· III · Jäger und Gejagte

»D ie Stadt Himmelsfall schmiegte sich an eine Bergflanke aus schwarzem Felsgestein und war in grauen Nebel gehüllt. So reich wie ein Priester nach dem Herumreichen des Klingelbeutels und so seltsam wie die Vorstellung, dass der Schöpfer von Himmel und Erde überhaupt Geld brauchen sollte. Einem Jungen, der in einer Schlammpfütze wie Lorson aufgewachsen war, erschien es eine großartige Metropole. Aber als wir an jenem kalten Wintertag in ihren Schatten ritten, ahnte ich noch nichts von den Schrecken, denen wir dort begegnen würden.

Himmelsfalls Reichtum gründete auf Silber. Es waren erst elf Monate vergangen, seit der Ewige König Vellene vernichtet hatte, und damals wusste man noch gar nicht überall von den Qualitäten dieses Metalls und ahnte nicht, wie wichtig es in Zukunft werden würde. Natürlich gab es bereits entsprechende Gerüchte, verbreitet von sabbernden, betrunkenen Propheten oder kreischenden, umherziehenden Verrückten. Aber die besseren Kreise von Himmelsfall gaben nicht viel auf Geschichten, die von einer Totenarmee im Westen kündeten oder von Eisblütern, die offen über die Dorfstraßen zogen.

Sie waren reich. Gott hatte sie fraglos gesegnet. Und das reichte.

Die Straßen der Stadt waren gepflastert, ihre Kathedrale mit Marmor und Gold verziert. Die Architektur war barock und gotisch – hohe Kirchtürme und Treppen, die wer weiß wohin führten. Aber als wir drei durch das Stadttor ritten, spürte ich einen Schatten auf der Stadt. Sie war auf einer Granitschulter gebaut, und überall gab es gewundene Straßen und hoch aufragende graue Gebäude. Nebel hing schwer zwischen den Häusern, und über ihre Mauern zogen sich Reliefs mit Blumen, wie sie nicht mehr wuchsen, seit das Sonnenlicht verblasst war. Auf dem Marktplatz war ein Metallkäfig aufgehängt worden, in dem ein verfaulender Leichnam lag, an dem sich die Krähen zu schaffen gemacht hatten – HEXE , verkündete ein Schild darunter. Leichte Mädchen mit aufgeschürften Knien standen an den Einmündungen kleiner Gässchen, und Bergarbeiter mit dreckigen Gesichtern taumelten durch die Straßen, mürrisch und betrunken.  

Kühle lag in der Luft. Feuchtigkeit. Und es war viel zu still.

Ich wusste zwar nicht, warum, aber irgendetwas hier fühlte sich nicht richtig an.

Justus war wie immer unerschütterlich wie ein Fels und trabte mit hocherhobenem Kopf und dampfendem Fell über das Pflaster. Aber je weiter wir voranritten, desto schmaler wurden die Straßen und desto steiler die Treppen. Schließlich waren wir gezwungen, unsere Reittiere in einem Gemeinschaftsstall unterzustellen und zu Fuß weiter durch den Dunst zu gehen, um das oberhalb der Stadt gelegene Nobelviertel zu erreichen.

Grauhand marschierte voran, ihm folgte de Coste, und ich bildete das Schlusslicht. Meine silbernen Absätze klapperten auf dem Pflaster. Einwohner der Stadt beobachteten uns, als wir an ihren Türen und Fenstern vorübergingen, manche voller Ehrfurcht, andere voller Angst. Und dennoch …

›Sie starren uns alle an, Meister‹, raunte ich.

›Das ist der Fluch in unseren Adern‹, gab Grauhand zurück. ›Und das wird sich eher verstärken, je älter du wirst. Menschen fühlen sich von dem Dunkel in uns angezogen, Kleiner Löwe, so wie sie sich von den Eisblütern angezogen fühlen, die uns geschaffen haben.‹ Er sah mich von der Seite an. ›Das hast du doch sicher schon bemerkt, auch als Junge?‹

Nun dachte ich an die Mädchen aus meinem Dorf. An die Blicke, die sie mir zugeworfen hatten, wenn ich an ihnen vorübergegangen war. An die Küsse, die sie mir so gern geschenkt hatten. Aber waren sie für mich gewesen? Oder für dieses Ding, das in mir lauerte?

