23. Mitternachtsparty

Hinterher fuhren wir alle nach Nittedal, weil Hendrik unbedingt eine Mitternachtsparty schmeißen wollte. Morten hatte sich bereit erklärt, seinen Garten dafür zur Verfügung zu stellen. Die Luft war kühl, aber dafür war der Himmel sternenklar. Domenico ließ mich nicht los. Er deutete zum Himmel. «Sieh mal.»

Ich folgte seinem Blick und sah die Sterne am immer noch nicht wirklich dunklen Nachthimmel funkeln.

«Erinnerst du dich an damals, als ich zu dir sagte, dass ich in Sizilien immer den Sternenhimmel anschaute und mich gefragt hab, ob du denselben Himmel siehst?»

«Ja», sagte ich.

«Und wir betrachten trotz allem immer noch denselben Sternenhimmel, oder nicht?»

«Ja», hauchte ich und begriff, was er mir damit sagen wollte.

Sverre, Thore und einige Kumpels hatten an einer Tankstelle Bier und Snacks besorgt und rückten mit einer ganzen Wagenladung an. Hendrik hatte prompt eine ganze Kiste mit Steckern und Kabeln auf dem Parkplatz des Kulturzentrums vergessen und brauste nochmals mit dem Auto los, um sie zu holen.

«Mein Sohn, das Vergesslichkeitsgenie», meinte Morten kopfschüttelnd. «Irgendwann vergisst dieser Träumer noch irgendwo seinen eigenen Kopf.»

Trotz der mitternächtlichen Stunde hatten sich sogar noch ein paar Nachbarn dazugesellt, Arne mit seinen drei Kindern, Frode und Grete und Frank und wie sie alle hießen, alles Leute aus den umliegenden Häusern. All diejenigen, die trotz der späten Stunde noch wach waren, kamen, um Hendrik zu seinem Sieg zu gratulieren. Die meisten blieben allerdings nicht lange, weil sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit mussten. Jedenfalls schien sich keiner über den Lärm zu beschweren. Alle freuten sich für Hendrik und drückten daher ein Auge zu.

Morten fand im Keller noch ein paar Würste und schmiss den Grill an. Liv machte auf die Schnelle ein Fladenbrot. Kjetil schnappte sich Arnes Söhne Petter und Herman und verzog sich in seine Bude zum Gamen.

Hendrik saß mit Thore und Sverre und weiteren Kumpels im Kreis auf dem Boden und spielte Songs auf seiner Gitarre. Domenico und ich saßen etwas abseits eng aneinandergekuschelt da und starrten immer noch verträumt in den Sternenhimmel, während wir uns eine Flasche Limo teilten und Wurst und Fladenbrot verzehrten.

Etwas später gesellte sich Hendrik zu uns.

«Na, ihr swei? Geht es euch gut?»

«Ja», sagte ich. Domenico nickte nur, sein Gesicht tief in meinen Haaren vergraben.

«Ihr wart echt gigantisch», sagte ich zu Hendrik. «Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn ihr eines Tages den großen Durchbruch schafft.»

«Ja! Hej, weißt du was? Wir wurden nach der Show von einem der Herren aus dem Musiclabel angesprochen. Er möchte gern ein Demo-Tape haben.»

«Im Ernst?»

«Ja, aber das heißt noch gar nichts, weißt du. Wenn die sich noch dreihundert andere Demo-Tapes anhören müssen, ist die Chance naturlig nicht sehr groß. Da muss man realistisk bleiben. Trotsdem. Sie haben Interesse. Das ist der erste Schritt.»

«Euer Sprung auf die Bühne war echt der Hit», sagte ich.

«Ja, das haben wir wie verrückt geübt», schmunzelte Hendrik. «Die blöde Rauchmaskine hat allerdings fast den Geist aufgegeben!»

Wir lachten, und Sverre prostete uns von ferne mit seiner Bierdose zu.

Domenicos Gesicht tauchte wieder aus meinen Haaren auf. Er sah Hendrik, seinen Halbbruder, mit einem schüchternen Lächeln an.

«Danke. Das Lied war … nee, voll klasse ist zu wenig. Es war …» Er schüttelte den Kopf, unfähig, den passenden Ausdruck dafür zu finden.

