Den ganzen Abend saß ich auf meinem Bett und dröhnte mich mit lauter Musik zu. Ich hatte extra meinen Discman mit den Kopfhörern laufen, damit die Musik möglichst heftig in meine Ohren hämmerte, in der Hoffnung, dass sie sich schmerzhafter anfühlte als meine Gedanken, falls das überhaupt möglich war.
Es konnte doch einfach nicht wahr sein! Warum machte er mich schon wieder zu einem heulenden Elend? Sogar die üblichen Diskussionen mit Paps waren weniger aufwühlend gewesen als das hier!
Aber ich wollte nicht heulen. Nein, nein und nochmals nein. Und ich wollte nicht nachdenken. Nein. Nein. Nein. Nicht grübeln. Nicht nachdenken. Kam nicht in Frage. Ich wollte es nicht wissen. Nein.
Ich drehte die Musik noch lauter auf, bis mir buchstäblich fast das Trommelfell platzte. Mein CD-Player funktionierte tatsächlich immer noch wie eine Eins. Mingo hatte damals ganze Arbeit geleistet.
Mingo … Domenico … Nicki … Nicki!
An meinem Handgelenk spürte ich sein Armbändchen, das er mir gemacht hatte. Sanft und zart streichelte es mein Handgelenk. Ich schaute es an und konnte einfach nicht verstehen, wie er so was Kunstvolles fertiggebracht hatte. Die Muscheln und die Perlen waren in einem Muster angeordnet, und ich konnte nur ahnen, mit wie viel Geduld und Fingerspitzengefühl er dieses Schmuckstück angefertigt hatte. Es war zu schön, um es ohne Schmerz anschauen zu können. Ich musste es schlussendlich abnehmen und in die Schublade stecken, wenn ich den Kampf gegen die Tränen gewinnen wollte.
Weil ich zu nichts anderem mehr fähig war, ging ich schließlich früh zu Bett. Doch das schien keine gute Idee zu sein, denn in der Stille und der Dunkelheit rückten die gefürchteten Bilder wie eine riesige Armee an. Ehe ich mich versah, lief das innere Kino auch schon vor meinen Augen ab. Domenico am Strand in Rimini, in seinen Armen eine dunkelhaarige Schönheit … oder auch eine blonde … oder sogar mehrere … und er küsste sie … er war umschwärmt von Mädchen, und er konnte nicht widerstehen … weil mein Vater ja sowieso gegen unsere Beziehung war und Nicki das genau wusste …
Ist alles ziemlich kompliziert … Ich erklär's dir später … Wir reden, wenn ich zurück bin …
Er hatte eine andere. Und er wollte es mir nicht sagen, weil er mich nicht verletzen wollte. Ganz einfach. Jede andere Erklärung, die ich erwog, musste ich wieder verwerfen, weil sie nicht annähernd genügend Argumente für sein distanziertes Verhalten lieferte. Es gab nur diese eine und einzige logische Begründung. Es war damals auf Sizilien so gewesen, und nun war es wieder dasselbe. Und warum sonst sollte er meine Kette nicht mehr tragen? Zudem war es ja nicht das erste Mal, dass er mir nicht die Wahrheit sagen wollte …
Tja, vielleicht war es tatsächlich so, wie Frau Galiani mir einst gesagt hatte: Niemand wusste, ob Domenico überhaupt in der Lage war, eine längerfristige Beziehung zu halten. Vielleicht war er eben doch schon so sehr abgestürzt innerlich, dass er gar keine stabilen Gefühle mehr zustande kriegte …
Auch Jenny war ja der Meinung …
Irgendwann brach der Morgen heran, und ich gab den Versuch auf, einschlafen zu wollen. Meine zahlreichen Vorsätze hatten nichts genützt; ich hatte wieder mal die ganze Nacht mein Gehirn mit Grübeln plattgewalzt. Es half alles nichts, ich musste mal wieder ohne Schlaf zur Schule.
Ich stand auf, ging ins Bad und duschte mich mit eiskaltem Wasser. Meine Augen sahen furchtbar aus. Ich schalt mich selbst, während ich in meine Klamotten schlüpfte und mir danach sorgfältig ein wenig Make-up auftrug, um die schlaflose Nacht zu verstecken.
