21. Überwältigt

Am nächsten Tag wartete wieder ein strahlend blauer Himmel auf uns. Domenico stand erstaunlich früh an meiner Tür und bat mich, ihm wieder Waffeln zu machen.

Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich das mit der Heimreise regeln sollte. Paps hatte mich da nun einfach ins kalte Wasser geschmissen. Genau das andere Extrem von dem, was er sonst immer tat. Ich fühlte mich ein wenig überfordert.

«Keine Angst, ich bring dich schon heim», meinte Domenico, als wir am Esstisch saßen. «Wenn wir morgen losfahren, sind wir am Sonntag zu Hause.»

«Per Anhalter?», fragte ich.

«Oder mit dem Zug. Wie du möchtest. Ich muss halt das Geld irgendwo pumpen.»

«Möchtest du denn nicht ein bisschen länger hierbleiben?», fragte ich.

«Nee … es ist okay, glaub ich.»

«Aber du hast doch noch kaum mit deinem Vater geredet, Nicki. Ich glaube, er traut sich selber nicht so recht, dich anzusprechen.»

Er starrte auf seinen Teller und schüttelte dann leise den Kopf. «Ich … pack das nicht, fürchte ich. Ich mein, ich hab nie 'nen Vater gehabt, und ich glaub, ich brauch jetzt auch keinen mehr. Auch wenn die in der Therapie behaupten, das sei wichtig und das ganze Blabla. Ich freu mich ja riesig, dass ich nun Rick hab. Ein Bruder bedeutet mir viel mehr als ein Vater.»

«Aber Morten möchte es so gern wiedergutmachen, Nicki. Er leidet so.»

Domenico schwieg. Ich seufzte und schüttete noch ein wenig Puderzucker über meine Waffeln.

Etwas später kam Morten im Trainingsanzug zu uns in die Küche.

«Da seid ihr ja. Ich wollte gerade fragen, ob ich euch ein wenig die Umgebung zeigen soll. Die anderen sind alle mit Arne auf einem Ausflug. Ist ja Himmelfahrt.»

Ich prüfte Domenicos Miene. Er nickte vage, und ich sagte: «Ja, gern.»

Und so schlenderten wir ein wenig später mit Morten um das Haus herum. Er war gerade dabei gewesen, das Boot abzudecken und die Plane zusammenzufalten. Die beiden Katzen tollten auf der Wiese herum und kamen miauend angerannt. Ich bückte mich und wollte die mit den weißen Söckchen auf meinen Arm nehmen, doch sie entschlüpfte mir sogleich wieder.

«Ich habe gehört, dass du dich für Sport interessierst», sagte Morten zu Domenico. «Und dass du sehr gut sein sollst.»

Domenico zeigte sein cooles Schulterzucken. «Geht so. Ich war früher besser.»

«Trainierst du denn noch?» Morten wirkte immer noch schüchtern.

«Ich hab in Italien wieder mehr trainiert, aber vorher hatte ich lange Zeit Pause. Ist nicht so einfach, wieder auf das Niveau zu kommen, das ich mal hatte.» Domenico betrachtete scheinbar interessiert das Boot, doch ich sah den Schatten über sein Gesicht ziehen.

«Wie hast du denn deine Liebe zum Sport entdeckt?»

«Weiß ich nicht. Hab einfach mal angefangen und gemerkt, dass ich es brauche. Und dann haben alle gesagt, dass ich gut sei, und so bin ich halt weitergekommen.»

«Verstehe. Das war bei mir ähnlich. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mit meiner Familie hier in Nittedal lebe, weißt du. Ich brauche Sport wie die Luft zum Atmen. Hier habe ich viel Platz, kann durch die Wälder joggen, kann in Ruhe trainieren und viel an der frischen Luft sein.»

«Es ist schön hier», sagte Domenico.

«Ja, was? Man kann auch ganz weite Spaziergänge machen, und manchmal begegnet man sogar einem Elch.»

«Oder seinen Erzeugnissen», murmelte Nicki.

Morten lächelte.

«Sag mal, Domenico, magst du mit mir ein kleines Badminton-Match machen?», fragte er und zeigte auf das Netz, das zwischen dem Haus und dem Schuppen aufgespannt war. «Ich brauche mal wieder einen würdigen Gegner.»

«Jetzt?», fragte Domenico.

«Wenn du schon fit genug bist. Ansonsten können wir's auch verschieben.»

«Besser verschieben», wandte ich sofort ein. «Er hatte gestern Abend wieder Fieber.»

«Ey, ich bin fit.» Domenicos Augen funkelten.

«Ich denke, wir hören besser auf deine Freundin», beschwichtigte Morten.

