Das Mädchen mit den Augen in allen Brauntönen von Baumrinde und den stets windverwehten, dunkelblonden Haaren, die sich zur Verzweiflung ihrer Mutter keiner Frisur beugten, hatte den jungen Mann schon öfter gesehen. Er lief neuerdings so häufig am Weststrand entlang wie sie selbst oft frühmorgens oder abends in der Dämmerung. Er störte sie. Er machte ihr ihren Lieblingsort streitig. Das konnte er nicht wissen, gab sie zu, denn sie versteckte sich jedes Mal, wenn die Gefahr bestand, dass er sie sah.
Sie versteckte sich nicht nur vor ihm, sondern vor allen Menschen. Vor den Strafpredigten ihrer Eltern. Vor den missbilligenden oder mitleidigen Blicken, die besagten, dass die Kleine des Kaufmanns Mühlbrock leider nicht ganz richtig im Kopf sei oder einfach nur schlecht erzogen.
Dass sie anders war, wusste sie selbst, aber sie verstand nicht, warum das so schlimm war, dass sie ständig ein schlechtes Gewissen haben sollte. Die Seevögel waren doch auch so verschieden, und niemand regte sich darüber auf. Ein Sandregenpfeifer sah anders aus als ein Schwan, eine Möwe war keine Ente, und ein Kormoran hatte nichts mit einer Bekassine gemeinsam. Trotzdem stocherten sie alle zusammen in denselben Fluttümpeln nach Krabben, und es störte keinen.
Und dann stand der Mann auf einmal vor ihr. Hella hatte nicht aufgepasst. Sie hatte sich an einen Baum gelehnt, mit den Armen den Stamm umfangen, ihre Wange an seine raue Borke gelegt und oben den sanftgrauen Himmel durch seine Zweige leuchten sehen.
»Du verstehst mich, Baum!«, hatte sie laut gesagt. In seiner Gesellschaft fühlte sie sich wohl. Sie spürte eine Kraft in ihm, die sie beruhigte. Er war in keinem Sturm umgefallen. Er half ihr auf geheimnisvolle Art, die Stürme auszuhalten, die in ihr selbst tobten. Wenn sie im Klassenzimmer saß, die Hände vorschriftsmäßig auf dem Tisch gefaltet, die Haare in einen festen Zopf gezwungen, die engen Strumpfhosen kratzig auf ihrer Haut, dann dachte sie daran, dass ein Baum auch auf seinem Platz stand und nicht fortkonnte. Er stand und wuchs trotzdem zum Himmel, jedes Jahr ein Stück weiter. Seine Rinde wurde dicker, er hielt alles aus und wurde dennoch mehr und mehr er selbst. Mit jedem Frühling bekam er eine ausgeprägtere Gestalt, sein Blätterkleid schien mit jedem Jahr dichter. Seine Wurzeln breiteten sich in der Erde aus, tiefer, weiter, er fand immer mehr Halt. Dieses Wurzelwerk war unsichtbar, obwohl so breit wie seine Krone. Das wollte Hella auch, eines Tages, eine solche stille Stärke besitzen!
Sie berührte die Bäume so gern, weil sie dann spürte, wie etwas von dieser Kraft in sie überging. Diese tröstliche Wirkung verflog zwar bald wieder, aber für eine kleine Weile konnte sie es genießen. Außerdem waren die Bäume unfehlbar für sie da, immer. Hella konnte sich auf diese Freunde verlassen wie auf keinen Menschen. Wenn sie mit einem Baum sprach, sei es mit oder ohne Worte, dann nahm sie nichts anderes um sich herum wahr.
Darum hatte sie den Mann nicht gesehen, bis er aus dem Schatten heraustrat.
»Das ist eine Kiefer. Wenn du mit Bäumen sprichst, nenne sie ruhig beim Namen«, sagte er. »Hallo, ich bin Joram, und wer bist du?«
Sie schwieg erschrocken. Er wartete. »Hella«, sagte sie schließlich leise und stand angespannt, bereit zur Flucht. Aber dann blieb sie doch.
Er hatte es gesagt, als wäre das normal, mit Bäumen zu sprechen! Nichts Verächtliches war in seinem Tonfall gewesen, im Gegenteil. Es schien unglaublich, aber er machte sich nicht über sie lustig. Der Mann betrachtete sie mit tiefem Ernst.
»Wie alt bist du?«, fragte er.
