Nele wachte ungewöhnlich früh auf. Draußen über der Dachluke war es noch dunkel. Sechs Uhr, verriet ihr das Handy. Doch sie fühlte sich so ausgeruht, als hätte sie viel länger geschlafen als sonst. Sie überlegte, was ungewohnt war, dann stieg ihr ein Duft in die Nase, und es fiel ihr wieder ein. Das Bettzeug aus Waldwolle!
Tatsächlich hatte sie ausnahmsweise durchgeschlafen, und ihre Träume waren anders gewesen, heller, leichter. Sie fühlte sich rundum entspannt. Eine Zeitlang genoss sie das Gefühl, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beobachtete, wie eine erste Ahnung von Tageslicht über den Himmel kroch. Doch sie war so voller Energie, dass sie bald aufsprang, leise pfeifend ins Bad huschte und sich danach eine Schale Müsli machte. Sie löffelte es vor der Balkontür stehend und dachte an die Schwalben, die nun längst auf dem Weg in den Süden waren.
»Ich vermisse euch«, sagte sie laut und überlegte, ob man die munteren Vögel nicht auch wunderbar mit Tinte auf Keramik zeichnen konnte. Aber sie durfte sich nicht verzetteln. Erst einmal waren Bäume ihr Thema. War es das nicht, wovon sie geträumt hatte? Etwas von gestikulierenden Bäumen, die freundlich, aber nachdrücklich die Gebärde für »Na, los!« wiederholten.
Timon war auch in dem Traum vorgekommen, aber sie konnte sich an keine Einzelheiten erinnern. Nur dass es ein schönes Gefühl gewesen war, aber eines mit vielen Fragezeichen.
Mit Timon war sie später bei Jakob verabredet, um an der Baumscheibe zu arbeiten. Sie schob den Gedanken an ihn vorerst beiseite, drehte alle Lichter an, legte die Keramikprobestücke aus Philips Werkstatt auf den Tisch und rührte die Waldtinte gründlich um.
»Dann wollen wir doch mal sehen!«, sagte sie zu dem Nashorn. Inzwischen hatte sie etwas Mitleid mit ihm. Es guckte immer noch so ratlos und verloren wie am ersten Tag. Damals hatte sie sich seelenverwandt mit ihm gefühlt. Jetzt ging es ihr deutlich besser. Zwar waren noch viele Fragen offen, aber es hatte sich auch viel bewegt.
Sie mochte es, wie sich die Keramik in ihre Handfläche schmiegte. Die Tinte verarbeitete sich auf dem porösen Untergrund völlig anders als auf dem Holz der Windharfe. Sie zog rascher ein, einen falschen Strich zurückzunehmen war ausgeschlossen. Dafür verlief sie an manchen Stellen ein wenig, ein Effekt, der Nele beglückte, denn so erhielten die Äste, die sie zeichnete, haarfeine, filigrane Verzweigungen. Nele sah fasziniert zu. Wenn die Tinte sich ausbreitete, wirkte es tatsächlich, als würden lebendige Triebe wachsen.
Sie arbeitete sich ein, probierte dies und jenes. Die elektrisierende Aufregung, die sie schon beim Zeichnen auf der Windharfe und dann in Philips Töpferei verspürt hatte, kehrte dabei zurück, stärker denn je.
Hier war etwas, das zu ihr gehörte und das sie unbedingt weiterverfolgen wollte! So bald wie möglich musste sie ihre Proben zum Brennen bringen. Ihr fiel Carlys mysteriöse Andeutung von einem Plan ein. Worum es da wohl ging? Hoffentlich erfuhr sie bald mehr.
Sie sah auf die Uhr. Zeit, zu Jakob zu fahren.
Sorgfältig stellte sie ihre Werke zum Trocknen auf, gespannt, wie sie nach dem Brand wohl wirkten oder ob von Neles Ideen nur Asche übrigbleiben würde.