Mensch, reiß dich zusammen! Du wirst doch jetzt nicht wieder durchdrehen wegen ihm. Wenn er wirklich eine andere hat und es dir nicht sagt, dann ist er es sowieso nicht wert, dass du auch nur noch einen Gedanken an ihn verschwendest, egal, was zwischen euch gewesen ist.
Aber ich wusste natürlich selber, dass sich unsere tiefe Freundschaft nicht einfach ausradieren ließ. Man konnte die ganzen Gefühle unmöglich so mir nichts, dir nichts wegschmeißen …
Ich prüfte das fertige Werk im Spiegel und beschloss, dass ich mich so unter die Leute wagen konnte. Irgendwie sah ich immer mehr aus wie Mama, je älter ich wurde – besonders um die Augenpartie.
Ja, Mama – sie war der einzige Hoffnungsstrahl in diesem ganzen Nicki-Chaos. Sie würde es nämlich ganz bestimmt schaffen, die Wahrheit aus ihm herauszulocken. Er würde meine Mutter nie im Leben anlügen, das wusste ich. In ihrer Gegenwart schrumpfte der große Tiger der Straße zu einem kleinen, liebesbedürftigen Kätzchen zusammen. Mama konnte Mauern in ihm durchbrechen, die ich nicht bezwingen konnte, weil sie als seine Ersatzmutter eine ganz andere Rolle in seinem Leben spielte als ich. Aber es dauerte ja noch über zwei Wochen, bis sie zurückkommen würde! Würde ich diese Ungewissheit so lange ertragen? Zumal Nicki an diesem Abend schon wieder abreisen würde …
Im Schulhof wartete meine neue Schulfreundin Ayse auf mich. Wobei der Begriff Freundin eigentlich fast schon zu viel war. Sie war sozusagen die einzige Person in der neuen Klasse, die mich einigermaßen verstand, doch es war nicht zu vergleichen mit den Freunden, die ich auf der Realschule gehabt hatte. Seit ich das weiterführende Gymnasium besuchte, hatte ich das Gefühl, von lauter Strebern umgeben zu sein. Mir fehlte meine Clique. Ich vermisste Ronnys einfältige Sprüche und Andrés brummige Bemerkungen. Und Delias hysterische Ausbrüche und Manuelas ewigen Liebeskummer. Aber am allermeisten fehlte mir Patriks Ruhe, die mich schon so oft vor dem Ausflippen bewahrt hatte.
In der neuen Klasse war alles anders. Jedes Wort wurde auf die Goldwaage gelegt, jedes Problem ernsthaft diskutiert, und überhaupt wurde aus jeder Kleinigkeit ein Riesendrama gemacht. Letztens war eine geschlagene Stunde lang darüber debattiert worden, wer nun wann die Mülleimer leeren sollte. Und am meisten liebte es Isabelle, sich bei solchen Diskussionen zu ereifern und die große Wortführerin zu spielen. Sie hatte sich nun zur totalen Streberin entwickelt und setzte alles daran, Klassenbeste zu sein. Sie kleidete sich wie eine richtige Geschäftsfrau mit straffer Bluse und streng nach hinten gekämmtem Haar. Meiner Meinung nach hätte sie besser auf ein Wirtschaftsgymnasium gepasst, doch sie hatte immer noch vor, Psychologie zu studieren.
Ich war also in der totalen Streberklasse gelandet und froh darüber, dass wenigstens Ayse noch da war und es manchmal fertigbekam, in der Stunde total abwesend aus dem Fenster zu starren und vor sich hin zu träumen, was ihr natürlich eine Menge Spott von den anderen einbrachte. Wir wurden von allen nur noch «Die zwei dreamin' chicks» genannt – selbstverständlich Isabelles Einfall.
Weil ich kaum Schlaf abgekriegt hatte in der Nacht, verbrachte ich die beiden Chemiestunden damit, meine Augen offen zu halten und nicht über Domenico nachzudenken, was sich natürlich als Fehlanzeige erwies. Ich stieß mein Becherglas mit der verdünnten Natronlauge um und verbrannte mir schmerzhaft die Finger am Bunsenbrenner, so dass ich den Rest der Stunde damit verbringen musste, den armen Finger, an dem sich nun eine Blase bildete, an die kühle Fensterscheibe zu drücken – sehr zur Erheiterung von Isabelle, die es nicht unterlassen konnte, einen dummen Kommentar abzugeben.