»Zwölf«, flüsterte sie fast. Sie wusste, dass man nicht allein mit Unbekannten sprechen sollte, schon gar nicht mit fremden Männern. Doch dieser schien ihr gar nicht fremd. Nicht nur weil sie ihn schon so oft aus der Ferne gesehen hatte und er so wirkte, als gehöre er zu der Landschaft wie die Steine und die Möwen. Da war etwas zwischen ihnen. Etwas Wortloses, das sie und ihn verband. Vorher hatte sie das nicht gewusst.
Er sah sie an. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich hatte einen kleinen Bruder, der war ungefähr so alt wie du.«
»Wo ist er jetzt?«, fragte sie leise. Dieser Joram sah so traurig aus.
»Er ist gestorben. Er hatte eine schlimme Krankheit. Darum weiß ich, dass es etwas Wunderbares ist, wenn man leben darf.«
»Wirklich?« Manchmal war sie sich nicht sicher.
»O ja. Jeder Tag ist etwas Besonderes. Findest du nicht?«
Sie nickte. »Wenn ich hier bin, dann ja. In der Schule nicht.«
Er lächelte. »Du magst es hier im Wald?«
Sie nickte. »Ich mag Bäume. Sie lachen mich nie aus.«
»Machen das die anderen Kinder in der Schule?«
»Ja, und die Lehrer auch manchmal.«
»Und zu Hause?«, fragte er.
»Meine große Schwester, die Ursel, die mag nur Autos und Dampfmaschinen und so. Und mein Papa ist Kaufmann. Er sagt, Zeit im Wald ist nutzlos, da sind keine Kunden.«
Jetzt lachte er. »So kann man es auch sehen.«
Hella wünschte, sie hätte einen großen Bruder, einen wie ihn, der mit ihr sprach, als wäre sie nicht nur ein merkwürdiges Kind, das lieber Gemüse aß als Schokolade, lieber Stille hörte als Musik und lieber allein war, als auf eine Geburtstagsfeier zu gehen. Und die mit Bäumen befreundet war.
Er sah sich kurz um, dann bückte er sich und pflückte etwas vom Boden, ging ein paar Schritte in den Wald und winkte ihr zu folgen. »Ich zeig dir was. Im Wald gibt es auch Kunden. Ein Kunde ist jemand, der bei deinem Vater etwas bekommt und ihm dafür etwas zurückgibt, nämlich Geld, richtig? Es geht also um einen Handel. Geben und nehmen.«
»Ja …?« Sie wusste nicht, worauf er hinauswollte, aber er machte sie neugierig.
Er zeigte auf einen Hügel unter einem Baum. Dort wimmelte es vor Ameisen. So einen großen Ameisenhaufen hatte Hella noch nie gesehen. »Jetzt pass auf.« Er legte die kleinen braunen Stängel mit den vertrockneten Blüten, die er aufgehoben hatte, auf den Haufen. Sofort eilten die Ameisen herbei, betasteten die Stängel und begannen, etwas fortzutragen. »Das sind die Samen vom Lerchensporn, einer wunderbaren Blume, die im Frühling violett und weiß und rosa blüht, sicher hast du sie schon gesehen. Daran hängt etwas Süßes, damit die Ameisen die Samen mögen. Wenn sie sie finden, tragen sie die in ihren Bau und fressen das Süße, und dann bringen sie die Samen wieder hinaus, um Platz zu haben. Wo sie die Samen hinlegen, kann dann eine neue Pflanze wachsen. So sorgen die Pflanzen dafür, dass die Ameisen etwas Leckeres zu essen haben, und im Gegenzug sorgen die Ameisen dafür, dass die Pflanzen an immer neuen Plätzen wachsen und sich ausbreiten können. Ein guter Handel, findest du nicht?«
»Ja. Das ist richtig schön.« Ihr Vater würde das trotzdem nicht verstehen. Aber Hella fand es spannend. Sie hätte Joram ewig zuhören können. Hier gab es endlich etwas zu lernen, das sie interessierte.
»Die Bäume sind auch Kunden der Ameisen«, fuhr er fort. »Die Ameisen fressen zum Beispiel die Borkenkäfer, die den Bäumen oft schwer zu schaffen machen. Außerdem sind die Ameisen noch wichtiges Futter für die Vögel. Kannst du dir einen Wald ohne Vögel vorstellen?«
Hella schüttelte den Kopf. Das konnte sie nicht. Sie war jeden Morgen froh, wenn vor ihrem Fenster die Amsel sang oder eine Meise, denn es war für sie ein Klang von dieser anderen, besseren Welt dort draußen, fern von Schule und Lärm, von den endlosen Diskussionen über den verlorenen Krieg, Ost und West und schwierige Zeiten, in denen Bäume nur als Feuerholz gesehen wurden, um Not zu lindern.