«Nein. Ich will spielen.» Domenico war auf einmal voller Tatendrang. «Ich brauch das. Ey, ich hab den Sport lange Zeit so vermisst. Ich hab in Italien viel Badminton gespielt. Ich bin ziemlich gut, glaub ich.»

Ich schwankte innerlich. Hier bot sich eine einmalige Gelegenheit. Domenico wollte unbedingt gegen seinen Vater spielen. Es war vielleicht die einzige Möglichkeit für Morten, an Nicki ranzukommen. Ich durfte die beiden jetzt nicht durch meine übertriebene Fürsorglichkeit bremsen. Denn wer wusste, wie Nickis Laune am nächsten Tag sein würde?

«Na gut, aber ganz vorsichtig», mahnte ich.

«Wir werden's nicht übertreiben», versprach Morten. «Und wenn es nicht mehr geht, hören wir auf, ja? Keine Angst. Ich bin ein behutsamer Trainer.»

Morten ging in den Schuppen und holte Schläger und ein paar Federbälle. Domenico trippelte schon ungeduldig herum und wärmte sich auf.

«Sehr gut», sagte Morten, der ihn bei den Aufwärmübungen beobachtete. «In was für Sportvereinen warst du denn?»

«Sie haben mich in der Schule in 'nen Extraverein gesteckt. Ich war für die Jugendauswahl nominiert, aber …» Domenico verstummte.

«Jugendauswahl? Nicht schlecht.» Morten konnte seine Anerkennung nicht verbergen. «Warum hast du aufgehört?»

«Verschiedene Gründe …»

Morten fragte nicht weiter, sondern prüfte einen Federball nach dem anderen, indem er sie ins gegenüberliegende Feld schlug. Schließlich hob er das Exemplar auf, das am weitesten geflogen war.

«Das mit diesen Shuttlecocks ist eine Wissenschaft für sich», meinte Morten. «Nun, ich bin kein Badminton-Meister. Aber eine gewisse Fluggeschwindigkeit muss er schon haben. Du bist doch einverstanden, dass wir einen schnellen Shuttlecock nehmen?»

«Wenn du damit 'nen Federball meinst, ja», meinte Nicki.

«Also los. Wir machen ein ganz normales Punktespiel, ja?» Morten drückte Domenico einen Schläger in die Hand.

«Schieß schon los», sagte Domenico ungeduldig und stellte sich mit dem Schläger in Position.

Morten begann mit dem Anspiel, und Domenico konterte mit einem perfekten Schlag.

«Nicht übel», rief Morten und schlug den Ball erneut zurück, und Domenico antwortete mit einer gekonnten Rückhand.

Und so ging es weiter, Schlag auf Schlag. Ich setzte mich ins Gras und schaute den beiden zu. Während Morten am Anfang eher noch behutsam gespielt hatte, hatte er offensichtlich bald gemerkt, dass Domenico ein ebenbürtiger Gegner war, der unbedingt herausgefordert werden wollte. Ihre Schläge wurden immer wilder und härter, und der Federball flog immer rasanter übers Netz. Morten führte lediglich mit einem Punkt Vorsprung. Domenicos Augen glühten vor Eifer, verbissen darauf fixiert, den Ball keine einzige Sekunde lang aus dem Blickfeld zu verlieren. Als beide, sowohl Domenico wie auch Morten, allmählich ins Keuchen kamen, sprang ich auf.

«He Leute, jetzt müsst ihr aber langsam aufhören!»

«Erst wenn ich aufgeholt hab», knirschte Nicki und smashte den Federball mit voller Kraft übers Netz. Morten schaffte es nicht, ihn zu erreichen.

Und da brach Domenico plötzlich ab und presste sich die Hand auf die Brust.

«Au!»

«Nicki, nein!» Sofort war ich bei ihm. Er stöhnte und rang nach Luft.

«Nein, nein, nein! Ich hab's dir doch gesagt!» Ich schob seine Hand weg und versuchte, seine Brust zu massieren.

«Was ist passiert?» Morten war mit drei Schritten bei uns.

«Bitte nicht schon wieder ein Lungenriss.» Ich heulte fast.

Domenico keuchte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er, Luft in seine Lunge zu ziehen, brachte jedoch nur ein klägliches Röcheln zustande.

«Ganz ruhig.» Morten fasste ihn sanft um die Schultern. «Atme tief durch. Schön ruhig. Keine Panik. Lass mich mal machen, Maya. Ich habe da Erfahrung.»

Ich trat zur Seite, und Morten stützte Domenico und legte die Hand fest auf seine Brust.