«Ach, schon okay. Weißt du, ich kann mich mit Musik viel besser ausdrücken als mit Worten. Du musst dich übrigens bei Vater bedanken. Weißt du, das war für ihn nicht leicht. Ich habe ja vor dem gansen Publikum von dir ersählt. Alle wissen nun, dass er Mist gebaut hat. Es bedeutet … sehr viel, dass er mir das erlaubt hat.»

Nicki schwieg. Ich fühlte, wie sich in seiner Brust eine Ansammlung von Tränen zum Ausbruch bereit machte. Schnell verbarg er sein Gesicht wieder in meinem Haar. Seine Arme hielten mich fest umschlungen. In meinem Nacken wurde es ganz feucht.

«Hej Nick … bist du okay?», fragte Hendrik.

Ein tiefer Schluchzer stieg hinter mir auf. Nicki wischte sein Gesicht erst an meinen Haaren trocken, ehe er wieder aufzublicken wagte.

«Sorry …», murmelte er verlegen. «Es ist nur … ziemlich … ziemlich …»

Hendrik lächelte. «Hab schon verstanden.»

«Ich wünschte …» Nickis Stimme brach. Er konnte es nicht aussprechen, aber ich war mir sicher, dass er an Mingo dachte. Sein Zwillingsbruder war nun mal immer bei ihm …

Ja, ich war mir ganz sicher, dass er sich gerade in dem Augenblick vorstellte, ob Mingo das alles irgendwie mitbekam, wo immer er nun war …

«Weißt du was, Nick? Ich find dich total mutig», unterbrach Hendrik das kurze Schweigen.

«Mutig?» Domenico blinzelte seine Tränen weg. «Warum denn das?»

«Einfach alles. Wie du deine Freundin beschütst. Und wie du meiner Schwester geholfen hast. Und dass du einfach mit meinem Motorsykkel gefahren bist.»

«Mutig? Nee, mutig bin ich nicht … wohl eher beknackt, weil ich immer gleich so heftig reagiere … Zu dominant. Das haben sie mir in der Therapie lang und breit verklickert.» Domenico ließ mich los und bat mich um eine Zigarette. Er hatte sie mir wieder zur Verwaltung gegeben.

«Aber vielleicht ist dein Temperament ja gerade deine Stärke?» Hendrik sah ihn an.

«Nee, kaum», seufzte Nicki und klickte mit dem Feuerzeug. «Damit hab ich schon 'ne Menge kaputt gemacht.» Er rückte etwas von mir ab, um mich nicht mit dem Qualm einzunebeln. Ich warf ihm einen unwilligen Blick zu. Ich wollte doch nicht, dass er mich losließ …

«Würde ich nicht so sehen. Du musst dein Temperament nur positiv nutsen. Positiv! Erinnerst du dich an den Song? Weißt du, du musst es so sehen: Das Leben ist wie eine Story, und su einer guten Story gehören nun mal Hochs und Tiefs.»

«Mhmm, kann sein …»

«Klar ist das so.» Hendrik zeigte ein Grübchenlächeln.

Als uns allmählich kalt wurde, brachten uns Morten und Liv sämtliche Wolldecken, die sie im Haus fanden. Domenico und ich teilten uns eine, doch eigentlich hätte mir Nickis Körper schon genügt, um mich daran zu wärmen. Doch dieses Mal war es nicht das Fieber, das ihn zum Glühen brachte …

Später, als alle Nachbarn nach Hause gegangen waren, rückten Morten und Liv mit ihren Stühlen zu uns rüber. Auch Ann Merete hatte sich entschuldigt, da sie am nächsten Tag früh zur Arbeit musste. Hendrik schlenderte wieder zu seinen Kumpels, um uns allein zu lassen. Ich spürte, dass es noch etwas Wichtiges zu sagen gab …

«Dürfen wir euch einen Moment stören?», leitete Morten das Gespräch behutsam ein. «Meine Frau hat eine Frage. Ich natürlich auch, aber Liv hat sich die letzten Tage deinetwegen sehr zurückgehalten, Domenico. Sie möchte dir auch noch ein paar Worte sagen.»