Den Vögeln war das alles egal. Sie begrüßten einfach nur den neuen Morgen, und so hätte Hella auch gern gelebt – den Morgen besingen und dann fortfliegen in einen Baumwipfel und von dort auf die Welt schauen. Niemand würde wissen, dass sie dort war. »Ich wäre gern ein kleiner Vogel«, sagte sie sehnsüchtig.
»Soll ich dir einen Baum zeigen, auf den man gut klettern kann?«, fragte er. »Wenn man da oben ist, kann man sich sehr gut vorstellen, ein Vogel zu sein. Oder ein Eichhörnchen.«
Hella starrte ihn an. Er war wirklich sehr anders.
»Du meinst, ich könnte auf einen Baum klettern?«
Jetzt war er verblüfft. »Willst du sagen, du hast das noch nie gemacht?«
Sie blickte zu Boden. »Nein. Mädchen machen so was nicht.«
»Wer sagt das?«
»Alle.«
»So, so. Weißt du was? Wir beweisen ihnen das Gegenteil.«
Erschrocken sah sie auf. »Nein! Dann kriege ich Hausarrest und muss Socken stopfen.«
»Ach so.« Seine Mundwinkel zuckten. Nahm er sie doch nicht ernst? »Socken stopfen ist bestimmt schlimm, aber Hausarrest noch schlimmer. Da kann man den Himmel nicht sehen und die Erde nicht spüren. Das würde ich auch nicht aushalten.« Er zuckte mit den Schultern. »Na gut, dann beweist du dir nur selbst das Gegenteil und behältst es für dich. Niemand wird davon erfahren. Magst du?«
Wie konnte sie da ablehnen? Sie wollte nicht als feige dastehen, und sie wollte noch mehr Zeit mit ihm verbringen. Mit diesem ungewöhnlichen Menschen, der sie anscheinend verstand und der so viel wusste. Vielleicht würde sie ihn nie wiedersehen. Ja, sie wollte auf einen Baum steigen, jetzt sofort.
Sie folgte Joram in den Wald, nicht weit. Man konnte immer noch das Meer sehen, das hinter den Bäumen schimmerte. Es gab keinen Pfad. Hella musste aufpassen, wohin sie ihre Füße setzte, damit sie keine Pflanze zertrat und keinen der glänzenden Käfer, die unterwegs waren. Der Boden federte unter ihren Schritten, und es duftete nach Kiefernnadeln. Der Himmel war noch ein wenig grauer geworden, die Luft still und warm. Vielleicht würde es bald regnen. Sie sollte besser nach Hause gehen. Aber es war, als zöge Joram sie an einem magischen Faden. Hier war etwas, das sie nicht verpassen durfte. Alles andere wurde unwichtig.
Es war auch eine Kiefer, zu der Joram sie führte. Sie stand auf einer Düne zwischen anderen ihrer Art. Auf den ersten Blick unterschied sie sich kaum von ihnen, doch dann fiel Hella auf, dass es war, als würde dieser Baum sie ansehen. Natürlich ohne Augen, es war einfach die Weise, in der er dastand. Mit dem Stamm ein wenig gegen den Wind gelehnt, als wäre er schon einmal ins Rutschen geraten, mit der Krone aber vom Wind fortgeneigt ins Landesinnere, hatte er ein ganz besonderes Gleichgewicht gefunden und wirkte unerschütterlich aufrecht. Er gehörte nicht zu den ganz alten, dicken Bäumen, aber er war schon recht stattlich. Unter seinen Artgenossen wäre er nicht aufgefallen, wenn Joram Hella nicht auf ihn aufmerksam gemacht hätte. Jeder andere wäre wohl an ihm vorübergegangen. Doch die Kiefer hatte eine Besonderheit: Ihre Äste waren in ganz regelmäßigen Abständen gewachsen und machten es möglich, dass man sie wie auf einer Leiter erkletterte. Manche der unteren waren nur noch Stümpfe, aber fest und lang genug, um daraufzutreten.
