7. Weiter nordwärts

Als ich am nächsten Morgen um fünf Uhr von meinem Handy geweckt wurde und den Regen runterprasseln hörte, war mein erster Gedanke natürlich, dass Nicki keinen Schirm dabeihatte und klatschnass vor dem Hotel warten würde. Und sich womöglich erkälten könnte.

Als ich dabei war, mich in meine Kleider zu stürzen, klopfte es an meine Tür.

«Hi Maya, ich bin's. Kann ich kurz reinkommen?»

Ich schlüpfte schnell in meine Jeans und öffnete ihm. Er stolperte in mein Zimmer, und wie erwartet trieften seine Klamotten vor Nässe.

«Kann ich mich kurz hier umziehen?», keuchte er.

«Klar», sagte ich und überließ ihm das Bad, während ich mich draußen vor dem Spiegelschrank fertig stylte.

«Was hast du eigentlich die ganze Nacht getrieben?», wollte ich wissen, als er rauskam.

«Nicht viel. Hab mir die Stadt angeschaut und so. Aber auf einmal hat das wie verrückt angefangen zu regnen.»

Später am Bahnhof organisierten wir uns Kaffee und Schokobrötchen und suchten dann das richtige Gleis. Wir setzten uns auf unsere Gepäckstücke und warteten auf den Zug. Ich hätte mich gern über irgendwas unterhalten, doch Nickis Signale gingen eindeutig Richtung Schweigen und Rauchen. Trotzdem hatte ich natürlich keine Lust, wieder nach Hause zu fahren, obwohl ich mir das am Vorabend vorgenommen hatte. Im Gegenteil, allmählich bekam ich den Kopf frei, um mich ausgiebig mit dem auseinanderzusetzen, was vor uns lag: Morten Janssen. Domenicos Vater.

Der Zug fuhr ein. Wir fanden zum Glück ein freies Abteil. Domenico hievte unser Gepäck auf die Ablage. Ich setzte mich ans Fenster und hielt ihm den Platz gegenüber von mir frei, doch er wollte neben mir sitzen. Als der Zug losfuhr, wurde mir schnell klar, warum: Er wollte meine Schulter zum Anlehnen und Schlafen benützen. Ich rückte mich in eine günstige Position, damit er bequem liegen konnte. Lange konnte er allerdings nicht schlummern, denn wir waren ja schon fast an der dänischen Grenze, und in Padborg mussten wir bereits wieder umsteigen. Die dänischen Grenzwächter verlangten zudem unsere Ausweise. Obwohl Domenico ziemlich schläfrig war, schaffte er es, sein Passbild wieder einmal mehr vor mir zu verbergen. Ich verstand bis zu diesem Tag nicht, was er so schlimm daran fand, fotografiert zu werden.

Von Padborg bis Kolding dauerte es ungefähr eine weitere Stunde, und es regnete immer noch. Nicki setzte seinen Schlaf an meiner Schulter weiter fort. Aus irgendeinem Grund spürte ich auf einmal, dass er fror, obwohl er seinen Kapuzenpullover trug. Ich berührte sachte seine Hand, und sie war ganz kalt. Seltsam. Da ich den schwarzen Schal in meinen Koffer gesteckt hatte, nahm ich meinen eigenen vom Kleiderhaken und breitete ihn wie eine Decke über Nickis Schultern aus.

Ich verbrachte die Fahrt fast ausschließlich damit, aus dem Fenster zu starren und Windmühlen zu zählen, was sich bald als ziemlich unsinniger Zeitvertreib herausstellte. Der Regen schien sich in regelmäßigem Geplätscher auch über Dänemark zu ergießen. Wir waren bis jetzt etwa drei, vier Mal bis zur dänischen Grenze gereist, wenn ich bei meinen Cousinen Melanie und Katja in den Ferien gewesen war. Aber weiter nördlich als bis dorthin war ich noch nie gekommen, und ich war gespannt, wie es in Norwegen sein würde.