›Oui‹ , murmelte ich. ›Vielleicht.‹

›Je älter wir werden, desto mehr verschmelzen wir mit unserem Fluch und den Kräften, die er uns verleiht.‹ Grauhand deutete mit einem Nicken zu den Stadtbewohnern. ›Und dennoch werden die normalen Leute stets etwas von dem Raubtier wahrnehmen, das in dir schlummert, de León. Manche werden dich deswegen hassen. Andere werden dich bewundern. Aber übersehen wird dich niemand. Ein Wolf kann sich nicht lange unter Schafen verbergen. Doch der Allmächtige weiß, wer wir wirklich sind. Und unser Dienst für seine Heilige Kirche wird im Himmelreich belohnt werden.‹

Das tröstete mich ein wenig. Die Vorstellung, dass ich verflucht war, auch wenn ich noch immer nicht wirklich begriff, was ich war oder was ich einmal werden würde, wurde erträglich, wenn ich mir ins Bewusstsein rief, dass all dies dem Willen des Allmächtigen entsprach. Und durch ihn würde ich Erlösung finden.

›Véris‹, erwiderten Aaron und ich und schlugen das Zeichen des Rads.

Unser Meister führte uns über eine lange gepflasterte Brücke und schließlich über eine Prachtstraße, an der herrliche Villen lagen. Laternen an schmiedeeisernen Pfählen erhellten den Nebel um uns herum. Die Häuser wirkten wie die Gesichter fremder Menschen, die Fenster wie blicklose Augen.

›Wenn wir angekommen sind, sagt nichts‹, warnte Grauhand. ›Falls hier ein Eisblut am Werk ist, dann könnten einige der Stadtbewohner unter seinem Bann stehen. Sterbliche Diener des Feindes.‹

Verblüfft sah ich ihn an. ›Ihr meint, dass Menschen diesen Teufeln willentlich zu Diensten sind?‹

›Kühe‹, brummte Aaron. ›Kühe, die sich die Nacht herbeisehnen, in der sie zu Schlächtern werden können.‹

›Aber wieso sollte sich jemand solchem Teufelswerk hingeben?‹, fragte ich. ›Eisblüter können es sich nicht aussuchen, ob sich ihre Opfer verwandeln. Es ist nicht so, als ob sie solchen Menschen die Unsterblichkeit als eine Art Belohnung anbieten könnten.‹

Grauhand zog ein finsteres Gesicht. ›Du wärst überrascht, de León, was manche Leute für die bloße Möglichkeit riskieren würden, die Unsterblichkeit zu erlangen. Eisblüter beherrschen die Kunst der Versuchung. Ihre Macht liegt in der Dunkelheit. In Angst. Aber vor allem liegt sie darin, Begierde zu wecken. Das Blut eines Altvorderen kann, wenn es getrunken wird, den Altersprozess eines Menschen verlangsamen und Wunden heilen, die ihn sonst ins Grab bringen würden. Aber vor allem wird schon allein mit diesem Blut eine tiefe Sucht erzeugt. Wenn man in drei Nächten das Blut ein und desselben Vampirs trinkt, wird man ihm hörig. Kann sich seinen Befehlen nicht mehr widersetzen. Und ist dann in jeder Hinsicht sein Sklave.‹ Er klopfte auf die Pfeife, die in seiner Tasche steckte. ›Deswegen rauchen wir dieses Destillat, anstatt es zu trinken.‹

Vor den Mauern eines großen Anwesens hielten wir an. Schütze kreiste über uns am düsteren Himmel und behielt seinen Herrn wachsam im Auge. Der Frère klappte seinen Kragen hoch und holte tief Luft. ›Die Stadt stinkt nach Sünde.‹

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich meinen Meister. Grauhand mochte griesgrämig und grausam sein, aber dennoch hatte ich in den zurückliegenden sieben Monaten begonnen, ihn zu bewundern. Jeden Morgen las er uns eine Stunde lang aus den Testamenten vor. In seiner Gottesfurcht war er uns ein leuchtendes Vorbild, und sein Glaube war uns ein Trost. Obwohl ich ein Schwachblut war, hatte er mich deswegen niemals verurteilt. Er war für mich ein wenig wie ein Vater, und ich wollte, dass er stolz auf mich war.