Domenico nickte bebend.

Liv musterte ihn mit einem eindringlichen Blick, in dem zwar keine Feindschaft lag, aber auch noch keine Freundschaft. Sie hatte während ihrer Zeit in Deutschland genug Deutsch gelernt, um das ausdrücken zu können, was sie empfand.

«Ich möchte dir nur sagen, dass das für mich jetzt eine harte Zeit war. Es ist natürlich nicht deine Schuld. Ich erinnere mich an dich und deinen Bruder. Ich erinnere mich daran, wie Morten euch ins Haus gebracht hat. Er hat mich angelogen und mir gesagt, dass ihr nicht seine Kinder seid. Es macht mich wütend, wenn ich daran denke. Es ist ein Skandal, was mit euch passiert ist. Wir hätten einen besseren Weg finden können. Aber ich kann es nicht ändern. Ich weiß noch nicht, wie ich mit der Situation klarkommen werde. Du hast zwar die Augen von Morten, aber du bist mir trotzdem fremd. Ich muss mich erst an dich gewöhnen. Ich werde euch nicht im Weg stehen. Aber bitte … gib mir Zeit.»

Ich konnte richtig fühlen, wie es in Domenicos Brust wieder zu bluten begann. Waren die Wunden am Heilen, oder waren sie erst dabei, richtig aufzubrechen?

Morten seufzte zerknittert und nickte. Er legte den Arm um seine Frau. Auch in seinem Herzen musste erst einiges wiederhergestellt werden. Die Beziehung zwischen Nicki und seinem Vater würde nur ganz langsam und behutsam wachsen können. Nicki würde viel zu verzeihen haben …

Ich schaute Liv wieder an. Sie wirkte in diesem Moment kleiner, als sie eigentlich war.

«Würdest du mir nun bitte erzählen, was in der Wohnung von diesen Svandahls vorgefallen ist?», bat sie Domenico mit leiser Stimme. «Ich möchte gerne wissen, was mit meiner Tochter passiert ist. Ob man ihr etwas getan hat. Ob wir Anzeige gegen diese Familie erstatten müssen.»

Domenico brauchte eine weitere Zigarette, um seine darauf folgende lange Rede mit einigermaßen ruhiger Stimme rüberzubringen. Aber dieses Mal erlaubte ich ihm nicht, von mir wegzurutschen. Wir saßen immer noch eng beieinander auf dem Rasen.

«Na ja, ich hab mir halt 'n paar Sachen zusammengereimt», begann er. «Zuerst hab ich die Jungs dort oben bei der Burg getroffen und hab sie nach Morten Janssen gefragt. Einer hat mir dann erzählt, er sei mit seiner Tochter zusammen. Mit Solvej, mein ich. War ein ziemlich auffälliger Typ im Emo-Look. Hatte schon ziemlich einen in der Krone. Ich dachte, der erzählt bloß Mist, weil er nämlich mit 'ner anderen rummachte. Hat mir seine Russekarte angedreht. Und später hab ich dann halt Solvej gesehen und hab bemerkt, wie sie sich ständig den Pulli über ihre Handgelenke schiebt und sich manchmal kratzt und so. Da dachte ich, das ist so eine, die sich ritzt. Hab ich irgendwie gleich gecheckt. Die ist voll sensibel drauf. Als sie mir sagte, sie würde sich mit ihrem Freund treffen, hab ich sie einfach so gefragt, ob das dieser Emo-Typ sei. Ich hab keine Ahnung, warum ich das fragte. Ich hab einfach gedacht, Mensch, wenn die sich mit diesem Kerl trifft, tut der ihr garantiert weh. Ich kenn das doch. Ich mein, das hat nix mit Emo zu tun, ich mein, das ist einfach … das ist einfach der Typ selbst, versteht ihr. Das ist so einer, der … der das nicht auf die Reihe kriegt mit Mädchen. Der jeden Tag 'ne andere hat. Aber Solvej wusste das nicht. Ich mein, kann sie ja nicht wissen, sie lebt in 'ner heilen Welt, versteht ihr? Sie ist noch nicht verdorben.»

Domenico sah Morten und Liv an. Ob sie verstanden, was er ihnen damit sagen wollte?