Ich war froh, dass wir hinterher eine Freistunde hatten. Weil Ayse zu einem Kurs musste, trieb ich mich allein auf dem Schulgelände herum (nachdem ich beim Hausmeister ein Pflaster für meinen Finger geholt hatte) und beschloss, dem alten Schulhof der Realschule einen Besuch abzustatten. Da das Gymnasium sich im hinteren Trakt der Schulanlage befand, musste ich außen herum gehen, um überhaupt in den Schulhof gelangen zu können – die beiden Schulhöfe waren durch das Hauptgebäude und die Turnhalle voneinander abgegrenzt.
Wehmütig schaute ich die alte Linde an, unter der wir früher immer gestanden hatten in der Pause. Ach, wie sehr ich das alles vermisste …
«Maya?»
Ich drehte mich um und hätte fast vor Freude aufgekreischt, als ich Frau Galiani hinter mir stehen sah. Eine Überraschung, die mir wie gerufen kam – ich hatte meine ehemalige Klassenlehrerin nun schon so lange nicht mehr gesehen!
«Das ist ja schön, dich hier zu treffen. Hast du keinen Unterricht?»
«Nein, ich habe eine Freistunde.»
«Ah ja? Ich auch. Möchtest du mit mir ins Lehrerzimmer kommen? Wir könnten ein wenig miteinander plaudern. Ich muss ausnahmsweise mal keine Arbeiten korrigieren.»
«Gern.» Das war das Beste, was mir jetzt passieren konnte. Ich wusste, dass Frau Galiani niemand anders so ohne weiteres zu einem Besuch ins Lehrerzimmer eingeladen hätte. Aber dank meiner Freundschaft zu einem gewissen Ex-Bandenführer war ich zum Liebling der strengsten Lehrerin der ganzen Schule geworden. Manchmal staunte ich selber, was für seltsam verwinkelte Pfade mein Leben genommen hatte.
«Möchtest du gern Kaffee und etwas Süßes?», fragte Frau Galiani etwas später im Lehrerzimmer und zeigte auf die Anrichte, auf der drei verlockend duftende Marmorkuchen lagen. Im Lehrerzimmer fand man ständig Frischgebackenes vor. Wahrscheinlich ernährten sich die Lehrer davon.
Obwohl die lastenden Gedanken über Domenico auf meinen Magen drückten und der schmerzende Finger noch ein Übriges tat, nickte ich höflich. Frau Galiani schnitt mir ein Stück ab und betätigte die Kaffeemaschine.
«Setz dich doch. Im Moment ist ja niemand da.»
Ich gehorchte, und Frau Galiani brachte ein Tablett mit Kuchen und Kaffee und nahm auf dem Stuhl gegenüber Platz.
«Na, erzähl mal ein bisschen. Wie geht es dir denn?»
«Nicht schlecht», sagte ich, obwohl das nicht unbedingt der Wahrheit entsprach. «Ich vermisse bloß meine alte Klasse.»
«Das kann ich mir vorstellen. Ich auch. Man gewöhnt sich nach vier Jahren eben doch sehr an seine Schüler. Die neue Klasse muss ich erst wieder zurechtstutzen. Ein ziemlich wilder Haufen.»
Ich lächelte wehmütig. Sie schaute mich besorgt an.
«Hast du denn dort keine Freunde?»
«Ich werde nicht so richtig warm mit den Leuten. Und Isabelle ist eklig», gestand ich geradeheraus. «Ich hätte mir echt gewünscht, sie wäre nicht zusammen mit mir in die Klasse gekommen.»
«Lass dir von ihr nichts gefallen», sagte Frau Galiani. «Sie ist ein Biest. Jetzt darf ich das ja endlich einmal sagen.»
«Fanden Sie das auch?»
«Auch Lehrer haben ihre Meinungen. Aber oft müssen wir sie für uns behalten.»
Das tröstete mich.
«Hänselt sie dich immer noch?»
«Es geht. Sie muss einfach immer einen blöden Spruch zu allem bringen, was ich mache», seufzte ich. «Angeblich will sie mir ja nur gute Ratschläge erteilen. Als ob mich ihre Meinung interessiert!»
«Tja, vielleicht ist sie ja im Grunde genommen neidisch auf dich?»
«Kaum. Sie behauptet ja dauernd, dass ich zu naiv und zu kindlich für mein Alter sei.» Es war unglaublich, wie persönlich ich mit meiner ehemaligen Lehrerin reden konnte. Aber Frau Galiani kannte mich ohnehin gut genug.