»Mach es mir einfach nach«, sagte Joram, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Hella war froh, dass sie gegen den Willen ihrer Mutter alte Hosen anzog, wenn sie auf ihre Streifzüge ging. Im Rock wäre das hier schwierig geworden. »Du darfst nie einen Fuß heben, bevor du nicht mit dem anderen und mit beiden Händen festen Halt hast«, erklärte Joram. »Sieh am besten nicht hinunter, immer nur nach oben. Und prüfe jeden Ast, ob er hält, bevor du ihm dein Gewicht anvertraust. Das Wichtigste ist, immer dicht am Stamm zu bleiben. Und niemals loslassen, auch nicht, wenn du eine Spinne siehst.«
»Ich habe keine Angst vor Spinnen!«, sagte Hella empört und vergaß ihre Scheu. »Nicht alle Mädchen sind so. Ich mag ihre Netze.«
»Entschuldige«, sagte Joram und lächelte von seinem Ast zu ihr herunter. Hella überlegte, ob sich vor ihm überhaupt schon einmal jemand bei ihr entschuldigt hatte.
»Halte Abstand zu mir«, warnte er. »Sonst können dir Rindenstücke ins Auge fallen, oder ich trete dir auf die Finger. Fühlst du dich noch wohl, oder ist es dir zu hoch?«
»Nein. Es ist wundervoll.« Mit jedem Stück, das sie sich höherzog, gefiel es ihr besser. Die Erde hinter sich zu lassen tat ihr wohl. Es war, als ob damit auch alle ihre Sorgen immer kleiner wurden. Ein Schmetterling umkreiste sie, als wollte er fragen: Was machst du denn hier oben?
Ich will zu euch gehören, antwortete sie stumm. Zu dir und den Vögeln und den Ameisen und den Eichhörnchen. Ich will die Sonne spüren und den Wind, und einfach nur hier sein.
Der Wind wurde gerade stärker und weckte rauschende Töne im Geäst. Be-rauschend.
»Das ist die Stimme der Kiefern«, sagte Joram. »In den Ästen keiner anderen heimischen Baumart entsteht im Wind genau dieses helle Rauschen. In Kiefern hat der Wind gute Laune. Da überlegt er sich, was er mit dem Tag anfangen, wohin er reisen, wohin er die Segelboote geleiten und die Blätter und Vögel tragen will.«
»Wirklich?«, fragte Hella mit großen Augen. Wie brachte dieser Joram es nur fertig, dass er Worte fand für etwas, das sie bisher nur auf eine so unbestimmte Weise gefühlt hatte, dass es sie unruhig machte?
Ernst blickte er auf sie herab. »Bestimmt. Im Leben gibt es immer und überall mehr, als man sieht. Unter der Erde halten die Bäume zum Beispiel alle zusammen. Da sind ihre Wurzeln ein einziges, großes Geflecht.«
Hella dachte darüber nach, während sie schweigend weiterkletterten.
»So, weiter steigen wir besser nicht. Für den Anfang genügt das.« Joram blieb auf einem Ast sitzen und lehnte sich an den Stamm. Es sah gemütlich aus, so entspannt wie Hellas Vater abends im Ohrensessel. Den Vater allerdings konnte sie sich nicht in einem Baum vorstellen. Joram war so anders. Jung und schlank, schien er fast nichts zu wiegen, wie er dasaß. Als wäre er gerade gelandet, wie ein Vogel. »Sieh dich um«, sagte er, »und hör genau hin.«
Hella machte es ihm nach und lehnte sich gegen den Stamm.
»Aber nicht loslassen. Halt dich weiter mit beiden Händen fest«, warnte er. »Im Wald muss man konzentriert bleiben, wie die Tiere auch. Sie müssen immer wachsam sein. Angst muss man nicht haben, aber immer wach und vorsichtig bleiben.«
Hier oben war es wie unten: Aus dem warmen Stamm in ihrem Rücken flossen Stärke in sie, Ruhe und Trost. Und doch war da nun noch mehr. Das Licht des Himmels war hier in der Krone so nahe, tanzte mit den Zweigen im Wind um sie herum, dass es sich anfühlte wie ein Kleid, das sie trug, ein königliches, gründuftendes Gewand. Es gehörte dem Baum, aber er teilte es mit ihr, während er sie auf seinen Armen hielt. Er schwankte leicht, wenn eine stärkere Bö kam, aber sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie in Sicherheit war. Der Duft nach den Kiefernnadeln, nach Harz und nach dem warmen Waldboden war stärker, als sie ihn jemals unten wahrgenommen hatte.