Von Kolding bis Kopenhagen hatten wir dann eine etwas längere Fahrstrecke am Stück, doch nun wollte Domenico auf einmal nicht mehr schlafen. Dazu fand er offenbar die lange Brücke, die die beiden dänischen Inseln miteinander verband, viel zu aufregend. Es war das erste Mal, dass er während der Fahrt aus dem Fenster starrte.

«Wie das wohl dort ist?», fragte er auf einmal. «Ich hab keine Ahnung, wie es dort aussieht.»

«In Norwegen? Na ja, außer vom Erdkundeunterricht weiß ich auch nicht so viel drüber», sagte ich. «Wir haben in der Schule mal die Wikinger durchgenommen.»

«Stimmt, die hatten wir auch mal. Ich kann mich sogar noch dran erinnern. Eine der wenigen Stunden, die ich mal nicht verpennt hab.» Er grinste verlegen.

«Ich weiß nur, dass es in Norwegen sehr viele Wälder und Seen und Fjorde gibt. Und dass fast alle Häuser aus Holz gebaut sind.»

«Was ist ein Fjord?» Er sah mich an.

«Sag bloß, das weißt du nicht?»

«Ich hab davon gehört, aber ich weiß nicht, was es ist.» Er funkelte mich zornig an. «Mensch, ich weiß ja, dass ich in Sachen Bildung 'n absoluter Volldepp bin, also hör endlich auf, dich darüber zu wundern.»

«Nicki …» Ich berührte seine Finger, die ein wenig zuckten, während ich überlegte, wie ich es ihm erklären sollte. «Tut mir leid. Also, ein Fjord ist so eine Art Meeresarm, der bis ins Landesinnere reicht.»

Er wandte sich wieder dem Fenster zu und schwieg. Zwischen Himmel und Meer war die Grenze kaum sichtbar. Beide hatten beinahe dieselbe Farbe, hellgrau und dunkelgrau.

«Dann ist es bestimmt schön dort, was?», meinte er leise.

«Ich denke schon. Du, sag mal, wie hast du eigentlich rausgefunden, wo dein Vater wohnt?» Ich hatte ihn schon mehrmals danach fragen wollen, aber Nicki hatte ja bis jetzt meistens Schweigesignale ausgesandt.

«Ein Typ hat's für mich im Internet rausgefunden.»

«Was für ein Typ? Kenn ich ihn?»

«Nee. War so 'n Computerfreak in Italien. Der kann so was. Der findet alles raus.»

«Und wie heißt der Ort, in dem dein Vater wohnt?»

«Nittedal.»

«Und das ist in der Nähe von Oslo?»

«Mhmm. Er hat mir 'ne Karte ausgedruckt.»

Endlich fuhren wir in Kopenhagen ein. Dieses Mal hatten wir ein wenig länger Aufenthalt, fast zwei Stunden. Obwohl es erst elf war, erinnerten uns unsere Mägen ziemlich aufdringlich daran, dass es gegen Mittag ging. Aber das Frühstück war ja auch schon ein paar Stunden her. Also schauten wir uns erst mal in der Bahnhofshalle nach etwas Essbarem um und erstanden ein Smørrebrød in Ultragröße, das wir uns teilten. Ich bemerkte, dass Domenico immer wieder zu der roten Flagge mit dem Nichtraucherzeichen sah, die von der Kuppeldecke hing.

«Sollen wir einen Ort suchen, wo du rauchen kannst?», fragte ich.

Er schwieg und zählte irgendwas an seinen Fingern ab. Wir ergatterten erst mal eine freie Bank und vertilgten das Smørrebrød.

«Weißt du, was?», meinte Domenico auf einmal in ganz verändertem Tonfall. «Ich finde, deine Mutter war anders als sonst.»

«Meinst du?»

«Ja. Irgendwie schon. Ich weiß nicht, aber …» Er zögerte und wollte schon wieder eine Pause einlegen, doch ich krallte mich an seinem Arm fest.

«Bitte sag's mir.»

Er schüttelte den Kopf. «Schwer zu sagen. Ich hab das Gefühl, sie verbirgt was.»