Er brauchte die kurze Pause, um vorsichtig an seiner Zigarette zu ziehen, eher der zweite Teil der Geschichte folgte. Liv und Morten hörten aufmerksam zu und unterbrachen ihn nicht.

«Ich hab mir überlegt: Mist, wenn die jetzt zu ihm geht und rausfindet, was das für einer ist, nämlich dass er sie mit anderen Mädchen betrügt, dann tut die sich was an. Als ich dann am nächsten Morgen gehört hab, dass sie nicht heimgekehrt ist, wusste ich irgendwie sofort Bescheid. Ich hab dann auf dieser Russekarte nachgeschaut, wo der Typ wohnt, und der hatte da tatsächlich seine Adresse drauf, und da bin ich halt hingefahren. Unten war die Tür offen, und ich bin rein. Ich dachte schon, das ist merkwürdig, dass da einfach die Tür offen ist. Und die Wohnung war auch offen. Da war kein Mensch mehr drin, nur Solvej, die im Zimmer saß und heulte und sich mit 'ner Nagelschere am Handgelenk rumritzte. Ich weiß nicht, was da abgegangen ist, aber die mussten 'ne fette Party gehabt haben. Die sind dann wohl am Morgen alle abgehauen oder zur Schule gegangen oder was weiß ich. Jedenfalls war sie allein dort und hat sich einen abgeheult.»

«Aber wo waren denn die Eltern des Jungen?», fragte Morten. «Ich meine, dass die Schulabgänger hier dicke Partys feiern, ist ja bekannt, aber sind dem seine Eltern denn nicht irgendwann mal heimgekommen?»

«Keine Ahnung. Vielleicht interessieren sich die Alten ja gar nicht dafür, was der so treibt. Gibt es ja alles …» Domenico senkte seine Augen. In seiner Stimme hörte man deutlich seine eigene Wunde.

Morten nickte. «Ja, da hast du Recht.»

Sie sahen sich lange und schweigend in die Augen.

«Du … kennst dich … ziemlich gut aus damit, scheint mir?», fragte Morten vorsichtig. «Ritzen ist ja offenbar recht verbreitet unter jungen Leuten, nicht wahr?»

Domenico nickte vage. Er war dabei, seine Serviette in ihre Einzelteile zu zerlegen, damit er keine weitere Zigarette mehr anzünden musste. Hoffentlich würde Morten ihn nicht zu tief über dieses Thema ausfragen … Ob es ihm aufgefallen war, dass Domenico seine eigenen Handgelenke mit Stoff-Fetzen umwickelt hatte?

«Was kann ich tun, um meiner Tochter zu helfen? Weißt du einen Rat? Oder … verlange ich da zu viel von dir? Warum … warum tut man so was? Warum verletzt man sich selber?»

«Damit man sich wieder spürt», sagte Nicki heiser. «Oder weil man nicht weiß, wohin man sonst mit dem ganzen Schmerz soll. Weil man will, dass es jemanden kümmert, dass man da ist. Dass man lebt. Dass man existiert …»

Ob Morten bewusst war, dass Nicki damit eigentlich gerade von sich selbst sprach? Dass er damit ausdrückte, was er selber empfand?

Liv hob die Schultern und seufzte tief. «Haben wir unserer Tochter denn zu wenig gegeben?»

«Wir haben vielleicht zu viel von ihr verlangt», meinte Morten nachdenklich. «Und auch von Kjetil …»

Domenico schwieg und zog sich leise wieder in sich selbst zurück. Es war alles gesagt, was er hatte sagen wollen.

Liv wandte sich nach Solvej um, die gerade mit Hanne beim Grill stand und über irgendetwas ausgelassen kicherte. Liv winkte sie heran. Solvej verwandelte sich sofort in ein schüchternes Mädchen und kam zaghaft herangepirscht.

«Hast du dich bei … bei deinem Bruder schon bedankt, dass er dir geholfen hat?», fragte Liv. Ich hörte, dass es ihr nicht leichtfiel, das Wort «Bruder» in den Mund zu nehmen.

Solvej schüttelte den Kopf und musterte Domenico vorsichtig. Offenbar war auch sie jetzt im Bilde. Sie flüsterte ihrer Mutter leise etwas ins Ohr und rannte dann schnell wieder davon.