«Ach ja?» Sie kräuselte ihre Lippen zu einem schmalen Lächeln. «Weißt du, Mädchen in deinem Alter wollen oft so schnell wie möglich erwachsen sein. Sie werfen ihre Kindheit wie Ballast über Bord. Aber eigentlich ist es schade. Erwachsen ist man doch das ganze Leben lang noch. Warum sich dann so beeilen? Und nicht selten haben dann genau diese Leute später eine Midlife-Crisis und wollen die verpasste Kindheit nachholen. Mein Rat ist: Bleib dir selber treu und hör nicht zu viel auf solche Meinungen. Ganz ehrlich: Ich hatte immer Mühe mit Isabelle, aber das bleibt unter uns, ja?»
«Logo.» Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf meine Lippen legte.
«Und? Geht es mit deinen Eltern?» Frau Galiani wusste, dass meine Eltern zurzeit in einer ziemlichen Krise steckten.
«Tja … Mama ist seit ein paar Wochen weg in einem Kurheim in Schleswig, und mein Vater hat ziemlich viel Arbeit. Jetzt ist er grad für eine Woche auf einem Seminar.»
«Ach ja. Und du bist ganz allein zu Hause?»
«Ja … aber das ist nicht schlimm», beeilte ich mich zu erwidern. Frau Galiani sollte sich nicht unnötig Sorgen um mich machen.
«Hmm … hast du denn jemanden zum Reden in deiner Situation?»
Ich zuckte mit den Schultern. Bis jetzt hatte ich all das vorwiegend meinem Tagebuch anvertraut. Pfarrer Siebold war ja die letzten Monate wieder auf Reisen gewesen.
«Du weißt, du kannst jederzeit auch mit mir reden», sagte sie. «Ich habe ja nun so vieles von dir mitbekommen seit der Geschichte mit Domenico. Übrigens, wie geht es ihm eigentlich? Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört. Kommt er nicht Ende Mai aus der Therapie zurück?»
«Er ist schon seit Ende April da.» Ich hatte eigentlich nicht beabsichtigt, über Domenico zu reden, aber nun war es bereits draußen.
«Ach ja? Haben sie ihn etwa früher entlassen?»
«Er hat wieder mal ein bisschen viel Wirbel veranstaltet.» Ich erzählte ihr kurz die Geschichte, wie Domenico sie mir geschildert hatte. Ich war zu erschöpft von der langen Nacht, um meine Stimme genügend beherrschen zu können. Als ich fertig war mit der Erzählung, war mein Hals bereits wieder mit einem Klumpen verstopft.
Frau Galiani beugte sich ein wenig zu mir vor, um mir in die Augen zu sehen, die sich unweigerlich mit Tränen füllten – ein Phänomen, gegen das ich in den meisten Fällen immer noch machtlos war.
«Das hätte ich dir fast voraussagen können», meinte sie. «Domenico ist nun mal ein Typ, der extrem stark polarisiert, egal, wohin er kommt. Er löst bei seinen Mitmenschen immer eine Menge Diskrepanzen aus, entweder Bewunderung und Respekt, aber auch viel Neid und sehr selten Gleichgültigkeit. Wobei er ja in diesem Fall durchaus sehr mutig gehandelt hat. Also wird das wohl kaum der Grund sein, warum du weinst, oder?»
Ich gab es auf, ihr etwas vorspielen zu wollen. Sie schaffte es immer, mich zu durchschauen.
«Nein, es ist … ich bin mir nicht sicher, ob er nicht eine andere Freundin hat.»
«Ach ja? Und warum?»
«Wir haben uns gestern das erste Mal wiedergesehen, und er war merkwürdig … zurückhaltend, gleichgültig … ich meine, ich kenne ja seine Launen, aber wenn man sich ein halbes Jahr lang nicht gesehen hat, sollte man sich doch eigentlich freuen, wenn man wieder zusammen ist, oder nicht?»
«Durchaus», sagte sie und dachte nach. «Hast du ihn darauf angesprochen?»
«Natürlich.»