«Mach mir bloß keine Angst.»

«Ich mein das im Ernst.»

Ich fing auf einmal an zu zittern. «Ich … ich nehme mal an, es ist wegen ihrer Vergangenheit. Es ist so vieles in ihr aufgebrochen. Träume, die brachgelegen haben. Dinge, die sie sich nie erfüllen konnte …»

«Ja, wahrscheinlich.» Er löste meine festgekrallten Finger sanft von seinem Arm und nahm sie in seine Hand, als eine Gruppe Punks direkt auf uns zusteuerte und Domenico um Zigaretten anhaute. Sie waren von oben bis unten mit Ketten und Nieten behangen – ähnlich wie Mingo es immer gewesen war. Einer hatte sogar Nieten an seiner Lederjacke. Domenico gab ihnen zwei Kippen und sah ihnen lange hinterher.

«So 'ne ähnliche Jacke hatte Mingo auch mal», stellte er leise fest. «Aber er hat sie für Eitsch verkauft.»

Um uns die restliche Zeit zu vertreiben, setzten wir uns in ein Café. Meine inzwischen etwas aufgetauten Gefühle stürzten wieder in sich zusammen, als ein paar blonde Däninnen in sehr knappen Miniröcken und hohen Stiefeln im Vorbeigehen Domenico Kusshändchen zuwarfen. Er nutzte die Situation prompt aus und winkte sie heran, um sie in seinem katastrophalen Italo-Englisch um weitere Glimmstängel anzuschnorren.

Wenn ich etwas hasste, dann war es das!

«Musste das sein?», blaffte ich ihn an, als er sich wieder zu mir umgedreht hatte.

«Was?»

«Na, frag doch nicht so blöd, Nicki. Dass du diese … diese Tussis da wegen deinen ewigen Fluppen anhauen musstest. Du weißt genau, dass ich das nicht mag! Kannst du nicht endlich damit aufhören?»

«Sonst noch was?», fuhr er mich hitzig an. Ja, Tiger-X hasste es, wenn man ihm Vorschriften machte, das war mir schon klar!

«Mann, Nicki, du hast mir versprochen …»

«Maya, jetzt komm mal runter. Hör mal auf mit deiner blöden Eifersucht. Das nervt mich voll an, ey!» Seine Augen flackerten gefährlich.

Ich starrte ihn geschockt an.

«Ich mein, ich kann nicht einfach mit dem Finger schnipsen, und alle meine Probleme lösen sich in Luft auf», knurrte er böse. «Solltest du endlich mal checken.»

Ich holte tief Luft. Fing das jetzt wieder an? Die ganzen Streitereien, so wie sie vor der Therapie immer abgelaufen waren?

Er schloss die Augen. Sein Gesicht zuckte, wie meistens, wenn er kurz vor einem Wutausbruch war. Er sagte eine Weile lang überhaupt nichts, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Dann erst öffnete er die Augen wieder und sah mich an. Das zornige Flackern war verschwunden.

«Sieh mal, ich muss auch schauen, wie ich mit der Kohle durchkomme, verstehst du?» Er bemühte sich extra um einen besonders sanften und leisen Tonfall. «Ich hab gerade mal hundert Euro dabei. Das reicht knapp fürs Essen, mehr nicht.»

«Hundert Euro? Aber damit kommst du ja kaum eine Woche durch.» Auch ich bemühte mich, wieder ruhig zu werden.

«Ich weiß.» Er zuckte mit den Schultern.

Ich biss mir auf die Lippen und dachte nach.

«Hör zu: Wenn du was brauchst, dann sag's mir, okay? Ehrlich, ich kaufe dir lieber deine Zigaretten, als dass du ständig Frauen deswegen anmachst», kam ich kurz darauf zu meinem Ergebnis.

Er verzog sein Gesicht. «Ich hasse es, dich um Geld anzubetteln. Weißt du doch.»

«Du kannst es mir doch zu Hause wieder zurückzahlen.»

Er schwieg. Ich wartete auf eine Antwort, doch sie kam nicht.