Als es am Horizont wieder heller wurde, kam Hendrik auf uns zu und schwenkte einen Fotoapparat. Sverre, Thore und die anderen Kumpels waren alle auf dem Rasen eingepennt.

«Hejhej, Nick, ich brauch unbedingt Fotos von dir», sagte er fröhlich.

Ich hielt die Luft an. Wenn das bloß gutging …

«Ja, Fotos wären schön», sagte auch Morten.

«Nein …» Sofort versteckte sich Domenico hinter mir.

«Warum denn nicht?»

«Er hasst es», erklärte ich.

«Och. Bitte», bettelte Hendrik. «Ich möchte so gerne ein Foto haben von Nick und mir.»

«Rick … ich glaube, das geht nicht», meinte ich.

Hendrik kauerte sich mit dem Fotoapparat vor uns nieder.

«Und was, wenn ich die Fotos nur für uns mache? Und verspreche, sie niemandem su seigen? Kriege ich dann die Erlaubnis?»

«Ich … weiß nicht …», murmelte Nicki hinter meinen Haaren hervor.

«Nicki», flüsterte ich ihm zu. «Möchtest du deinem Bruder nicht diesen Gefallen tun? Nur ein einziges Bild. Ich glaube, du würdest ihm eine riesengroße Freude machen.»

Das war offensichtlich das Argument, das ihm einleuchtete, denn nach einigem Zögern rutschte Nicki vorsichtig wieder hervor. Hendrik hatte so viel für ihn getan – er wusste, dass auch er seinem Halbbruder etwas schuldig war.

«Nur ein einsiges», versprach Hendrik. «Und ich stelle dir auch keine Fragen.»

Domenico nickte schließlich.

Hendrik drückte mir die Kamera in die Hand und erklärte mir kurz, wie ich sie bedienen musste. Dann setzte er sich neben Domenico und legte den Arm um ihn. Ich richtete die Linse vorsichtig auf die beiden Jungs. Domenico sah mich ängstlich an.

«Lächeln, Nick», sagte Hendrik.

«Bist du auch sicher, dass du dieses Mal 'ne Speicherkarte drin hast, Rick?», warf Morten mit zuckenden Mundwinkeln ein. Hendrik stutzte kurz, nickte dann aber erleichtert.

Domenico versuchte ein zaghaftes Lächeln, doch er hielt seine Lippen fest zusammengepresst. Er wollte nicht, dass man seine Zähne sah …

Als ich abdrückte, zuckte Nicki kurz zusammen.

Ich prüfte auf dem Display, ob das Bild gut geworden war. Obwohl Nicki ein wenig verkrampft wirkte, war es ganz okay. Es hatte keinen Zweck, ihn mit einem zweiten Versuch zu quälen. Ich gab Hendrik die Kamera zurück.

«Tusen takk, Nick», sagte Hendrik herzlich. «Du hast mir eine große Freude gemacht. Ich verspreche dir, es niemandem su seigen! Aber Maya darf ich eine Kopie geben, ikke sant?»

Domenico nickte flüchtig.

Bei dem Thema Foto fiel Morten noch etwas ein.

«Waren da nicht noch Fotos von deinem Zwillingsbruder, die du mir zeigen möchtest?»

«Die sind in meinem Rucksack. Aber der ist in Kjetils Zimmer … ich weiß nicht, ob der mich reinlässt …», sagte Domenico.

«Ich hole ihn.» Morten stand auf und verschwand.

Er blieb ziemlich lange weg, und als er später mit gerunzelter Stirn zurückkam, flüsterte er Liv zuerst etwas ins Ohr. Sie nickte und schaute zum Fenster im ersten Stock hoch. Sofort zog Kjetil dort oben den Kopf zurück.

Morten nahm sich viel Zeit, um die Bilder aus Domenicos Kindheit zu studieren. Er stellte ihm nicht viele Fragen, weil er längst begriffen hatte, dass es da Spielregeln gab.

