6. In Mamas Garten

Trotz des trüben Wetters saß Mama im Garten in einem Liegestuhl und glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als ich auf sie zugestürmt kam.

«Das gibt's ja nicht! Maya! Was für eine unerwartete Überraschung!»

Ich fiel ihr um den Hals und fühlte mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig zu Hause. Einen Moment lang vergaß ich sogar Nicki. Erst als Mama sich wieder von mir losmachte und sich suchend umschaute, drehte auch ich meinen Kopf und sah Domenico, der etwas zurückgeblieben war und sich um das Gepäck kümmerte.

«Also, jetzt bin ich aber wirklich baff! Nicki! Komm her und lass dich auch umarmen!»

Er wandte sein Gesicht zu Mama um, doch seine Augen waren hinter seinen langen Haarsträhnen verborgen. Er ließ das Gepäck stehen und kam zögernd auf uns zu.

«He, nicht so schüchtern!» Mama streckte ihre Arme nach ihm aus. Er trat nur ganz vorsichtig an sie heran, aber da packte ihn meine Mutter einfach und zog ihn an sich. Er legte ganz kurz den Kopf auf ihre Schulter und schloss die Augen. Sein Gesicht sah einen winzig kleinen Augenblick so entspannt und friedlich aus, als wäre er auf einer wunderschönen Insel.

«Wie hübsch du geworden bist», stellte Mama fest, als er sich wieder aufrichtete. «Und so männlich.» Sie tätschelte ihm die Wange, und er wurde ein wenig rot. «Können die Mädchen überhaupt noch gerade stehen in deiner Nähe?»

Er grinste verlegen. Mama entdeckte das Gepäck.

«Habt ihr vor, hier Ferien zu machen? Wo ist Martin?»

«Ähm … bei einem Seminar in München. Das Ganze ist ein wenig kompliziert.» Mein Kopf wurde ganz heiß.

«Aha.» Mama musterte mich. Mir kam es echt vor, als hätte ich sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Irgendwie schien sie mir eigenartig verändert …

«Das scheint ja wieder eine spannende Geschichte zu sein.» In ihrer Stimme lag ein wenig Sarkasmus. «Da bin ich aber wirklich gespannt. Am besten setzen wir uns erst mal hin, und ihr erklärt mir alles schön der Reihe nach.» Sie wollte ein paar Gartenstühle zusammentragen, doch Domenico kam ihr zuvor.

«Lass mich das machen.»

Mama lächelte ihm zu, und er holte die Stühle.

Beim Teich gab es ein paar lauschige Plätzchen, wo wir ungestört sein konnten. Mama bestellte uns beim Personal etwas zu trinken, während ich mich ausgiebig umsah. Der Garten war ein richtiges Kunstwerk. Selbst bei diesem grauen Wetter leuchteten die Blumen in satten Farben. Kein Wunder, dass Mama sich diesen Platz für ihren Urlaub ausgesucht hatte. Sie liebte schöne Gärten viel mehr als Strand und Meer.

«Gibt's hier irgendwo 'nen Aschenbecher?», fragte Domenico zaghaft.

«Sicher. Dort hinten bei den Gartentischen steht bestimmt einer.»

Domenico stand auf und verschwand. Mama schaute ihm nachdenklich hinterher.

«Ich dachte, er würde erst Ende Mai zurückkehren?»

«Das soll er dir lieber selbst erklären», sagte ich.

Wir warteten, bis Domenico wieder mit dem Aschenbecher auftauchte. Mama wollte natürlich zuerst mal wissen, warum wir überhaupt hier waren.

Ich erklärte ihr zunächst vorsichtig, dass es momentan nicht einfach war mit Paps und dass ich dringend einen Tapetenwechsel gebraucht hatte.

«Und Martin weiß nichts davon?» Mama runzelte die Stirn.

«Nein», gestand ich kleinlaut.

Sie seufzte, als sie meiner stotternden Ausführung zuhörte, wie wir nach Kassel und dann weiter nach Schleswig gekommen waren.