Es war ein milder Herbsttag, aber der Himmel launisch. Auf dem Anhänger in der offenen Garage hockte Nele geschützt vor dem Wind und den fliegenden Blättern und zeichnete mit Bleistift auf die Baumscheibe, wohin Timon seine geschnitzten Kiefernzapfensilhouetten nageln sollte. Jakob zeigte ihr, zu welchem Jahresring welche Jahreszahl gehörte.
»Timon hat gesagt, er macht die Zahlen in Zehnerschritten, dann haben wir zwanzig Schildchen, mehr wird zu viel«, sagte er.
Sie waren gerade damit fertig, als Timon vorfuhr. »Bin ich zu spät? Ich musste noch tanken, und dann war die Kasse defekt und alles ein Chaos.«
»Du kommst gerade richtig«, versicherte sie ihm. Sie mochte es, wenn er ein wenig aufgelöst und nicht so beherrscht und distanziert war wie sonst. Seine Locken standen in alle Richtungen, seine Jacke hatte er in der Eile anscheinend verkehrt herum angezogen, und sein Gesicht war leicht gerötet. Sie hätte ihn so gern einfach umarmt. Es war so schön, ihn zu sehen. Aber sie erinnerte sich streng selbst an die Geduld, die sie sich vorgenommen hatte.
»Hier!« Er drückte ihr eine Schachtel in die Hand, befreite sich aus seiner Jacke und hängte sie über einen Besenstiel. Neugierig öffnete Nele den Deckel. »Ich habe abwechselnd Kiefernzapfen und Eicheln geschnitzt. Ich dachte, das passt besser, es soll ja um die Gemeinschaft der beiden Bäume gehen.«
Voller Bewunderung betrachtete Nele die feinen Details, die glatt geschliffene Oberfläche mit den eingeschnitzten Jahreszahlen. Die Eicheln trugen sogar Hütchen mit Struktur, und auch die Zapfen wirkten so, dass man sie gern berühren wollte. »Das ist großartig!« Sie war begeistert.
»Ja, wirklich, gefällt es dir?«
Nele war gerührt. »Es ist viel schöner, als ich es mir vorgestellt hatte. Danke, Timon!«
»Dafür nicht. Es macht mir doch Freude.« Er strahlte erleichtert.
»Ihr braucht mich ja nicht mehr«, sagte Jakob und wandte sich ab.
»Hoffentlich geht das alles nicht gleich kaputt, wenn die Leute es anfassen«, sagte sie besorgt.
Jakob blieb in der Tür stehen. »Macht ihr erst mal fertig, und dann lackiere ich es so, dass nicht viel passieren kann! Da halten dann auch keine Graffiti darauf. Und ich kann mich regelmäßig darum kümmern, dass es instand gehalten wird.« Damit war er verschwunden.
Nele bemühte sich, an den richtigen Stellen die Löcher zu bohren, damit Timon die Schildchen festschrauben konnte. Dabei kamen sie sich häufig ziemlich nahe. Nele hatte immer wieder den Eindruck, dass er zurückzuckte. Was war nur los mit ihm? Sie beschloss, jetzt lieber nicht darüber nachzudenken. Das Projekt war wichtiger.
»Bei dem Rest der Beschriftung kann ich dir wohl nicht helfen?«, fragte er unschlüssig, als sie fertig waren.
»Nein. Ich bin mit Feder und Tinte eingeübt, und es wäre auch nicht gut, wenn wir zwei verschiedene Handschriften drauf haben. Aber trotzdem vielen Dank!« Nele heftete ihre Vorlage an die Seitenwand des Anhängers und schüttelte das Tintenfass. Timon ging nach nebenan zu Jakob in die Werkstatt, kehrte aber gleich darauf mit einem Kissen wieder, das er Nele reichte. »Knie dich da drauf, das ist bestimmt bequemer.«
»Danke dir.« Seine Aufmerksamkeit rührte sie.
Er blieb stehen, die Hände in die Taschen gebohrt, bis sie fragend aufblickte.
