· X · Das Blut der Schwachen

»S eraph Talon und Schwester Aoife waren nirgendwo zu sehen. Ich war allein. Unbewaffnet. Minuten wurden zu Stunden, Augenblicke zu Minuten, während das Monster mir entgegenstürmte, die Finger zu Klauen gekrümmt. Die Mischlinge bellten; die Gegenwart des Eisbluts machte sie verrückt. Mein Herz raste. Und in der Fläche meiner linken Hand brannte ein Feuer silberhell.

Ich war streng nach dem Einen Glauben erzogen worden. Als Junge war ich jeden prièdi in die Kapelle gegangen, und noch immer sprach ich jeden Abend, bevor ich schlafen ging, ein Gebet. Ich liebte Gott. Ich fürchtete Gott. Ich verehrte Gott. Aber zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich Gott tatsächlich spüren . Seine Liebe. Seine Macht, die sich in mir manifestierte. Und da bewegte ich mich, als säßen Engelsflügel auf meinen Schultern. Der Mund des Elenden stand offen, die Zunge lag dick geschwollen zwischen seinen Fangzähnen. Aber ich wich seinen grapschenden Händen aus, und das Ungeheuer stürmte an mir vorüber und krachte gegen die Wand.

Ich packte die Silberkette, die ihm noch um den Hals hing, und ließ sie wie eine Peitsche durch die Luft schnellen. Das Wesen fuhr herum, und ich fühlte seine unheilige Kraft, als sich seine toten Hände um meine Kehle schlangen. Aber ich stellte fest, dass auch ich stark war, genauso stark wie an dem Tag, als Amélie zurückgekommen war. Mit einer kreisenden Bewegung schlang ich mir die Silberkette einmal, zweimal, dreimal um die Faust. Dann riss ich sie zurück und ließ sie dem Ungeheuer mit voller Wucht in sein verdammtes schwarzes Maul krachen.

Knochen brachen. Zähne splitterten. Wieder schlug ich zu, war mir des dumpfen, feuchten Aufpralls von Silber auf fauliges Fleisch nur vage bewusst. Mein alter Freund, der Hass, sah mir über die Schulter, und meine Gedanken waren erfüllt von dem Anblick meiner Schwester, wie sie zu Musik tanzte, die nur sie allein hören konnte, während ich nun die Hymne vernahm – rot, rot, rot. Und als ich fertig war, klebte der Kopf des Ungeheuers als roter Matsch an der Wand, und eine zerfleischte Masse krönte einen gebrochenen Hals.

Achte auf die Hymne, Kleiner Löwe .

Ich ließ den Leichnam fallen. Ein roter Strom flutete meine Augen, alle Engel sangen dazu. Meine rechte Hand war blutig und zerschlagen, an den Knöcheln sahen die blanken Knochen hervor. Ich war so berauscht, dass ich mich hätte auf Zehenspitzen stellen und die Lippen der Muttermaid persönlich hätte küssen können. Aber Talon rief aus dem Grüppchen auf den Rängen: ›Leider nicht. Weiter geht’s!‹

Nun hörte ich Pfoten, Klauen auf kalten Stein schlagen. Und als ich mich umwandte, kam das Rudel hungriger Mischlinge über den Kreis gestürmt. Mit blutiger Hand packte ich die Kette, unsicher, wie ich nun am besten vorgehen sollte. Es war ein gutes Dutzend dieser Viecher, die mir pfeilschnell entgegenrannten, mit wilden Augen und gebleckten Zähnen. Mit wachsender Panik schwang ich die Kette, um sie abzuwehren. Die Hunde wurden nun langsamer, knurrten und bellten, und sie zogen einen Kreis um mich, als ich mich mit dem Rücken zur Wand stellen wollte. Weshalb sie mich angriffen, wusste ich nicht. Ich wollte sie nicht verletzen, aber ich wollte auch nicht als ihre nächste Mahlzeit enden, und in meinem Kopf toste die Bluthymne, während die blutige Kette noch immer mit lautem Wusch um mich herumflog.

›Sag ihnen, sie sollen sich verziehen!‹, rief Grauhand. ›Befiehl es ihnen!‹

›Haut ab!‹, brüllte ich die Tiere an. ›Weg mit euch, ihr Ärsche!‹

›Nicht mit deiner Stimme, du kackhirniger Yakbefummler!‹, brüllte Talon. ›Mit deinen Gedanken!‹

Zwar hatte ich nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich das bewerkstelligen sollte, aber immerhin versuchte ich es. Während ich weiter die Kette schwang, um sie auf Abstand zu halten, richtete ich meinen Blick auf den größten der Hunde – ein reißzähniges Riesenvieh mit verfilztem Fell und blitzenden Augen. Ich bleckte die Zähne und brüllte ihn in Gedanken an, wobei ich mir die ganze Zeit unglaublich dämlich vorkam. Und während ich mich auf diesen großen Drecksack konzentrierte, nutzte einer der kleinen Scheißer seine Chance, tauchte unter meiner Kette hindurch und sprang mir an die Brust.