De Coste läutete am Tor eine Glocke. Ihn bewunderte ich weit weniger. Zwar musste ich zugeben, dass er hart arbeitete – auch wenn er behauptete, dass San Michon bei der Verteidigung des Reiches keine bedeutende Rolle spielte, schien Aaron dennoch an unsere Aufgabe zu glauben. Trotzdem behandelte er mich wie Scheiße. In den sieben Monaten, die wir uns kannten, hatte er mich nicht einmal mit Namen angesprochen.

Er mochte noch so fleißig sein, aber ich hasste den Dreckskerl aus tiefstem Herzen.

Das Haus, das vor uns lag, schien das großartigste in ganz Himmelsfall zu sein. Früher einmal hatte das Grundstück sicherlich einen wunderschönen Garten gehabt, aber jetzt wucherten nur noch Pilze um die Stämme der verkümmerten Obstbäume. Eine herrliche Villa erhob sich in der Mitte des Anwesens, mit düsteren Säulen und geschlossenen Fensterläden. Dichter Nebel waberte über die Gärten.

Ein kurz gewachsener Kerl mit schöner Kleidung und gepuderter Perücke kam durch die weißen Nebelschleier auf uns zu, eine Laterne in der Hand. Hinter dem Tor blieb er stehen und nahm uns in Augenschein.

›Ist dies das Haus von Alane de Blanchet, Ratsherr von Himmelsfall?‹, fragte Grauhand.

›Ich bin sein bescheidener Diener. Und wer seid wohl Ihr, Monsieur?‹

Grauhand holte seine Pergamentrolle hervor. Die Augen des Bediensteten weiteten sich, als er den Klecks aus blutrotem Wachs erblickte, in den ein Einhorn und fünf gekreuzte Schwerter geprägt worden waren: das Siegel von Alexandre III ., Förderer des Ordens von San Michon, Herrscher des Reiches und Auserwählter Gottes.

›Mein Name lautet Frère Grauhand. Und ich muss mit deinem Herrn sprechen.‹

Fünf Minuten später standen wir in einem großen Salon und hielten Gläser mit schokoladenfarbenem Likör in Händen. Die Wände waren mit Kunstwerken geschmückt, und eine rein dekorative Ritterrüstung wachte über ein riesenhaftes Bücherregal. De Coste schien sich in dieser Umgebung absolut zu Hause zu fühlen. Aber ich hatte noch nie in meinem Leben solchen Reichtum gesehen. Allein die Aschenbecher dieses Mannes hätten ma famille ein Jahr lang ernährt.

Grauhand hatte seinen Kragen gelockert und den abgetragenen Dreispitz abgenommen. Wie immer staunte ich darüber, wie kalt die Züge unseres Meisters wirkten. Ich stellte mir stets vor, dass sich sein Gesicht, würde man es berühren, nicht lebendig, sondern wie Stein anfühlen würde. Dennoch beobachtete ich ihn wie ein Falke und nahm alles, was er tat und sagte, in mir auf. Das hier war die Jagd, erkannte ich. Und nichts wollte ich lieber sein als ein Jäger.

›Anwärter de Coste‹, sagte er nun leise. ›Wenn der Herr des Hauses erscheint, dann möchte ich, dass du die Gaben deines Blutes einsetzt. Wenn die Stimmung sich aufheizt, kühle sie ab. Wenn gute Laune gefragt ist, sorge dafür.‹

›Beim Blute, Meister.‹

›Anwärter de León …‹ Grauhand warf mir einen Blick zu. Deprimiert erkannte ich, dass ein Schwachblut hier nichts Entscheidendes beitragen konnte. ›Fass nichts an.‹

Die Tür zum Salon öffnete sich, und ein beleibter Mann trat ohne Umschweife ein. Er war Anfang vierzig, gut genährt und gut betucht, und eine reich bestickte grüne Ratsherrnschärpe zog sich über seine Brust. Aber obwohl es der damaligen Mode entsprochen hätte, trug er keine Perücke. Sein Haar war zerrauft und unzeremoniös zu einem dünnen grauen Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Augen waren die eines Mannes, der vergessen hat, wie Schlaf schmeckt, und seine Schultern bogen sich unter einem verborgenen Gewicht.