»Ich wollte noch … Quentin sagt, heute Abend reißen die Wolken auf und der Wind lässt nach. Er ist besser als jeder Wetterbericht«, sagte er. »Wir wollten doch mal mit einem Picknick zum Sonnenuntergang an den Strand fahren. Vielleicht bei Ahrenshoop, zur Abwechslung ohne die Geister von Joram, Hella und deiner Großmutter. Bald wird es zu kalt für so was, und …«
Und ich bin bald nicht mehr da, dachte Nele. »Sehr gern! Das ist eine schöne Idee.«
»Dann zieh dich warm an. Ich bringe das Picknick mit. Nichts Großes. Ich hole dich um vier bei dir ab, okay?« Nun hatte er seine Gelassenheit wiedergewonnen.
»Super. Ich freu mich drauf.«
»Bis dann!«
Nun herrschte Ruhe bis auf ein gelegentliches Geräusch von dort, wo Jakob an der letzten Lackschicht der Windharfentrichter arbeitete.
»Das gefällt mir außerordentlich gut«, sagte Jakob, als Nele fertig war. »Wenn es getrocknet ist, trage ich den Lack auf«, versprach er. »Möchtest du die Windharfentrichter sehen? Ich habe die letzte Schicht farblich so angepasst, dass sie nicht mehr so hell sind und in der Kiefer nicht auffallen. Deine Zeichnungen sieht man trotzdem noch gut. Besser sogar.«
Nele war überrascht, wie gut sie das hinbekommen hatten, alle zusammen. Die Windharfenteile wirkten professionell, wie ein hochwertiges Instrument. »Nun muss das aber noch drei Tage gut durchtrocknen«, sagte Jakob. »Wenn du dann die Saiten anbringst, montieren wir alles in die Kiefer. Am besten warten wir noch zwei Tage länger, dann können wir die Baumscheibe gleich mit in den Wald nehmen.«
»Das klingt perfekt. Jakob, könnten wir morgen einiges Werkzeug und Material von dir ausleihen? Ich hoffe, dass ich einen Auftrag in Franzis Imbiss erledigen kann, wenn sie und Timon Zeit haben.«
»Natürlich. Ich bin sowieso ab acht Uhr hier. Nehmt euch einfach, was ihr braucht.«
Die Arbeit mit der Beschriftung hatte so lange gedauert, dass Nele sich schon fast beeilen musste. Sie war froh darüber, dass das Wetter nach warmer Kleidung verlangte. So musste sie nicht lange darüber grübeln, was sie anziehen sollte. Über ihre Frisur musste sie sich auch keine Gedanken machen. Die vielen kleinen Zöpfe hatten sich durch ihre Windfestigkeit als äußerst praktisch erwiesen. Meist trug sie sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und fühlte sich wohl damit. Selbst Vio hatte es gefallen, als Nele ihr ein Bild geschickt hatte.
»Passt zu dir. Vielleicht mache ich auch mal was Verrücktes. Hier gibt es einen netten jungen Frisör im Haus. Er findet, ich könnte mir meinen Pony grün färben lassen.«
Nele war gespannt. Noch war kein Bild von einer gefärbten Vio gekommen.
In eine dicke Jacke gehüllt schloss sie die bunte Tür des Sandregenpfeiferhauses gerade ab, als Timon vorfuhr. Sie würde dieses vorübergehende Heim vermissen, wenn sie abreiste.
Der Himmel war immer noch grau, dunklere Wolkenfetzen jagten unter einer helleren Schicht dahin. Dort oben war der Wind wohl stärker, unten spürte man zum Glück kaum etwas davon.
»Hättest du morgen Zeit für das Projekt an Franzis Wand?«, fragte Nele, als sie losgefahren waren.