«Geh auf die Knie. Ganz langsam. Ja, so. Entspann dich. Ich bin ja da. Es passiert dir nichts.» Nicki sank auf die Knie, und Morten legte ihn vorsichtig in die Seitenlage.

«Und nun ganz langsam einatmen. Und keine Panik. Nur keine Panik.» Morten legte ihm die Hand auf die Stirn und ließ sie dort ruhen.

Domenico schaffte es schließlich, wieder Luft zu kriegen, und die Angst wich allmählich aus seinem Gesicht.

«Bleib einfach einen Moment liegen», meinte Morten. «Keine Eile. Nimm dir Zeit.»

Wir warteten. Domenicos Wangen bekamen wieder etwas Farbe, und mir fiel ein ganzer Felsbrocken vom Herzen. Trotzdem. Ein kleiner, quälender Stachel der Angst blieb zurück.

«Warst du schon beim Arzt deswegen?», fragte Morten, als Domenicos Atem wieder ganz regelmäßig ging. Seine Hand lag immer noch auf Nickis Stirn.

«Ja, klar. Das ist ja der Grund, warum ich kein Profisportler mehr werden kann», antwortete Domenico mit sehr dünner Stimme. «Hatte 'nen Lungenriss. Sie mussten mir den halben linken Lungenflügel rausnehmen.»

«Verstehe», sagte Morten mitfühlend. «Wir hätten wohl besser auf deine Freundin hören sollen. Tut dir jetzt immer noch was weh?»

«Nee, ist okay. Passiert mir öfters, wenn ich mich übernehme. Das ist dermaßen Kacke. Dabei will ich so gern Sport machen.»

Domenico lag immer noch da. Ich rutschte näher und streichelte seine Wange. Morten nahm seine Hand weg, um mir Platz zu machen.

«Wahrscheinlich verkrampfst du dich beim Atmen», sagte er zu Domenico.

«Ist aber erst so, seit ich den Riss hatte», meinte Nicki.

«Gerade deswegen. Deine Lunge musste sich an ganz neue Verhältnisse gewöhnen. Hast du es schon mal mit Atemtechniken versucht? Es gibt da einiges, was man lernen kann.»

«In der Therapie haben sie mir 'n bisschen was gezeigt, aber ich glaube, für so was müsste ich 'nen richtig professionellen Trainer haben.»

«Vor dir steht einer.» Morten lächelte. «Ich bin dabei, mich als Trainer ausbilden zu lassen, um den Nachwuchs zu trainieren. Für Wettkämpfe bin ich ja nun zu alt. Ich studiere auch Atemtechnik und alles, was dazugehört. Ich könnte dir da schon einiges beibringen, so dass du weiterhin Sport treiben kannst.»

Domenico richtete sich langsam wieder auf. Ich legte den Arm um ihn.

«Weißt du eigentlich, dass du das einzige meiner Kinder bist, das nach mir kommt?» Mortens Stimme klang zerbrechlich, und er zeigte ein schiefes Lächeln. «Ich muss zugeben, dass ich mir insgeheim immer einen Jungen gewünscht hab, der mich mal im Badminton schlägt.»

«Ich hab dich ja nicht geschlagen», sagte Domenico. «Ich war einen Punkt im Rückstand.»

«Falsch. Den letzten Ball hab ich nicht mehr gekriegt. Es steht also unentschieden», schmunzelte Morten. «Hör mal, mach dir nichts draus, dass du kein Profisportler mehr werden kannst. Tröste dich damit, dass du immer noch mehr Sport treibst als der Durchschnittsbürger. Weißt du, eine Karriere als Profisportler hat auch eine Menge Schattenseiten.»

«Ja?»

«Du gibst dafür fast alles auf, dein Leben, dich selbst und sogar deine Familie. Dein Trainer trimmt dich hart, ohne Rücksicht auf dein Privatleben, denn du musst um jeden Preis gewinnen. Sponsoren haben hohe Erwartungen an dich; deine Fans erhoffen sich von dir Glanzleistungen. Du darfst keine Schwäche zeigen, denn schließlich bist du ein Held und darfst die Nation nicht enttäuschen. Die Medien erfinden lauter blöde Sachen über dich. Wenn du Erfolg hast, wirst du hochgejubelt, wenn du versagst, pfeifen sie dich aus und sind enttäuscht von dir. Kritik musst du mit einem artigen Lächeln einstecken, musst gute Miene zum bösen Spiel machen und der Welt ein Dauergrinsen zeigen, egal, wie es in dir drin aussieht. Wie es in dir drin aussieht, will nämlich keiner wirklich wissen. Wenn du weinst, weinst du allein und einsam in einem Hotelzimmer. Deine Familie ist weit weg von dir, und du weißt, dass sie dich braucht, aber du gibst alles hin für den Sport, weil es das ist, was du brauchst. Es ist wie der Kick einer Droge, auf dem Podest zu stehen, und irgendwann kannst du ohne diesen Kick nicht mehr leben. Du brauchst ihn immer wieder, und du brauchst immer mehr. So vergehen die Jahre, und dann kommen die jüngeren Konkurrenten und laufen dir den Rang ab. Die Welt jubelt ihnen zu, und dich vergessen sie. Sie schmeißen dich in den Staub, auf einmal gehörst du zum alten Eisen. Und du ziehst dich zurück und findest eine zerbrochene Welt, die du wegen diesem Kick vernachlässigt hast. Du hast zwar den Gipfel erreicht, aber dann stehst du da oben und siehst runter auf eine Welt voller Scherben. Verstehst du, was ich meine?»