«Weißt du, was?», meinte Morten plötzlich mit einem Blick auf Domenicos Haar. «Du hast das Haar von meiner Mutter geerbt. Sie hatte exakt dasselbe Kupferbraun wie du. Mein Vater hingegen ist es, der mir dieses Rotblond verpasst hat.»

Ich sah Domenico an, und plötzlich stutzten wir beide.

Da war ja noch etwas! Etwas, das Morten ziemlich viel anging …

«Ich muss dir noch was sagen», meinte Domenico etwas zögernd zu seinem Vater.

«Vielleicht setzt du dich besser hin», ergänzte ich.

«Ach ja?» Morten, der gerade aufgestanden war, um eine Flasche Mineralwasser zu holen, schaute uns verwirrt an.

Hendrik deutete auf Mortens leeren Stuhl. «Ich würde lieber gehorchen, Vater.»

Morten setzte sich langsam. Domenico stöberte in seinem Rucksack und zog seinen Geldbeutel heraus. Er klappte ihn auf und hielt ihn Morten hin, so dass ein kleines Foto sichtbar war.

«Da. Das ist dein Enkelsohn.»

«Was?»

«Er ist Mingos Sohn.»

Morten riss Domenico das Portemonnaie aus den Händen und schnappte nach Luft.

«Wie bitte?»

«Mein Bruder hat 'nen Sohn hinterlassen.»

Morten starrte Nicki fassungslos an. «Du willst mich doch jetzt nicht etwa mit achtunddreißig schon zum Großvater machen?»

«Doch …»

«Hejhej, und ich bin Onkel, ja?», sagte Hendrik ebenso verblüfft – er hatte ja bis jetzt auch noch nichts davon gewusst.

Morten schaute das Bild lange an. «Er hat meine Augen», stellte er nach einer Weile fest. «Wie heißt er denn?»

«Manuel Domingo. Seine Mutter ist Spanierin.»

«Manuel Domingo …» Morten ließ sich den Namen mehrmals auf der Zunge zergehen. «Mein erster Enkelsohn heißt also Manuel Domingo.»

Schließlich fragte er Domenico: «Sag mal, kann ich das Foto haben? Ich möchte mir eine Kopie machen davon.»

«Klar, wenn du willst …» Domenico zog das kleine Bild aus dem Geldbeutel und reichte es Morten.

Doch das war noch nicht alles gewesen, was es zu besprechen gab.

«Ich habe noch über einige wichtige Dinge nachgedacht, Domenico …», trug Morten sein Anliegen vor, während Nicki wieder mit nervösen Fingern an seiner Serviette herumzupfte.

«Ich kann zwar die Jahre, die geschehen sind, nicht rückgängig machen, und ich kann dir auch deinen Bruder nicht zurückbringen. Aber ich kann … also, wenn du möchtest, biete ich dir gern finanzielle Unterstützung an. Du weißt, ich habe eine große Karriere hinter mir, und ich habe dank guter Sponsoren und einiger Werbeverträge nicht schlecht Geld verdient. Ich bin nicht wahnsinnig reich, aber konnte mir doch immerhin ein bisschen was auf die Seite schaffen. Deine Freundin hat mir erzählt, dass du gerne eine Ausbildung im Gastgewerbe machen würdest. Ich würde mich gerne finanziell an deiner Ausbildung beteiligen, wenn du mir das erlaubst. Wenn ich dir schon deine Vergangenheit verbockt habe, will ich wenigstens, dass du etwas aus deiner Zukunft machen kannst.»

Domenico schaute Morten überwältigt an und wusste nicht so recht, was er sagen sollte.

«Und falls du … sonst noch einen besonderen Wunsch hast, dann … nun ja, ich würde ihn dir gern erfüllen, weißt du. Als Wiedergutmachung sozusagen. Unsinn, ich meine … eine Wiedergutmachung ist auf diese Weise nicht möglich, aber … vielleicht hilft es dir trotzdem was … also, mir persönlich würde es viel helfen, weißt du.»

«Ich weiß nicht», murmelte Domenico, der seine Serviette inzwischen in ihre Moleküle zerlegt hatte.

«Ich wüsste was», grinste Hendrik. Er beugte sich vor und flüsterte Morten etwas ins Ohr. Morten hörte zu und nickte dann. «Okay. Darüber kann man reden.»