«Wirklich super. Genau das, was ich in deinem Alter auch gemacht habe. Du schlägst zu sehr mir nach. Bravo.» Sie lehnte sich zurück und sah mich kopfschüttelnd an.

Ich senkte mein Gesicht, und Nicki drehte abwesend eine Zigarette zwischen seinen Fingern.

«Und du, Nicki? Wolltest du Maya begleiten?»

Er hob seinen Kopf. Etwas lag in seinem Blick, das mir wehtat.

«Nein. Ich geh meinen Vater suchen.»

«Ach ja, wirklich?» Mama vergaß völlig, mich weiterhin streng anzusehen. «Heißt das, du bist auf dem Weg nach Norwegen?»

«Ja …» Er riss aus Versehen die Kippe entzwei. «Mist …»

«Wow, das sind ja großartige Neuigkeiten, Nicki! Fährst du da ganz allein hin?»

«Wüsste nicht, wer mitkommen sollte.»

Ich horchte auf. Das war das Stichwort! Allerdings hatte ich keine Ahnung, ob Mama mir nun böse war oder nicht und ob es überhaupt klug war, diese Frage jetzt schon zu stellen oder erst mal die verdiente Portion Schelte über mich ergehen zu lassen.

Doch da sagte Mama: «Wolltet ihr denn nicht ursprünglich zusammen gehen?»

Das war ja einfacher, als ich gedacht hatte! Ich warf Nicki einen flehenden Blick zu. Doch aus irgendeinem Grund zeigte er nicht die erwartete Reaktion, die Mamas Anwesenheit normalerweise bei ihm auslöste. Im Gegenteil. Seine Augen waren undurchdringlich.

«Geht nicht. Ich hab nur bis Ende Mai Urlaub», sagte er und steckte sich die abgebrochene Zigarette zwischen die Lippen.

«Mama … ich hab schon darüber nachgedacht», schaltete ich mich schnell ein. «Ich könnte ja … ich meine … wir schreiben diese Woche keine Arbeiten mehr, und Paps ist sowieso nicht da, da könnte ich doch … eine Woche Sonderurlaub … Frau Galiani hat auch gesagt, ich soll …»

Zum Glück kannte Mama mich gut genug, um aus meinen stammelnden Satzfragmenten schlau zu werden. Ich ärgerte mich, dass ich es in solchen Fällen nicht auf die Reihe kriegte, wie eine erwachsene Person zu kommunizieren.

«So ist das also», sagte sie. «Mein Fräulein Tochter hat das wieder mal alles schon fein säuberlich eingefädelt.»

«Es … es ist mir erst auf der Reise eingefallen», stammelte ich mit hochrotem Kopf, und da schoss Domenico einen wütenden Blick auf mich ab. Stimmt, ich durfte ja nichts wegen den Antidepressiva sagen!

Mama seufzte. Offenbar wusste sie nicht, ob sie mit mir schimpfen sollte oder nicht. Sie kaute auf ihrer Unterlippe rum – ein Zeichen dafür, dass es in ihr heftig rumorte.

«So. Und wer bezahlt das?», kam schließlich ihr Argument.

«Ich natürlich», sagte ich kleinlaut. «Von meinen Ersparnissen auf dem Konto.»

«Und wie lange soll diese Suche dauern? Weißt du denn überhaupt, wo du deinen Vater findest, Nicki?»

«Ja, klar», meinte er und klaubte sein Feuerzeug aus der Tasche. «Schätze, Ende der Woche bin ich wieder zurück.»

«Na, ein wenig mehr Zeit musst du dir schon lassen, aber Maya könnte am Sonntag zurückfliegen», sagte sie.

Ich hielt die Luft an. Kam meine utopische Idee tatsächlich in den Bereich des Möglichen?

Mama wandte sich an mich: «Hast du ein Abwesenheitsformular von der Schule mitgenommen?»

Ich bejahte.

«Hmm, gut, ich könnte das unterschreiben und dann von hier aus deinem Lehrer schicken.»