Ich ahnte, dass das eine sehr lange Rede für den sonst eher wortkargen Mann gewesen war. In seinem Gesicht zeichneten sich die Furchen und Leiden der vergangenen Jahre, trotz der brillanten Erfolge. Ich konnte nur ahnen, wie viel dieser große Sportler erlebt haben musste.

Domenico hörte zu und nickte nachdenklich.

«Tja, und jetzt liegt zwar eine große Karriere hinter mir, und trotzdem bin ich nun dabei, herauszufinden, was ich mit der zweiten Hälfte meines Lebens machen möchte. Reich, berühmt und erfolgreich zu sein ist nicht alles», sagte er leise. «Was nützen mir im Endeffekt all die Medaillen und Pokale? Was nützt es mir, wenn ich im Guinness-Buch der Rekorde stehe, wenn meine Tochter sich die Pulsadern aufschneidet? Oder wenn nach all den Jahren ein verschollener Sohn heimkehrt, den ich schändlich im Stich gelassen habe?» Er sah Domenico mit einem trüben Blick an.

«Erfolg und Reichtum machen auch einsam. Ich möchte das, was ich erreicht habe, nicht missen, aber es gibt viele schöne und wichtige Dinge, die ich dadurch verpasst habe. Du hast dein Leben noch vor dir. Du kannst zum Beispiel deine Freundin genießen, eines Tages heiraten, Kinder haben und sie aufwachsen sehen.»

Domenico schwieg. Er hatte seinen Blick abgewandt, und ich spürte auf einmal, wie er mit den Tränen kämpfte.

Morten sah ihn von der Seite an. «Du hast übrigens viel Ähnlichkeit mit deiner Mutter», sagte er vorsichtig. «Oder hörst du das nicht so gern?»

Domenico zuckte nur mit den Schultern.

«Möchtest du lieber, dass ich Nicki zu dir sage, so wie deine Freundin? Oder lieber Domenico?»

«Ist mir ziemlich egal, wie ich heiße …» Domenico beugte sich vor und band seine Schuhe neu, um Morten nicht ansehen zu müssen. Morten legte etwas zögernd die Hand auf Nickis Schulter.

«Hör zu, Domenico … Nicki … ich weiß … ich war dir kein Vater, wie du ihn gebraucht hättest. Es ist schlimm, was ich getan habe. Ich dachte damals, mit Geld könne ich meine Probleme lösen. Ich weiß immer noch nicht, ob du mir verzeihen kannst, und ich würde es auch verstehen, wenn du es nicht könntest. Du kannst dir alle Zeit der Welt lassen. Aber falls du möchtest … vielleicht können wir ja doch einen gemeinsamen Neuanfang machen? Weißt du, bin selber gehandicapt in meinen Gefühlen. Ich glaube, ich kann dich bei einigen Problemen sehr gut verstehen.»

Er hielt Domenico die Hand hin. Nicki zögerte. Morten wartete mit ausgestreckter Hand.

«Wie gesagt, du hast alle Zeit der Welt.» Morten machte Anstalten, seine Hand langsam wieder zurückzunehmen. Schließlich schlug Domenico im allerletzten Moment doch noch ein.

«Auf jeden Fall sollst du eines wissen: Mein Haus steht immer offen für dich. Du bist jederzeit hier willkommen, wann immer du möchtest. Ich kann nicht wiedergutmachen, was ich versäumt habe, aber ich … falls du es mir erlaubst, dann möchte ich gern versuchen, dir, so gut es geht, doch noch ein bisschen ein Vater zu sein.»

Das war eindeutig zu viel für Domenico. Er schaffte es gerade noch zu nicken, dann sprang er auf seine Füße und rannte davon, ohne sich nochmals nach uns umzudrehen.

Morten warf mir einen verwirrten Blick zu.

«Ich glaube, er ist einfach überwältigt», beruhigte ich ihn.