Eine Meise landete auf einer Astspitze und hüpfte fragend näher. Aus blanken Augen betrachtete sie das Menschenwesen, dem sie hier oben noch nie begegnet war. Hella saß ganz still.
»So ist es richtig«, sagte Joram von oben leise. Ganz nahe kam der Vogel, piepte leise, wie um zu sagen: Ist gut – du kannst bleiben. Dann schüttelte er sich, hüpfte weiter hoch und flog schließlich fort.
Von hier oben konnte man auch das Meer sehen, das weit unter ihnen lag. Der Horizont wirkte noch ferner, die unendliche Wasserfläche noch geheimnisvoller. Hella entdeckte Farben darin, die sie noch nie gesehen hatte, obwohl der Himmel grau war.
»Gefällt es dir?«, fragte Joram.
Hella sah überwältigt zu ihm auf und versuchte, Worte zu finden, um zu beschreiben, wie groß das alles war, wie klein sie sich fühlte, und doch so, als würde all dieses Rauschen und Leuchten etwas in ihr in Bewegung bringen und sie mit einem stummen, wilden Glück erfüllen. Aber es gab keine Worte dafür, oder wenn, kannte sie sie nicht.
»Schon gut«, sagte Joram, »ich sehe es dir an. Manchmal kann man nicht reden. Es zerstört den Zauber.«
Sie nickte dankbar. In diesem Augenblick kam ein neues Geräusch hinzu, wie ein sanftes Trommeln. Erst als ein Tropfen Hella auf die Nase traf, merkte sie, dass es sanft zu regnen begonnen hatte.
»Lass uns wieder runtersteigen«, sagte Joram, »sonst wird es zu rutschig. Gib gut acht. Nicht loslassen, bevor du …«
»Ehe ich Halt habe, ich weiß«, sagte Hella ungeduldig. Ein bisschen war er wohl doch wie andere Erwachsene. Schließlich hatte sie ihn schon beim ersten Mal verstanden.
Runter war leicht, fand sie und stellte sich vor, sie wäre ein Eichhörnchen. Der Boden mit den vielen Kiefernnadeln war weich, als sie vom letzten Ast sprang. Joram landete neben ihr. »Gut gemacht«, sagte er anerkennend. »Aber vielleicht erwähnst du das deinen Eltern gegenüber besser nicht.«
»Bestimmt nicht. Kann ich das wieder machen?«
Joram betrachtete sie. »Das wirst du sowieso tun. Kann ich mich darauf verlassen, dass du immer gut aufpassen wirst? Sonst müsste ich mir Vorwürfe machen. Ich möchte auf keinen Fall, dass dir etwas passiert. Ich hätte dir das nicht in den Kopf setzen dürfen.« Sie sah die Traurigkeit auf seinem Gesicht und wusste, dass er an seinen kleinen Bruder dachte.
»Ich verspreche es«, sagte sie ernst. »Und danke. Kann ich … kannst du mir noch mehr zeigen? Vom Wald?«
»Ach weißt du, ich denke, wir werden uns sicher wieder begegnen. Wenn man hinausgeht, weiß man nie, wen man treffen wird. Eine Bachstelze oder einen Hirsch. Ein Kaninchen oder eine Raupe. So ist es mit mir auch. Ich bin mal da, mal dort. Wenn man draußen ist, ist alles eine Überraschung. War schön, dich kennengelernt zu haben. Komm gut nach Hause, kleine Hella!« Er hob die Hand zum Gruß und verschwand so plötzlich in den Schatten, wie er gekommen war.
Hella stand noch eine Weile da und sah zu dem Baum auf, den sie nun besser kannte als alle anderen. Sie legte ihre Hand an die Rinde, die jetzt nass und kühl war und ganz andere Farben zeigte als vorhin. »Danke und auf Wiedersehen«, sagte sie leise.
Widerstrebend machte sie sich auf den Heimweg. Die Schelte, die sie für ihre nassen Kleider und schmutzigen Schuhe bekam und für den Dreck unter ihren Fingernägeln, den sich ihre Mutter nicht erklären konnte, berührte sie diesmal kaum. In ihrem Innersten lag eine Wärme wie ein geheimer Schatz. Sie hatte etwas Unerhörtes getan und eine neue Welt kennengelernt, und sie war nicht mehr allein. Wenigstens ein Mensch fand es nicht schlimm, dass sie merkwürdig war – und er war es auch.