Ich wäre fast vom Liegestuhl gepurzelt, und Nicki vergaß vor lauter Sprachlosigkeit, die Zigarette anzuzünden.

«Heißt das, ich darf mitgehen?»

Statt einer Antwort kramte Mama ihr Handy aus ihrem Handtäschchen und legte es vor mich hin.

«Ruf deinen Vater an, beichte ihm das Ganze und frag ihn um Erlaubnis. Er soll entscheiden.»

«Ich … ich soll Paps fragen?»

«Ja. Bist du davon ausgegangen, dass ich ihn für dich frage? Nein, Fräulein Tochter, das ist deine Idee, und du bist alt genug, um selbst zu argumentieren.»

Ich schluckte, als ich das Handy nahm. Ich suchte Domenicos Blick, hoffte darin auf eine stumme Ermutigung seinerseits, wenigstens auf ein klitzekleines Funkeln. Aber aus irgendeinem Grund hatte Nicki wieder beschlossen, sich unter einer Eisglocke zu verschanzen. Was sollte das jetzt wieder?

«Mach schon», sagte Mama.

Ich wählte Paps' Nummer mit zitternden Fingern, während ich versuchte, meine Hoffnungen wieder zu unterdrücken. Paps würde es sowieso nicht erlauben. Die Freude hatte nur kurz gewährt, denn eigentlich war es unnötig, sich überhaupt Hoffnungen zu machen. Nach dem dritten Summton klickte es am anderen Ende.

«Esther?» Natürlich, Paps sah Mamas Nummer auf dem Display!

«Ich bin's, Paps, Maya.»

«Maya? Was um alles in der Welt …»

«Ich bin in Schleswig bei Mama!»

«Wie bitte?»

Ich wiederholte meine Aussage.

«Warum denn das? Ist etwas passiert?»

Stotternd fing ich an, die Geschichte abermals zu erklären, den Blick die ganze Zeit auf Domenico gerichtet. Er hatte inzwischen die Beine angezogen und den Kopf auf seine Knie gelegt. Die Zigarette, die er unterdessen angezündet hatte, qualmte ungeraucht zwischen seinen Fingern vor sich hin.

Paps ließ mich zumindest ausreden. Und dann, als ich alles gesagt hatte, trat die erwartete Stille ein.

«Also, dir ist hoffentlich schon klar, dass ich das nicht einfach so dulden kann?»

«Ja», sagte ich und bereitete mich darauf vor, wieder nach Hause geschickt zu werden.

«Abgesehen davon weißt du ja, dass ich skeptischer denn je bin, was deine Beziehung mit Nicki angeht.»

«Ja, Paps, das weiß ich schon längst …»

«Lass mich bitte ausreden. Natürlich habe ich ihn gern. Das tut nichts zur Sache. Aber irgendwie galoppierst du mir in letzter Zeit zu rasch davon. Du wirst viel zu schnell erwachsen und selbständig, finde ich. Bedeutet dir denn eigentlich der Rat von deinen Eltern überhaupt nichts mehr?»

Ich spürte wieder den verletzten Stolz meines Vaters, der in den letzten Monaten ziemlich gelitten hatte.

«Ich muss ganz ehrlich sagen, ich bin entsetzt über dein Verhalten.»

«Ich weiß, Paps. Aber es … es ist mir wirklich wichtig.»

Just in dem Moment hob Domenico seinen Kopf wieder. Seine Augen stachen mitten durch mein Herz. Doch ich hatte keine Zeit, seinen Blick genauer zu erforschen, denn Mama streckte ihre Hand nach dem Telefon aus.

«Mama will dich sprechen», sagte ich erleichtert und atmete auf, als ich ihr das Handy wieder übergeben konnte. Mama stand auf und ging ein paar Schritte von uns weg, wo sie außer Hörweite war. Ich war mit Nicki allein.

«Sag mal, willst du überhaupt, dass ich mitkomme?», fragte ich eingeschnappt. Er hatte bis jetzt noch keine einzige positive Reaktion gezeigt.

