liebsten hierbleiben …», murmelte ich ausweichend.
Er drehte sanft mit der Fingerspitze mein Gesicht zu sich um. «Du hast dich echt verändert», stellte er leise fest.
«Positiv oder negativ?», fragte ich bange.
«Einerseits positiv, andererseits … du bist härter geworden.» Er ließ mein Gesicht wieder los und blies nachdenklich Rauchkringel in die Luft. «Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich vermisse die unschuldige, süße Maya … die, die auf Knopfdruck weinen konnte.» Er lächelte ein bisschen. «Sorry, ich weiß, das klingt dumm. Aber ich weiß, dass ich schuld bin … und ich wünschte, ich könnte in dir wieder heilen, was ich zerbrochen hab.»
«Es ist doch nicht deine Schuld», erwiderte ich unsicher. «Es sind so viele Sachen passiert …»
Er zuckte mit den Schultern und löschte die Zigarette auf der Mauer aus.
«Du möchtest nicht nach Hause, stimmt's?»
«Ich weiß nicht …»
«Im Grunde genommen wolltest du ja für 'ne Weile abhauen. Glaubst du, ich hab das nicht gecheckt?»
«Abhauen? Ich?» Doch als ich darüber nachdachte, war ich mir nicht sicher, ob er nicht doch Recht hatte. Er zog meine Hand auf seinen Schoß und schloss seine Finger darum.
Fast automatisch näherten sich unsere Gesichter einander und trafen sich in einem zaghaften, unsicheren und doch so sehnsüchtigen Kuss, der von unendlich vielen Fragen begleitet war. Obwohl an seinen Lippen immer noch Zigarettengeruch haftete, störte es mich im Augenblick nicht.
Er nahm zärtlich mein Gesicht in seine Hände.
«Principessa», flüsterte er und sah mir in die Augen.
Da er offenbar spürte, dass ich nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren, ließ er mich mit einem Seufzer wieder los und führte mich behutsam zum Motorrad zurück.
Ich schloss auf der Rückfahrt meine Augen und wollte mich ganz darauf konzentrieren, diese kurze Fahrt mit ihm zu genießen, doch das lästige Brennen in meinen Tränendrüsen lenkte mich ab.
Als wir vor Mortens Haus parkten, hatte ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Hendrik erwartete uns schon. Er hatte sich trotz des milden Wetters warm eingepackt und riet uns, dasselbe zu tun.
«Es ist dort droben siemlich kühl», meinte er. «Wir machen etwa swei Stunden Fußmarsch. Schaffst du das, Nick?»
«Klar. So 'n Spaziergang tut mir gerade gut.»
Wir zogen uns warm an. Nicki wickelte sich sogar ohne Murren den Schal um, und los ging's.
Ich realisierte erst jetzt, wie schön es hier in Nittedal war. Ich mochte die kleinen, gemütlichen Holzhäuser, die mit ihren Farben eine ganz besondere Art von Geborgenheit verbreiteten. Fast alle Häuser waren hier aus Holz, sogar samt den Briefkästen. Das lag wohl daran, dass es in Norwegen so viele Wälder gab.
Hendrik kannte sich hier offenbar bestens aus. Bald schon gelangten wir zu einem Pfad, der mitten durch den Wald führte.
Domenico nahm meine Hand und steckte sie mit seiner zusammen in seine Jackentasche. Er sog die frische Luft fast schon sehnsüchtig in seine malträtierte Lunge ein.
«Ich war selten in meinem Leben so richtig im Wald», stellte er fest.
«Nicht?» Hendrik sah ihn ungläubig an.
«Ich meine, seit ich in Deutschland lebe. Auf Sizilien schon, da haben wir ja sogar in den Wäldern gepennt. Aber in Deutschland bin ich so gut wie nie aus der Stadt rausgekommen.»
«Habt ihr nie Ausflüger gemacht? Auf einer Klassenreise oder so?»
«Da bin ich nie mitgegangen», sagte Domenico leise.
«Utrolig.» Hendrik konnte das kaum glauben. «Magst du mir ein bissken von Sisilien ersählen?»
Bei dem Wort Sizilien seufzte ich unwillkürlich auf. Nicki sah mich an und drückte meine Hand. Dann begann er vorsichtig zu erzählen. Ich spürte, dass er sich enorm durchringen musste, doch er wollte Hendrik offenbar auch einen Gefallen tun. Er berichtete, dass sie wie eine Familie gewesen seien, er, Mingo und Bianca, und wie sie alle Zeit der Welt gehabt hätten und nachts in den Wäldern oder in leeren Häusern geschlafen oder manchmal sogar bei Mondschein im Meer gebadet hätten.
«Wow, das klingt wie ein Abenteuerfilm.» In Hendriks Stimme schwang geradezu Sehnsucht.
Aber ich wusste, dass Domenico ihm manches verschwieg. Die kriminellen Aktionen und die Deals mit der Mafia. Die Drogeneskapaden, Schlägereien, Diebstähle und die vielen Mädchen. Selbst ich wusste ja bis heute nicht wirklich, wie tief er und Mingo damals tatsächlich im Sumpf gesteckt hatten, weil er es ja jedes Mal wieder anders schilderte.
«Mach dir bloß keine Illusionen», sagte Nicki.