Ihm folgte ein weiterer Edelmann, etwas jünger. Er trug schwarze Kleidung und einen steifen roten Kragen, der die durchgeschnittene Kehle des Erlösers versinnbildlichte. Sein dunkles dichtes Haar war zu einem geraden Pagenkopf geschnitten, und er hatte eine Kette mit dem Zeichen des Rads um den Hals. Der Gemeindepriester von Himmelsfall, wie ich vermutete.

Unser Meister zog sich die Handschuhe aus und bot die Hand zum Gruß. ›Monsieur de Blanchet, ich bin Frère Grauhand, Bruder des Silberordens von San Michon.‹

Als der Ratsherr seine Hand ergriff, drückte Grauhand ihm die tätowierte Innenfläche auf den Handrücken. Er berührt ihn mit Silber , erkannte ich. Er prüft, ob er korrumpiert wurde .

›Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Frère‹, sagte der Ratsherr mit einer Stimme so dünn wie Papier.

›Dies sind meine Lehrjungen.‹ Grauhand nickte zu uns herüber. ›De Coste und de León. Wir sind auf hochherrschaftlichen Befehl hier, um dem Gerücht nachzugehen, dass eine Krankheit unter den guten Menschen von Himmelsfall umgeht.‹

›Der Muttermaid sei Dank‹, hauchte der Priester.

›Dann stimmt es also? Die Stadt wird von einem Übel heimgesucht?‹

›Diese Stadt ist verflucht , Frère‹, stieß der Ratsherr hervor. ›Ein Fluch, der bereits die herrlichsten Blumen aus unserem Garten gerissen hat. Und jetzt bedroht er alles, was uns auf dieser Welt noch verblieben ist.‹

Der Priester legte dem Ratsherrn tröstend die Hand auf die Schulter. ›Monsieur de Blanchets Frau, Claudette, liegt mit dieser Krankheit darnieder. Und sein Sohn …‹

De Blanchet verlor jegliche Kontrolle über sein Gesicht. ›Mein geliebter Claude …‹

›Bleibt stark, Monsieur de Blanchet‹, beschwor ihn der Priester.

›Habe ich nicht stets titanenhafte Stärke gezeigt, Lafitte?‹, fuhr ihn der Ratsherr an und stieß seine Hand beiseite. ›Die Stärke, die ein Vater eben aufbringen muss, um seinen eigenen Sohn unter die Erde zu bringen?‹

De Blanchet sank auf seiner samtenen Chaiselongue zusammen und ließ den Kopf hängen. Grauhand wandte sich an den jungen Priester, und seine kalten grünen Augen glitten zu dem silbernen Rad an dessen Hals. ›Euer Name lautet Lafitte?‹

Oui , Frère. Von Gnaden Gottes und des hohen Pontifex Benét bin ich Priester von Himmelsfall.‹

›Wie lange leidet Eure Gemeinde bereits unter dieser Krankheit, Vater?‹

›Der junge Claude ging kurz vor dem Fest von San Guillaume von uns. Vor beinahe zwei Monaten.‹ Lafitte machte das Zeichen des Rads. ›Das geliebte Kind. Er war erst zehn Jahre alt.‹

›Er war der Erste, der starb?‹

›Aber nicht der Letzte. Seither ist mindestens ein Dutzend der Besten dieser Stadt verblichen. Und ich höre Gerüchte aus den ärmeren Vierteln. Am Fluss breitet sich eine zehrende Seuche aus.‹ Der junge Priester presste die Lippen zusammen. ›Und noch anderes höre ich flüstern. Dass Menschen des Nachts verschwinden. Dass Hexenkunst und Schatten erstarken. Ich fürchte, diese Stadt ist verflucht, werter Frère.‹

›Und jetzt ist auch Madame de Blanchet befallen?‹

›Als hätte mich der Himmel noch nicht genug geprüft‹, flüsterte der Ratsherr.

›Bringt uns zu ihr‹, befahl Grauhand.