«Tja.» Auch sie schien eine Weile nach einer logischen Erklärung zu suchen. «Das wäre wirklich schade. Aber andererseits, wie soll ein Junge, der so viele gescheiterte Affären hinter sich hat, der immer wieder enttäuscht wurde, bis er selber keine Gefühle mehr zuließ, von heute auf morgen in der Lage sein, eine stabile Beziehung zu führen? Wenn ich bedenke, wie oft wir ihn zurechtweisen mussten, weil er im Flur ständig mit Mädchen rumgeknutscht hat, manchmal mit drei verschiedenen am Tag, dann fragt man sich ja schon, was er dabei mit seinen Gefühlen angestellt hat. Vielleicht ist er innerlich eben doch schon zu sehr abgestumpft, so dass er sich selber gar nicht wahrnimmt.»
«Meinen Sie wirklich?» Damit teilte sie mir genau das Ergebnis mit, zu dem ich in dieser Nacht gekommen war.
«Ich kann es dir nicht sagen, Maya. Ich kann dir nur immer wieder davon erzählen, was ich alles erlebt habe mit ihm, wie kaputt er schon als Kind gewesen war. Er musste ja eine Zeitlang zum Schulpsychologen, weil er mit neun Jahren schon ein richtiger Kettenraucher war. Er hat sehr viel wirres Zeug geredet. Zum Glück ist mein Mann Italiener und konnte sich deshalb mit den Zwillingen unterhalten. Sie wollten ja ständig abhauen und zurück nach Sizilien zu der Nonne gehen, die wie eine Mutter für sie war.»
Frau Galiani machte eine Pause, um einen Schluck Kaffee zu trinken. «Mein Mann und ich haben die Zwillinge dann oft auf der Straße gesucht und schließlich eine Weile bei uns aufgenommen, damit sie endlich zur Ruhe kommen konnten. Ich habe bis heute nicht verstanden, was die beiden Jungs schon in so frühen Jahren dermaßen zerbrochen hat. Vermutlich war es einfach der Mordversuch der Mutter, als sie die beiden Jungs als Babys ersticken wollte. Ich denke mal, es wird sehr, sehr schwierig sein, in Domenico je ganz gesunde und stabile Gefühle wiederherzustellen.»
Das waren nicht gerade erheiternde Aussichten.
«Maya, wenn es zu schwer für dich wird, dann musst du dich von ihm trennen. Das haben wir doch ausgemacht. Es geht nicht, dass du dich völlig aufreibst an ihm. Erwarte keine Wunder, nur weil er jetzt in der Therapie war. Solche Heilungsprozesse schreiten in der Regel sehr langsam voran. Du musst selber abwägen, was du dir zumuten kannst. Aber du bist so eine attraktive und sympathische junge Frau geworden, dass dir sicher noch eine Menge anderer Möglichkeiten offen stehen.» Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
«Vor allen Dingen: Lass dir von Domenico nicht alles gefallen. Gerade weil er keine vernünftige Erziehung hatte, hat er es besonders nötig, dass man ihm klare Grenzen setzt. Lass ihm gewisse Freiheiten, aber biete ihm ruhig Paroli. Weißt du, manchmal hab ich den Eindruck, dass Domenico ähnlich wie seine Mutter tickt: Er fantasiert sich seine Geschichten so zusammen, wie er sie am besten ertragen kann. Maria lügt sehr viel und merkt es selber nicht mehr. Mach Domenico ruhig klar, dass du das nicht akzeptierst.»
Ich wollte Frau Galiani schon von Domenicos bevorstehender Suche nach seinem Vater erzählen, als es zum Ende der Stunde klingelte.
«Die Zeit vergeht immer so schnell», lächelte sie. «Ach ja, nur noch eine Frage: Möchtest du deiner Mutter in Schleswig nicht einen Besuch abstatten?»
«Wie denn? Ich hab doch Schule.»
«Nun, das ist ja nur so ein Gedanke. Ich dachte einfach, du bräuchtest einen Tapetenwechsel. Du steckst nun schon ziemlich lange in dieser Depression, nicht wahr? Ein paar Tage Sonderurlaub würden dir gewiss nicht schaden. Zum Beispiel ist ja bald Himmelfahrt. Na, überleg es dir.»
Als ich wieder zurück Richtung Gymnasium ging, war mein inneres Dilemma natürlich nach wie vor nicht gelöst. Frau Galianis Art, mir immer wieder ein paar realistische Ansätze ins Hirn zu hämmern, unterschied sich so sehr von Pfarrer Siebolds Sichtweise, der irgendwie eine Dimension höher dachte als die meisten anderen Menschen. Wie schaffte man es bloß, diesen Glauben und die Realität in Einklang zu bringen, ohne dass sie einander widersprachen? Und was war überhaupt Realität? Das, woran man glaubte, oder das, was war? Und woran glaubte ich überhaupt im Moment?