Hendrik fragte nicht mehr weiter.
Etwas später kamen wir zu einer kleinen Lichtung, die mit hübschen hellblauen Blumen bewachsen war.
«Das sind Blåveis. Die sind geschütst», erklärte Hendrik, als Domenico mir einen Strauß voll pflücken wollte. «Man darf die nicht ausreißen.»
Hendrik wählte eine Abkürzung durch das Unterholz. Meine Füße blieben fast in dem matschigen Waldboden stecken, als ich das Gefälle hochkraxelte. Domenico war so besorgt darum, mich vor dem Stolpern zu bewahren, dass er gar nicht bemerkte, wie er selber auf einmal mitten in einen merkwürdigen Haufen trat. Es sah aus wie eine Ansammlung von braunen Eiern.
«Igitt, was ist das denn?», japste er.
Hendrik schmunzelte. «Das sind … ähm … die Erseugnisse eines Elchs.»
«Du meinst Elchkacke?» Domenico zog entsetzt den Fuß aus der Misere.
«So kann man das auch nennen.»
«Igitt! Und wo ist der Elch?»
«Der steht irgendwo hinter den Bäumen und lacht dich jetst aus.»
Ich sah Hendrik an, dass er am liebsten auch losprusten wollte vor Lachen.
Domenico schüttelte angewidert den Kopf und griff wieder nach meiner Hand. Schließlich hatten wir den Aufstieg geschafft und gelangten zu einem wunderschönen See, dessen tiefblaues Wasser das Funkeln der Sonne widerspiegelte, als wäre es mit Tausenden von Kristallsplittern übersät. Keine Menschenseele war zu sehen. Nur wir, der See, die Sonne und der Wald.
«Wie schön», staunte ich.
«Na?», sagte Hendrik stolz. «Gefällt euch meine Heimat?»
«Kann man nicht anders sagen.»
«Der See hier heißt Ørfiske. Wir waren hier auch schon mit dem Boot fisken.»
«Kann man hier auch baden?», fragte Domenico.
«Bitte. Nur su. Wenn es dir nicht su kalt ist?»
Domenico kniete sich nieder und tauchte seine Hand in das kristallklare Wasser. «Uuuh. Das ist ja eisig.»
Ich kauerte mich neben ihn und badete meine Hand ebenfalls darin. Nickis Finger schnappten neckisch nach meinen. Hendrik stand da und beobachtete unser Spiel. Mir entging sein Lächeln nicht.
«Wird es hier überhaupt mal so richtig warm?», fragte Domenico.
«Klar, im Sommer kann es hier auch dreißig Grad heiß werden. Aber naturlig ist der Sommer hier viel kürser als in Deutschland.»
Als wir uns später auf dem Heimweg befanden, hatte Nicki wieder ein wenig erhöhte Körpertemperatur.
«Du gehst mir nachher noch mal eine Runde schlafen», ordnete ich streng an. Er widersprach nicht.
Liv war zu Hause, aber sie sagte nichts zu uns. Sie steckte in einem Trainingsanzug und warf Domenico ein paar misstrauische, aber auch gespannte Blicke zu. Mir fielen die vielen Furchen in ihrem markanten Gesicht auf. War sie älter als Morten? Sie packte lediglich ein paar Sachen zusammen und verschwand dann wieder.
Hendrik kehrte an diesem Abend nach Hause zurück, weil er für den Contest proben musste. So waren Domenico und ich den ganzen Abend allein im Haus, weil Morten bei einem Trainingswettkampf war. Wir schauten DVDs, und Domenico telefonierte wieder mit Bianca und Carrie. Carrie legte den Hörer an Manuels Ohr, so dass Nicki ihm ein paar liebevolle Worte auf Italienisch sagen konnte.
Ich beschloss, vorerst nicht mehr bei meinen Eltern anzurufen. Ich wollte die Zeit hier noch genießen und erst zu Hause wieder an meine Sorgen denken.
Später spielte ich Nicki den Song vor, den Hendrik mir gegeben hatte. Nicki lehnte sich an mich und schloss die Augen. Die ganze Zeit schwieg er, und in seinem Gesicht zuckte es, als würde das Lied den ganzen Schmerz wieder in ihm hochbringen. Ja, er wusste zu gut, was es bedeutete, im Todesschatten zu liegen … er kannte den eiskalten Hauch des Todes im Nacken, an dem er beinahe erfroren wäre. Aber der tiefsten Finsternis gerade so entronnen, fühlte er nun endlich einen wärmenden Strahl auf seiner Haut.
Ich genoss es, ihn während des ganzen Liedes einfach zu streicheln.
«Ich glaub, der gehört nun auch zu meinen Lieblingssongs», murmelte er hinterher.
Weil er wieder ein wenig Fieber hatte, verdonnerte ich ihn abermals zu Fußwickeln und erkundigte mich zum tausendsten Mal, ob ihm die Lunge wirklich nicht mehr wehtat.
Er versicherte mir, dass der Schmerz verschwunden war.
«Bei so 'ner Behandlung muss man ja wieder gesund werden», gähnte er.
Ich war froh und dankte Gott für dieses kleine Wunder. Nicki schlief schließlich noch mitten im zweiten Film ein, den Kopf auf meinem Schoß.