«Warum fragst du das jetzt?»

«Weil du wieder einen auf supercool machst.»

«Komm, dein Vater erlaubt es sowieso nicht, also basta!» Er legte den Kopf wieder auf seine Knie und gab mir damit zu verstehen, dass das Gespräch für ihn beendet war. Super. Ich verkniff mir eine bissige Bemerkung und beobachtete Mama, die gerade ziemlich lebhaft diskutierte. Meine Hoffnung auf die Erlaubnis schwand mit jeder Sekunde mehr, und als Mama zurückkam, sah ich mich bereits im Zug nach Hause sitzen.

Zu meiner größten Verblüffung reichte Mama Nicki das Handy.

«Martin möchte dich sprechen.»

Domenico setzte sich wieder aufrecht hin und brauchte eine geraume Weile, um zu realisieren, dass er gemeint war, ehe er Mama das Telefon abnahm. Seine Augen zuckten, während er sich intensiv darauf konzentrierte, was Paps ihm zu sagen hatte.

«Ja, klar … sì … ich pass auf. Ja … eh già …» Sein Gesicht lief auf einmal rot an, irgendwas schien ihm ziemlich peinlich zu sein. «Ho capito tutto», murmelte er kleinlaut und reichte dann das Handy mir weiter.

«Paps?»

«Also, unter fünf Bedingungen, Maya: Erstens, du bist spätestens Montagabend wieder zurück. Ich reserviere dir einen Platz im Flieger. Auf den Preis kann ich leider keine Rücksicht nehmen. Nicki muss selber schauen, wie und wann er zurückkommt. Das ist seine Sache. Zweitens, du bezahlst die Reise selbst. Wie Nicki das Ganze finanziell regelt, ist sein Problem. Und drittens: Wir reden ausgiebig über eure weitere Freundschaft, wenn du zurück bist. Ich habe dazu schon noch ein paar Worte zu sagen. Viertens: Ich möchte, dass du mich jeden Abend anrufst und mir sagst, ob alles in Ordnung ist. Und fünftens: Du bist selber dafür verantwortlich, dass du den verpassten Schulstoff wieder aufholst.»

«Natürlich, Paps.» Ich realisierte erst, als ich aufgelegt hatte, dass Paps einen Riesenschritt getan und mir damit die Erlaubnis gegeben hatte. Verwundert gab ich Mama das Handy zurück und wusste immer noch nicht recht, wie mir eben geschehen war.

«Ich darf!»

Mama lächelte vielsagend. Wie hatte sie das bloß geschafft? Oder war daran auch noch das Gespräch mit Pfarrer Siebold schuld? Nickis Wangen waren immer noch gerötet. Was Paps ihm wohl gesagt hatte?

Da meldete sich das Handy schon wieder. Mama warf einen Blick darauf und reichte es mir. Es war nochmals Paps.

«Ja?»

«Ich habe vergessen zu sagen, dass ich nur getrennte Zimmer erlaube. Ich habe keine Lust, mich auch noch um eine unerwünschte Schwangerschaft zu kümmern. Nicki habe ich darüber schon in Kenntnis gesetzt.»

Ich wurde feuerrot und verstand nun, was Nicki so in Verlegenheit gebracht hatte. «Geht klar, Paps», brachte ich mit zusammengepressten Zähnen hervor. «Das ist sowieso absolut kein Thema im Moment.»

«Ich wollte es nur ausgesprochen haben. Und wie gesagt: Ich erwarte einmal pro Tag einen Anruf. Und gib mir sobald wie möglich die Adresse deines Hotels durch, damit ich dir die Reiseunterlagen faxen kann.» Ich hörte ganz deutlich den Kloß in seinem Hals.

«Tja», sagte Mama leise, als alles geklärt war. «Das Leben ist viel zu kurz. Man darf gewisse Träume nun mal nicht aufschieben.»