Timon dachte nach. »Ja, wenn ich Hella und Quentin versorgt habe, klar. Gern.«
»Dann rufe ich nur kurz Franzi an und frage, ob es passt.«
Franzi war erfreut. »Wunderbar, wir müssen ja nur ein paar Tische beiseiteschieben, dann kann es losgehen. Ich muss nicht mal schließen. Es ist jetzt kaum Betrieb, schon gar nicht vormittags, und die Stammgäste werden es spannend finden.«
An der See waren nur wenige Menschen unterwegs. Die Strandkörbe waren Anfang Oktober nach und nach abgeräumt worden, die Saison war beendet. Sie liefen ein kurzes Stück am Strand entlang, dann steuerte Timon auf eine geschützte Kuhle vor den Dünen zu. »Wie wäre es hier?«
»Perfekt.« Es war fast wie in einem großen Ohrensessel. Oben wehte Strandhafer sanft in der Brise, leuchteten die knallroten Hagebutten und letzten zerzausten violetten Blüten der Kartoffelrosen. Hier unten war es windgeschützt, und der Sand hatte noch etwas von der Wärme des Tages gespeichert. Eine Handvoll weißer Herzmuscheln lag wie ein freundliches Mosaik im Sand. Vor ihnen erstreckte sich das Meer silbergrau im diffusen Abendlicht, und am Horizont mogelte sich ein hellblauer Streifen in das Wolkengedrängel.
Timon öffnete seinen Rucksack und breitete eine Picknickdecke aus, so bunt wie die Herbstblätter, die von der Brandung umhergewirbelt im Wellensaum tanzten. Aber nicht nur das, er hatte auch an Thermokissen gedacht und sogar eine zusätzliche Decke.
»Du sollst doch nicht frieren.«
Außerdem gab es einen leichten Weißwein, Baguette, Vollkornbrot, Ziegenkäse, Krabben-Heringssalat, Oliven und zum Nachtisch Schokomousse mit Vanillesoße.
Nele war im siebten Himmel. »Woher wusstest du so genau, was ich mag?«
»Na, neulich im Hafen habe ich doch gesehen, wie sehr dir das Vollkornbrot mit dem Matjes geschmeckt hat. Außerdem …« Er hob verlegen die Schultern. »Manchmal ticken wir ziemlich ähnlich.«
»Ja, das scheint mir auch so. Ich finde das sehr schön«, sagte sie leise. »Das habe ich so noch nie erlebt.«
Timon biss hastig von seinem Baguette ab.
Du brauchst nicht zu antworten, dachte Nele, immerhin hast du es auch gemerkt.
Er musste es ebenso gespürt haben wie sie. Wie überraschend verbunden sie beide durch etwas waren, für das es keine Worte gab, das aber so mächtig war wie der unbeirrte Rhythmus der Wellen, wie der Zug der Wolken und der Wildgänse, die in schnatternden Pfeilformationen über sie hinwegzogen. Wenn sie zusammen waren, dann waren sie beide mehr, als wenn sie allein waren. Zumindest galt das für Nele. Dann hatte sie noch zahlreichere Einfälle als sonst, dann erfüllte sie eine neue Energie, dann schien alles leicht und ungeahnte Dinge machbar zu werden. Dann war sie voller Neugier und Vorfreude auf alles, was kam, fühlte sich auf eine nie gekannte Art zu Hause in der Welt, in ihrem Leben.
Und sie war sich beinahe sicher, dass dasselbe auch für ihn galt. Sie sah es an der Art, wie seine Augen zu funkeln begannen, wie Spannkraft in seine Bewegungen floss und seine Stimme lebendiger wurde, wenn sie gemeinsam an etwas arbeiteten. Und dass er doch immer wieder ihre Nähe suchte, unter irgendeinem Vorwand oder auch ohne. Warum zog er bloß keine Schlüsse daraus? Oder wagte er es tatsächlich nur wegen seiner schlechten Erfahrungen nicht? Sicher war es das! Warum sonst hatte er sie zu diesem Abend eingeladen und sich so viel Mühe gemacht?
Wahrscheinlich weil er sich eben sowieso immer so viel Mühe machte, egal womit. Man sah es schon allein daran, wie er mit Hella und Quentin umging.
Und trotzdem, das hier war etwas anderes. Nele musste herausfinden, was genau es war.