Hella wusste nicht, wovon sie aufgewacht war. Es wurde gerade erst hell. Vielleicht von der Stille? Gestern war es noch regnerisch und stürmisch gewesen. Sie mochte das. Bei solchem Wetter war es so behaglich im Haus, und sie stellte sich vor, wie sich draußen die Bäume miteinander unterhielten. Wie sie gestikulierten und tanzten und manchmal knarrten, stöhnten oder quietschten, wo sich Äste und Stämme aneinanderrieben, wenn der Sturm sie beugte. Das Meer würde diese Geräusche untermalen und in eine wilde Melodie verwandeln. Auch wenn sie nicht mehr dort sein konnte, sie war so oft dabei gewesen, dass sie all das trotzdem hörte.
Joram hatte es am schönsten gefunden, wenn es draußen so wild war. Arthur aber war es lieber gewesen, wenn verträumter Frieden im Wald herrschte, wenn die Sommerwärme dick und träge in den Lichtungen lag, die Grillen zirpten, die Schmetterlinge in den Farnen flatterten und die Eidechsen sich auf Wurzeln sonnten. Hella hatte beides geliebt. Beide Stimmungen und beide Männer. Jetzt, im hohen Alter, fühlte sie sich Joram wieder näher, der ihr in der Mitte ihres Lebens wie ein ferner Kindheitstraum erschienen war. Vielleicht lag es daran, dass sie wieder hier auf dem Darß lebte. Möglicherweise auch daran, dass seine Enkelin aufgetaucht und ihm so ähnlich war, dass es Hella tief berührte. Oder war es, weil Spuren seiner Seele, nun für immer frei, da draußen irgendwo auf sie warteten?
Mühsam stand sie auf und amüsierte sich dabei ein wenig über sich selbst. In ihr war, neben all den anderen Frauen, die sie seither in verschiedenen Lebensaltern gewesen war, noch immer unverändert das dreizehnjährige Mädchen lebendig, das mit Joram in die Bäume geklettert und am Weststrand entlanggerannt war.
Genauso wie in Nele noch das kleine Mädchen gegenwärtig war, das mit ihrer Freundin Noelie Abenteuer in der Großstadt erlebt hatte.
Doch Hellas Körper erinnerte sie bei jeder Bewegung daran, wie alt sie mittlerweile war. Alter war wie Nebel, es kroch so allmählich aus den Tälern der Zeit, dass man kaum bemerkte, wie es einen einholte. Und ebenso wie der Nebel wirkte es zwar ab und an belastend und unheimlich, aber schließlich doch sanft. Wie ein Freund, der scharfe Konturen weich machte, den Lärm der Welt dämpfte und ihren Trubel in eine gnädige Ferne rückte. Und manchmal breitete er sogar ein verhaltenes Leuchten über alles.
So wie heute, stellte Hella fest, als sie endlich, auf einen Stuhl gestützt, am Fenster stand. Sie hatte es geahnt. Es hatte einen frühen Frost gegeben. Die Feuchtigkeit von gestern hatte sich als Raureif an die Zweige gesetzt wie ein Zauber. Oben arbeiteten sich erste schräge Sonnenstrahlen durch den Dunst.
Die erschreckende Dürre in diesem Sommer hatte Hella schwere Sorgen bereitet. Es tat ihr weh, zusehen zu müssen, wie die Moose und Kräuter im Wald verdorrten, die Farnwedel geradezu geröstet wurden, die Birken ihre welken Blätter hängen ließen und die Kiefern ihre Nadeln verloren. In der Erde hatten sich Risse gebildet wie offene Wunden. Auch im Herbst hatte es kaum geregnet. Doch nun legte sich der Nebel wohltuend und versöhnlich auf das geplagte Land, und der Raureif verwandelte alles in eine Märchenwelt.
Andächtig blickte Hella noch eine Weile aus dem Fenster, dann zog sie sich mühsam an und ging leise hinaus. Im Haus rührte sich noch nichts. Quentin hatte sich angewöhnt, lange zu schlafen. Und Timon tigerte neuerdings bis spät abends herum, backte mitten in der Nacht Kuchen oder Käsestangen und war dann so übernächtigt, dass er manchmal verschlief. Hella lächelte nachsichtig. Sie wusste, dass ihm seine Liebe zu Nele heftig zu schaffen machte. Er würde wieder lernen, sich und anderen zu vertrauen. So etwas brauchte Zeit. Timon hatte davon noch genug, das würde schon werden. Ein wenig beneidete sie ihn darum, dass er bald die Wälder Kanadas kennenlernen durfte. Andererseits hat es sie selbst nie fortgezogen. Hier in Deutschland gab es genug für Hella, um sie endlos zu faszinieren. So wie der Raureif, immer wieder. Sie hatte das nun schon oft erlebt, und jedes Mal schien ihr das Wunder noch größer.