Etwas später erkundigte sich Morten ganz sachte nach Maria.

«Kann ich … irgendetwas tun, um …?»

«Nein.» Nicki schob die Serviettenteilchen zu einem Haufen zusammen. «Nein … nein, ich …» Er schüttelte den Kopf. «Das ist 'ne andere Geschichte. Ich … möchte eigentlich lieber keinen Kontakt mehr mit ihr haben. Vorerst jedenfalls nicht …»

«Okay.» Morten ließ behutsam von dem Thema ab.

Hendrik schmunzelte «Sag mal, Bruder, was ist das egentlig? Serviettenpulver?»

«Oh.» Nicki grinste verlegen und schaufelte die Serviettenfetzen auf einen leeren Teller.

Da trat Solvej wieder hinzu und drückte Domenico verlegen einen kleinen, zusammengefalteten Zettel in die Hand.

«Da. Hab ich für dich gemacht.»

Schnell rannte sie wieder davon, ehe Nicki das Briefchen öffnen konnte.

Es war eine einfache, aber dennoch sorgfältig ausgearbeitete Strichzeichnung und zeigte die ganze Familie Janssen. Morten, Liv, Kjetil und Solvej, Hendrik – und Domenico. Oben in der Ecke war ein kleines, zerbrochenes Herz.

Domenico starrte das Bild lange an und suchte dann mit seinen Augen nach Solvej, aber sie war bereits wieder verschwunden. Er faltete das Blatt langsam wieder zusammen und steckte es sorgfältig in sein Portemonnaie. Dann hob er seinen Kopf. Kjetil stand immer noch am Fenster und schaute auf uns runter. Er hatte uns offenbar die ganze Zeit beobachtet.

Morten folgte seinem Blick.

«Mit Kjetil musst du vermutlich noch etwas Geduld haben», meinte er zu Domenico. «Er kann das nicht so leicht verdauen. Wahrscheinlich dauert es noch eine Weile, bis er sich mit dir anfreunden kann.»

Domenico nickte gedankenversunken.

Es war schließlich halb acht Uhr morgens, als wir reingingen. Nun hatten wir tatsächlich eine ganze Nacht draußen verbracht.

«Wird Zeit, noch ein wenig zu schlafen, was?», sagte Morten.

Wir waren alle dafür.

«Was machen wir mit denen da?», fragte Morten mit einem Blick auf die im Gras schnarchenden Jungs.

«Lass sie einfach pennen, Vater», winkte Hendrik ab. «Sie schaffen es sowieso nicht mehr rechtseitig sur Schule.»

Weil Kjetil schlussendlich doch noch irgendwann in seinem Zimmer eingepennt war und wir somit nur Solvejs Zimmer zur Verfügung hatten, quetschten Nicki und ich uns zu zweit auf das Bett, ohne uns überhaupt die Mühe zu machen, unsere Klamotten auszuziehen. Er lag hinter mir und hielt mich fest in seinen Armen, damit wir einigermaßen zusammen Platz hatten auf dem Bett.

Ich war zwar hundemüde, aber diese eine Sache musste trotzdem noch geklärt werden.

«Du, Nicki …», flüsterte ich. «Was denkst du nun? Glaubst du, dass wir …»

«Was glaubst du?», kam seine Frage zurück. «Du bist es, die die Entscheidung treffen muss. Ich kann's mir nur wünschen.»

Sein Atemhauch kitzelte meinen Nacken. Eine Weile versuchte ich, seinen Herzschlag zu spüren.

«Es ist unmöglich», stellte ich leise fest. «Aber ich wünsche es mir auch.»

«Dann werden wir einen Weg finden», flüsterte er zurück und küsste ganz vorsichtig meinen Hals.

Und dann, ganz leise, wisperte er etwas in mein Ohr.

«Ti amo più di qualsiasi cosa al mondo … Principessa mia … la tua soavità …»

Auch wenn ich nicht alle Worte verstand, wusste ich, dass sie aus seinem tiefsten Herzen kamen, wie immer, wenn er in seiner Muttersprache redete.

Ich wusste nicht, ob er später auch noch ein wenig schlief, aber er hielt mich jedenfalls die ganze Zeit fest.