Fluchend schlug ich ihn weg. Aber etwas Schweres stieß seitlich gegen mich, und ich fühlte, wie sich Reißzähne in meinen Unterarm bohrten. Ich schrie, als mir der Arm aufgerissen wurde, während ich mit wedelnden Bewegungen nach dem Hund schlug, der mich gepackt hatte. Ein anderer erwischte meine Beine und warf mich zu Boden, ich spürte, wie Zähne in meine Schulter drangen und mir das heiße Blut über den Rücken lief. Wieder schlug ich um mich und konnte dabei einige Hunde von mir wegschleudern, aber es waren so viele, dass ich nicht wusste, wohin ich mich wenden sollte. Meine Arme warf ich schützend vors Gesicht, und ich brüllte, als sie nach mir bissen, während ich mich fragte, was sie derart aufstacheln mochte. Sie wirkten geradezu besessen, als ob sie einem anderen Willen als dem eigenen gehorchten.«

»Ah«, machte Jean-François. »Ich verstehe.«

»Oui« , gab Gabriel zurück. »Und so schnell, wie sie über mich hergefallen waren, ließen sie plötzlich wieder von mir ab. Ich rollte mich auf die Beine, blutüberströmt, und schnappte mir meine Kette. Aber die Hunde zogen sich zurück, leckten sich die blutigen Lefzen und hielten die Blicke auf Frère Grauhand gerichtet. Mein Meister machte eine Handbewegung, und die Halbwölfe zogen sich auf ihren Platz im Siebenstern zurück, wie abgerichtete nordische Schäferhunde dem Ruf des Schäfers gehorchen.

Unter den Blicken der anderen trat Seraph Talon wieder in den Kreis. Seine Stiefel hallten laut über den Steinboden, als er mit Schwester Aoife an seiner Seite auf mich zukam. Ich konnte kaum stehen, und das Blut lief heiß von meinen zerfetzten Armen und Beinen. Die Bluthymne klang wie ein Klagelied in meinen Ohren, und das Sanctus strömte mir noch immer durch die Adern, genau wie meine Wut über das, was man mir gerade angetan hatte.

›Tja, du bist auf keinen Fall ein Chastain. Kein Gespür für Tiere, das steht mal fest.‹ Talon fasste nach meiner malträtierten Hand. ›Und offenbar auch kein Voss. Dein zartes Fleisch wurde wie Papier zerrissen, was, mein Junge?‹

›Nehmt Eure verdammten Hände von mir!‹

›Ich glaube‹, rief Talon nun Khalid zu, ›er ist erzürnt, werter Abt!‹

›Sie hätten mich umbringen können!‹

Talon schnaubte. ›Du bist ein Bleichblut, mein Junge. So leicht stirbst du nicht. In ein paar Stunden wird dir nichts mehr davon anzusehen sein.‹ Der Seraph strich seinen beeindruckenden Schnurrbart glatt und drehte den verdammten Stock zwischen seinen Fingern. ›Unsere Gaben manifestieren sich unter Druck. Entsprechend ist diese Prüfung ausgelegt. Also hör auf zu jammern, du hasenzahniger kleiner Sickergrubenleerer.‹

›Ihr habt das mit Absicht gemacht?‹ Ich sah zu den Rängen. ›Seid Ihr verrückt ?‹

›Bist du es, du Hurensohn?‹ Talon lächelte.

Ich biss die Zähne zusammen. Spürte, dass meine Finger sich zur Faust ballten.

›Das würde ich an deiner Stelle bleibenlassen, du kleiner Hosenscheißer‹, warnte Talon. ›Einen Seraph des Silberordens ohne Provokation anzugreifen, würde dazu führen, dass man dich wie einen Inquisitor am Festtag des Engels der Glückseligkeit auspeitschen ließe.‹ Er strich sich über den langen dunklen Schnurrbart, und ein kleines Lächeln breitete sich über seine Züge. ›Aber vielleicht … wenn ich dich zuerst schlüge …‹

›… was?‹

›Wenn ich dich zuerst schlage, kannst du zurückschlagen. Blut um Blut, was, Herr Abt?‹

Oben auf den Rängen nickte Khalid. ›Blut um Blut.‹

›Dann bringe mich mal dazu, du wertloser Wabbelschwanz‹, zischte Talon. ›Bediene dich deines Zorns. Deiner Wut. Bediene dich der Ungehaltenheit, die dafür sorgt, dass deine hübsche Lippe zittert, und wende sie gegen mich. Wenn ich dich zuerst schlage, kannst du zurückschlagen. Also, Junge, mach mich wütend. Bring mich in Rage.

›Ich …‹

Wack!

›Mach schon! Lass es mich spüren …‹

›Ich will nicht …‹

Wack!