«Weißt du, was? Ich glaube, wir sollten langsam auf den Zug», sagte er stattdessen leise. «Und ich muss noch eine rauchen vorher.»

Etwas später fuhren wir wieder mit Sack und Pack die Rolltreppe zu den Gleisen runter. Der Zug stand schon bereit. Ich ließ Domenico diesmal am Fenster sitzen, und als ich während der Weiterfahrt merkte, dass er nicht vorhatte zu schlafen, lehnte ich mich an ihn. In mir wühlte immer noch der Schmerz wegen des kurzen Streits vorhin. Als wir über die Brücke nach Schweden fuhren, legte Nicki seine Hand in meine. Sie war kalt und feucht und zitterte. Unwillkürlich drückte ich sie. Warum taten wir einander nur immer so weh?

In Malmö machte der Zug eine längere Pause, und Domenico ging kurz hinaus auf den Bahnsteig, um zu rauchen. Mittlerweile hatte es endlich aufgehört zu regnen.

Ich wusste, dass ich genau eine Zigarettenlänge Zeit hatte, um etwas ganz Bestimmtes herauszufinden, und dass ich diese Entscheidung rasch fällen musste. Blitzschnell zog ich seinen Rucksack unter dem Sitz hervor. Er war offen, und ich brauchte nur darin zu wühlen. Unter seinen Klamotten und dem ganzen Ramsch wie Deo, Duschmittel, Zahnbürste, Haargel, Rasierzeug und verschiedenen Umschlägen zog ich seinen Block hervor und klappte das Deckblatt auf.

Es war nur eine einzige Zeichnung darin, und zwar das perfekte Abbild von mir, wie ich auf dem Autoverladewagen schlief, mit einem einfachen Bleistift skizziert und einer absolut gekonnten Schattierung versehen. Ich konnte es einfach nicht glauben. Nicht nur, dass er auf dem besten Weg war, ein absoluter Profi zu werden – nein, er war auch auf dem Weg, mein havariertes Herz endgültig in zwei Stücke zu zerreißen.

Ich warf einen hastigen Blick aus dem Fenster und sah ihn einsam mit seiner Zigarette draußen stehen.

Schnell schob ich das Deckblatt wieder vor das Bild und steckte den Block in den Rucksack zurück. Als ich ihn tief unter die Klamotten schob, berührte meine Hand etwas mir Bekanntes. Meine Finger schlossen sich darum, und ich fühlte den zerschlissenen Lederumschlag und die mit Tesafilm geklebten Seiten. War das möglich? Hatte er tatsächlich die Bibel dabei, die ich ihm vor langer Zeit geschenkt hatte?

Mein Herz geriet ins Stocken, und ich vergaß die Zeit.

Ich hielt einfach den Lederumschlag fest, um mich an irgendwas zu klammern.

«Was machst du da?»

Wie vom Donner gerührt öffnete ich die Augen wieder. Domenico setzte sich und nahm mir den Rucksack behutsam, aber bestimmt aus der Hand.

«Ähm …»

Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern verstaute den Rucksack wieder dort, wo er ihn haben wollte, streckte sich lang auf dem Sitz aus und legte den Kopf in meinen Schoß. Die nächste Strecke verbrachte er wieder mit Dösen.

Während wir weiter durch Schweden fuhren, starrte ich die ganze Zeit aus dem Fenster, wo sich die Wolken langsam lichteten und der erste blaue Streifen am Horizont sichtbar wurde. Mein Herz schaffte es nicht mehr, in normalem Rhythmus zu schlagen. Mein ganzer Körper bebte von Kopf bis Fuß. Dieses Hin und Her würde ich nicht mehr ewig aushalten.

Als wir in Göteborg zum letzten Mal umsteigen mussten, war die Sonne endlich wieder da.

Die platte Landschaft verwandelte sich allmählich in Hügel und Seen. Das Wetter wurde mit jedem Kilometer, den wir uns der norwegischen Grenze näherten, schöner. Die bunten Häuser leuchteten in der Abendsonne.

Ein neues Land erwartete uns.