Ich schaute zu den Erkerfenstern meines ehemaligen Schulhauses hoch.
Zu meiner Mutter nach Schleswig reisen … im Moment gab es ja echt nichts, was ich mir mehr gewünscht hätte. Sonderurlaub … hatte nicht Delia auch mal aus familiären Gründen Sonderurlaub genommen? Na ja, und wenn schon, Paps wäre sicherlich nicht begeistert, wenn ich …
Doch mit jedem Schritt, den ich weiterging, klammerte sich dieser hartnäckige Einfall ein Stück tiefer in meinem Kopf fest, und wie eine Kettenreaktion zog der eine Gedanke schon den nächsten mit sich.
Wie wäre es, wenn … Paps war ja diese Woche nicht da … rein theoretisch wäre es doch möglich … wir schrieben keine Arbeiten diese Woche … den Schulstoff konnte ich nachholen … und Frau Galiani selbst hatte mir vorgeschlagen, Urlaub zu nehmen … und Schleswig lag nicht viel weiter als Hamburg … könnte Paps von dort aus anrufen … und Mama könnte mit Nicki …
Ich musste ein paar Schritte lang aussetzen, als die fertige Idee wie ein vollendetes Puzzle vor meinem inneren Auge stand. Das war verrückt. Das war komplett verrückt!
Ich hatte vollkommen vergessen, dass es längst geklingelt hatte und ich eigentlich in Latein erwartet wurde. Ich stand da und schüttelte nur noch den Kopf über mich selber. Mein lieber Scholli, das war wirklich die abgefahrenste Idee aller Zeiten!
Ein Fahrrad kam vor mir mit quietschenden Bremsen zum Stillstand. Ein Junge mit blondem, kurzgeschnittenem Haar und einer Brille strahlte mich mit stahlblauen, jedoch leicht schwermütigen Augen an. «Hi Maya.»
«Oh, hi Leon.» Ich schaute ihm kurz in die Augen, hielt seinem musternden Blick jedoch nicht lange stand. Leons besorgte Art, mich mit seinen Augen von Kopf bis Fuß zu röntgen, um sich zu vergewissern, wie tief ich auf meinen Abwegen schon gesunken war, war nicht gerade angenehm. Er gehörte zu jener Sorte Menschen, die über meine Freundschaft mit Domenico das Schlimmste prophezeiten.
Doch Leon hatte mich geliebt, das wusste ich.
«Wie geht es dir?», fragte er freundlich. Er konnte trotz allem nicht ganz verbergen, dass er sich freute, mich zu sehen.
«Danke, gut. Selber?»
«Auch gut. Nicht viel Aufregendes. Eine Menge zu lernen halt.»
Seine Augen blieben fest auf mir ruhen. Die Frage stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben:
Wann kommt er zurück?
Ich senkte meinen Blick. Es tat immer noch weh, Leons Schmerz zu spüren. Frauke hatte mir mal erzählt, dass er sogar ein Tagebuch über mich geführt hatte. Zum Glück hatte er das mittlerweile weggeschmissen. Wenigstens war er immer ehrlich zu mir gewesen. Hastig sah ich auf die Uhr, um zu verhindern, dass die gefürchtete Frage tatsächlich ausgesprochen wurde, und sagte: «Ich muss los, Leon. Bis auf ein anderes Mal!»
«Ja, ich muss mich auch beeilen. Muss noch rasch eine Besorgung für den Botanikunterricht machen. Schöne Grüße von Frauke übrigens. Ruf sie doch mal an. Sie würde sich gerne wieder mit dir treffen. Sie redet oft von unserem Ausflug nach Hamburg.»
Ach ja, Hamburg, Leon, Frauke … das war schon so lange her. Doch Hamburg erinnerte mich wieder an meinen Einfall. Ich hatte noch einiges zu erledigen, falls daraus wirklich was werden sollte. Vor allen Dingen musste ich Nicki noch vor dem Abend finden. Aber jetzt war erst mal Latein angesagt …
Und schon rannte ich aus dem Schulhof, Leons durchdringende Augen in meinem Rücken.