Seltsam, wieso sagte sie so was? Hatte das mit ihren eigenen verlorenen Träumen zu tun? Ich fand den Ausspruch geradezu unheimlich, fast genauso unheimlich und verwunderlich wie die Tatsache, dass ich die Erlaubnis so einfach gekriegt hatte. Mamas braune Augen ruhten fest auf mir, und mir war für ein paar Sekunden, als würde ich in mein eigenes Spiegelbild gucken.

Später gingen wir mit Mama in ihr Zimmer, um die Reiseverbindungen im Internet herauszusuchen. Das Zimmer war edel und geschmackvoll eingerichtet. Es war ganz in zarten Blütenfarben gehalten. Seidige Vorhänge in Grün- und Hellrottönen hingen an den Fenstern, kleine Korbsessel mit den dazu passenden Kissen standen um einen kleinen Couchtisch aus hellem Marmor. Das ganze Zimmer war mit Blumen ausgestattet. Vom Balkon aus konnte man direkt in den Garten sehen. Das Sanatorium hier war wirklich erste Sahne. Aber der Urlaub hier war auch alles andere als billig gewesen.

Wir setzten uns in die Sessel, während Mama ihren Laptop holte und startete.

«Wo wohnt dein Vater, Nicki?»

«In 'nem Kaff in der Nähe von Oslo.»

Sie tippte ein paar Daten ein, nahm ihr Handy und machte ein paar Anrufe, um sich nach Flügen nach Oslo zu erkundigen.

«Nichts zu machen, es gibt nur noch ein paar wenige Plätze, und die sind ziemlich teuer», meinte sie nach ein paar erfolglosen Anläufen. «Vielleicht reist ihr doch lieber mit dem Zug.»

Sie gab ein paar neue Angaben ein und sagte dann: «Am besten fahrt ihr morgen Früh hier los, dann seid ihr um Viertel vor zehn Uhr abends in Oslo. Ihr müsst allerdings etliche Male umsteigen. Und der Zug geht schon um zwanzig nach sechs Uhr los. Aber es ist die billigste Variante.»

«Also, ich kann den Zug eh nicht bezahlen», warf Domenico ein. «Ich fahr sowieso per Anhalter. Wegen mir müsst ihr keine komplizierte Geschichte machen.»

«Nein, Nicki, das kommt nicht in Frage», erwiderte Mama. «Ich bezahle dir notfalls die Reise.»

«Nee, auf keinen Fall.»

«Doch. Es ist nicht ungefährlich, per Anhalter zu fahren. Und du hast mir schon so viel im Haushalt geholfen. Du hast es dir verdient.»

Wieso war Mama nur so gut? Und womit hatte ich das verdient?

Sie suchte für uns auch noch ein kleines Hotel in Schleswig für die kommende Nacht und ein paar Jugendherbergen in Oslo, in denen es auch Einzelzimmer gab. Sie rief sogar dort an und erkundigte sich, wie es mit freien Zimmern stand. Sie druckte uns die Adressen samt einem kleinen Cityplan von Oslo auf ihrem kleinen Reisedrucker aus.

«Dann schlage ich vor, wir fahren jetzt gleich zum Bahnhof, besorgen eure Tickets und genehmigen uns nachher ein schönes Abendessen. Was meint ihr?»

Ich war einverstanden, und auch Domenico nickte, wenn auch immer noch mit verschlossener Miene.

Wir fuhren zum Bahnhof und ließen uns Tickets nach Oslo für den nächsten Tag ausstellen. Danach lud uns Mama zum Abendessen in ein gemütliches Restaurant ein. Domenico war allerdings die ganze Zeit ziemlich wortkarg und antwortete nur, wenn er gefragt wurde. Mama, die immer noch besser damit umgehen konnte als ich, ließ sich dadurch nicht beirren, sondern redete so mit ihm, als wenn überhaupt nichts wäre.