Hella plagte sich mit dem Schal, aber Jacke und Mütze bekam sie gut hin. Das mit den Stiefeln dauerte, aber was machte das schon? Einerseits hatten die Jahrzehnte Arbeit im Wald ihre Gelenke müde gemacht, andererseits schreckte sie vor körperlicher Anstrengung noch immer nicht zurück.
Die kalte Luft nahm ihr für einen Augenblick den Atem, dann fuhr sie ihr in die Lunge wie eine erfrischende Dusche. Hellwach war sie jetzt. Sie konnte sich nicht vorstellen, in einem Land ohne Winter zu leben. Die tiefe, klare Ruhe, die nun bevorstand, die sie mit den Bäumen und allen Lebewesen im Wald teilen konnte, die sie selbst spürte bis ins Innere, die mochte sie niemals missen. Auch nicht die kaum fassbare Schönheit, die sie an einem Morgen wie diesem umgab. Das milchige Leuchten wurde immer heller, der Nebel durchlässiger, und dann begann es auf dem Gras vor ihr zu glitzern wie Silberstaub, als das Licht die winzigen Eiskristalle traf. Hella wanderte im Garten herum und betrachtete die stacheligen Distelköpfe, die plüschigen Samenstände der Waldrebe, die filigranen Spinnennetze dazwischen, die braunen Schilfblüten, die trockenen Farnwedel, die Zweige des Winterjasmins mit den strahlend gelben Blüten und die Buchenhecke mit den Knospen für den kommenden Frühling. Alles war dicht von zarten Kristallen überzogen, strahlend weiß vor dem inzwischen blauen Himmel.
Hella war glücklich. Quentin teilte ihr Leben mit zärtlicher Liebe, sie hatten ihr Zuhause hier am Wald, wo sie hingehörte. Timon würde für eine gute Nachfolge in der Pflege sorgen, da war sie sich sicher.
Und nun war da noch Nele! Hella freute sich nicht nur sosehr darüber, weil Nele so war, wie sie war, und Hella sie gern mochte. Auch nicht nur weil sie Jorams Enkelin war und etwas von ihm weiterlebte. Nein, es war, weil Nele für eine jüngere Generation stand, die etwas ändern konnte. Hella spürte, dass die Menschen, bei allen Fehlern, die sie im Umgang mit der Natur und sich selbst gemacht hatten, dabei waren, dazuzulernen und einiges zu ändern. Hella war voller Hoffnung. Gerade jetzt, da das sich verändernde Klima den Wäldern zu schaffen machte, war das wichtig. Die Bäume brauchten Unterstützung.
Und dabei würde es helfen, wenn die Windharfe endlich wieder für diejenigen erklang, die es hören wollten oder in deren Ohren der gute, lockende Ton sich heimlich hineinmogeln und einen Ruf verbreiten würde.
Der Wind würde in den Saiten singen, vom schnellen, aber ewigen Wellenschlag des Meeres, vom langsamen, aber vergänglichen Rhythmus des Waldes und dem kraftvollen Zwiegespräch beider. Mit den leisen Klängen mochte er auch von Joram und seinen Freunden künden, von Vio und Hella, von Nele und Timon und allen, die in den Jahren dazwischen und davor am Weststrand und unter den gebeugten Kiefern entlanggewandert waren. Von den Schiffen am Horizont und den Zugvögeln im weiten Himmel.
Vom Leben, Lieben und von Zuversicht.
Hellas Füße wurden kalt. Sie hob einen Zweig auf, der Raureifkristalle trug wie einen filigranen Miniaturwald, und spazierte zu der Kiefer hinüber, die sie für Joram gepflanzt hatte. Sie legte den Zweig zwischen die Wurzeln und lehnte sich an den Stamm. Die feuchte Rinde leuchtete rot. »Ich kann mein Versprechen endlich einlösen, Joram«, sagte sie leise und blickte durch das funkelnde Weiß auf den Ästen hoch bis dorthin, wo Schäfchenwolken durch das klare Blau trieben und ein Seeadler majestätisch hoch über den Wipfeln kreiste. »Mit Hilfe von lieben Freunden. Alles ist gut und wie es sein soll.«
Die Zweige bewegten sich sanft. Ein Eichhörnchen sprang über das Gras, richtete sich vor Hella auf und blickte sie aus blanken Augen an, als wollte es sagen: Du hast recht. Alles ist gut. Dann hüpfte es mit langen Sätzen davon, weil Timon sich näherte.
»Guten Morgen, Hella! Phantastisch, oder? Ich habe schon ganz viele Bilder gemacht, aber jetzt beschlägt die Linse.« Er schwenkte sein Handy, dann steckte er es ein und bot ihr den Arm. »Das Frühstück ist fertig, magst du kommen?«
Hella hängte sich erwartungsvoll bei ihm ein. »Ja, lass uns hineingehen! Ich will Quentin den Raureif beschreiben.«