›Bei den Sieben Märtyrern, hört verdammt nochmal auf damit!‹

›Gib’s mir!‹ Talon stieß mich mit dem Rücken gegen die Mauer. Er war entsetzlich stark. Sein Gesicht war nur eine Handbreit von meinem entfernt, und ich sah, dass seine Augen rot mit Blut durchzogen waren, als er seine Zähne bleckte und zischte: ›Umarme, was in dir steckt! Den Fluch in deinem Blut!‹

Ich biss die Zähne zusammen, und meine Schläfen pochten. Schwester Aoife machte keine Anstalten, mir zu helfen. Die Oberen des Ordens sahen zu, kalt und gnadenlos. Aber ich wusste, dass es immer noch ein Test war, und ich wollte unbedingt einen Platz in diesem Kloster erhalten, um die Wahrheit über die Gaben zu erfahren, die mein Vater mir vererbt hatte. Also versuchte ich zu tun, was Talon mir befahl. Ich ließ alles zu, den Zorn in meinem Innern, das Nordling-Feuer in meinem Blut, das sich so echt anfühlte, dass ich die Hitze unter meiner Haut spüren konnte. Und ich stellte mir vor, wie der Seraph statt meiner davon erfasst wurde, wie Flammen aus mir herausloderten und ihn in Brand steckten. Meine Brust hob und senkte sich, als ich die blutigen Fäuste ballte, all meinen Zorn und meinen Schmerz zusammennahm und mich auf ihn stürzte.

Talons Augen weiteten sich. Er holte kurz und flach Luft.

›Nein‹, seufzte er schließlich. ›Überhaupt nichts.‹

Der Seraph der Jagd ließ mein Obergewand los. Seine Pissloch-Augen funkelten, als er sich von mir abwandte, über seinen Schnurrbart strich und zu den Oberen auf der Tribüne blickte. Seraph Argyle zog ein grimmiges Gesicht, hatte seine Eisenhand an Khalids Ohr gelegt und flüsterte dem Abt etwas zu. Grauhands Gesicht war maskenhaft starr. Archivar Adamo schien an Charlottes Schulter eingeschlafen zu sein. Ich blieb unsicher stehen; der Schmerz meiner Wunden entzündete ein dunkles Feuer unter dem Sanctus-Rausch. Blut tropfte von meinen Fingern und sammelte sich in meinen Stiefeln. Schwester Aoife sah mich besorgt an, machte aber immer noch keine Anstalten, mir zu helfen. Der Seraph zog mit schlurfenden Schritten einen Kreis, die Lippen geschürzt.

›Einen von deiner Sorte haben wir eine ganze Weile nicht gesehen. Wie schrecklich deprimierend.‹

›Was meint Ihr damit?‹

›Ich meine, du bist nicht besonders stark.‹ Talon deutete auf den übel zugerichteten Elenden. ›So stark wie ein normales Bleichblut, das schon, aber sicher nicht wie ein Abkömmling des Blutes Dyvok. Du hast keine besondere Verbindung zu Tieren, bist nicht gegen körperliche Wunden gewappnet, und damit sind auch Chastain und Voss aus dem Rennen. Aber ganz offenbar hast du nicht mehr Talent für die Manipulation von Gefühlen wie eine Fotze voller kaltem Wasser, und daher kannst du auch kein Ilon sein.‹

›Aber … was bin ich denn dann?‹

Talon sah mich säuerlich an. ›Du bist ein Schwachblut.‹

Ich sah meinen Meister an. ›Ein was?‹

›Das Kind eines Vampirs, der zu jung und zu schwach war, um seine Kräfte vererbt zu haben‹, antwortete Talon. ›Du hast keine Blutlinie. Keine Blutgaben, jedenfalls keine, die über das hinausgehen, was uns allen eigen ist.‹

Der Schmerz meiner Wunden war vergessen. Mir wurde elend, ohne dass ich wusste, wieso. ›Seid – seid Ihr sicher? Vielleicht habt Ihr mich nicht richtig geprü…‹

›Ich bin seit zehn Jahren Seraph der Jagd, mein Junge. Diese Prüfung habe ich oft genug durchgeführt, um ein Schwachblut zu erkennen, wenn ich eins vor mir habe.‹ Talon verzog den Mund. ›Und in dir erkenne ich eins.‹

Sich weiter den Schnurrbart streichend, ging der Seraph vom Siebenstern davon. Schließlich streckte Schwester Aoife die Hand nach mir aus, tätschelte mir die blutige Schulter und raunte leise: ›Du wirst dennoch hier Gottes Werk tun, Anwärter. Bewahre die Liebe der Muttermaid in deinem Herzen und die Lehren des Allmächtigen in deinem Kopf, und dann wird alles gut.‹

Mir sank der Mut, als ich zu Grauhand und Abt Khalid herübersah. Und wie ich da stand, vom Rausch der Bluthymne erfasst, mit zitternden zerfleischten Gliedern und schweißfeuchtem Haar, das mir in die Augen hing, hörte ich Talons abschließende Beurteilung, die mir wie ein Tritt in den Magen erschien.

›Enttäuschend.‹«