Nach dem Essen holten wir unser Gepäck, und Mama fuhr uns zum Hotel. Sie hatte sich letzten Winter ein eigenes Auto angeschafft, damit sie unabhängiger war, wie sie es nannte. Sie hatte mich auch für alle Fälle noch mit ein paar Arzneimitteln ausgestattet: Schmerztabletten, etwas gegen Übelkeit, Hustentee, Wundsalbe, Pflaster und Desinfektionsmittel.

«Falls er was braucht», hatte sie mit einem Seitenblick auf Nicki gesagt. «Man weiß ja nie bei ihm.»

Vor dem Hotel versorgte sie uns mit den letzten Instruktionen und gab mir eine ihrer Kreditkarten plus den Pincode. Sie schärfte mir ein, ihn ja gut und möglichst getrennt von der Karte aufzubewahren, und gab mir sogar noch etwas Bargeld mit. Ich musste ihr natürlich hoch und heilig versprechen, dass ich genau über meine Ausgaben Buch führen würde, damit ich ihr hinterher alles zurückzahlen konnte.

«Am Bahnhof in Oslo könnt ihr mit der Karte bestimmt norwegische Kronen beziehen», meinte sie. «Habt ihr nun alles, was ihr braucht?»

Wir nickten. Aus irgendeinem Grund fiel es mir ziemlich schwer, mich von Mama zu verabschieden. Als würde ich sie für lange Zeit nicht mehr sehen. So ein Unsinn, schalt ich mich. Ich würde doch jetzt nicht den Koller kriegen!

«Also, passt auf euch auf, ihr zwei!», sagte sie und umarmte erst mich, dann Nicki. «Und zieht euch warm an. In Norwegen ist es kälter als hier. Und dir wünsche ich ganz viel Glück, Nicki. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du in Norwegen etwas Gutes findest. Und ruft an, wenn ihr angekommen seid, ja? Oder sendet wenigstens eine SMS.»

Ich versprach es ihr.

Wir schauten Mamas Auto nach, bis es um die Ecke verschwunden war. Dann sah ich Domenico erwartungsvoll an und nickte Richtung Eingang. «Wollen wir?»

Doch er schüttelte den Kopf. «Nee, lass mal. Ich hab's mir überlegt. Ich bleib draußen.»

«Was?»

«Erstens hab ich kein Geld für so was, und zweitens kann ich sowieso nicht pennen ohne Medikamente. Also, was soll's.»

«Aber ich bezahle dir das Zimmer, Nicki.»

«Nein, ey, hör doch auf damit!» Sein Gesicht zuckte.

«Aber du kannst doch nicht schon wieder die ganze Nacht draußen bleiben!»

«Wieso nicht? Ich hab früher manchmal wochenlang draußen gepennt.»

«Aber es ist kühl hier.»

«Na und? Ich war sogar im Winter draußen. Wenn du magst, kannst du mir ja deinen Schlafsack leihen.»

«Sowieso, aber willst du das jetzt die ganze Reise durchziehen? Nicki, ehrlich …»

«Können wir das Thema jetzt lassen? Bitte! Nimm du dir ein Zimmer und lass den Rest meine Sorge sein, okay?»

Die Schärfe in seiner Stimme verhieß mir, dass es jetzt besser war, ihn nicht unnötig zu reizen. Wenn sein männliches Ego es nicht zulassen wollte, sich von mir helfen zu lassen, sollte er eben seinen Willen kriegen.

Er versprach mir, mich am nächsten Morgen pünktlich um Viertel vor sechs Uhr hier vor dem Hotel abzuholen.

«Warte mal», meinte er und löste eines seiner Lederbändchen, das nicht im Geflecht verwoben war, von seinem Handgelenk. «Bind das da um die Türfalle. Dann weiß ich, in welchem Zimmer du bist», wies er mich knapp an.

Ich schaute ihm kopfschüttelnd nach, wie er davonging, mit Backpack und Schlafsack.

Der Tiger der Straße. Der so dringend ein warmes Nest brauchte …

Trotzdem. Ich nahm mir grimmig vor, dass ich mein Ticket annullieren lassen und wieder nach Hause fahren würde, sollte er morgen immer noch so drauf sein.