De Blanchet und Père Lafitte führten uns eine Wendeltreppe im Herzen des Anwesens empor, und obwohl ich versuchte, nur auf Grauhand zu achten, überwältigte mich doch die Opulenz, die hier überall herrschte. Die Hungersnot hatte das Nordlund in den Jahren nach dem Tagestod schwer gebeutelt. Ganze Dörfer waren ausgelöscht worden, und die Städte waren von Bauern, Winzern und ihresgleichen geradezu überschwemmt worden – Menschen, deren Lebensgrundlage mit dem schwindenden Sonnenlicht vernichtet worden war. Nur weil Herrscherin Isabella ihren Gatten beschworen hatte, seine Kornspeicher zu öffnen, hatte das Volk in jenen Jahren überlebt, bevor man sich in den neuen Umständen zurechtgefunden hatte. Und während dieser ganzen Zeit hatte dieser Mann wie ein Fürst gelebt, umgeben von seinen Kunstgegenständen, dem polierten Mahagoni und den langen Reihen ungelesener Bücher.

Doch dieser ganze Reichtum hatte seinen Sohn nicht retten können.

Als wir vor einer Flügeltür angekommen waren, zögerte de Blanchet. ›Meine Frau ist … nicht gekleidet, um Besucher zu empfangen.‹

›Wir sind Diener Gottes, Monsieur de Blanchet‹, erwiderte Aaron. ›Habt keine Angst.‹

Ich hörte die besondere Betonung in de Costes Stimme und sah ein raubtierhaftes Schimmern in seinen blassblauen Augen – die Gabe des Hauses Ilon. Die von Ilon waren unter den Blutsippen als die Flüsterer bekannt, und ihre Fähigkeit, die Gefühle anderer zu beeinflussen, war unvergleichlich. Aaron hatte sie von seinem Vampirvater geerbt, und während er sprach, wurden de Blanchets Gesichtszüge weich. Mit einem zustimmenden Murmeln stieß der Ratsherr die Türen auf. Grauhand nickte de Coste zu und betrat ebenfalls das Gemach, und ich schloss mich ihnen an.

Ein Kamin, in dem ein mächtiges Feuer prasselte, tauchte den Raum in rötliches Licht. Glastüren führten auf einen steinernen Balkon, aber die Vorhänge waren beinahe ganz geschlossen. Ein marmorner Kaminsims. Abgesetzt mit Gold. Ich roch Schweiß, Krankheit und getrocknete Kräuter. Und in einem herrlichen Himmelbett, gestützt von einem Berg aus Kissen, ruhte eine Frau, die an der Schwelle des Todes zu stehen schien.

Ihre Haut sah aus wie Wachspapier, und ihre Brust hob und senkte sich so schnell wie die eines verletzten Vogels. Obwohl in dem Boudoir eine unangenehme Wärme herrschte, war ihr Nachtkleid bis unter das Kinn zugeschnürt und ein ganzer Stapel Decken über sie gebreitet. Sie erschauerte im Schlaf.

Grauhand ging durch den Raum und legte den Siebenstern seiner Handinnenfläche auf ihre fahle Stirn. Die Frau stöhnte laut auf, aber ihre Augen blieben geschlossen.

›Wie lange ist sie schon in diesem Zustand?‹

›Seit sieben Nächten‹, antwortete de Blanchet. ›Ich habe jede Tinktur versucht. Jedes Heilmittel. Und dennoch geht es meiner Claudette mit jedem Tag schlechter, so wie es zuvor auch mit Claude geschah. Ich fürchte, dass meine Frau meinem Sohn schon bald ins Grab folgen wird.‹ Der Ratsherr blickte zum Himmel und schüttelte die geballten Fäuste. ›Welche Sünde habe ich begangen, dass du mir eine solche Strafe auferlegst?‹

Grauhand zündete einen kleinen Strauß getrockneter Silberglöckchen an und legte ihn auf den Kaminsims, raunte ein Gebet und sah zu, wie das Kraut verbrannte. Dann griff er in seinen Taschengurt und streute mehrere Handvoll eines metallischen Pulvers rund um das Bett, um dann das entstandene Muster zu betrachten.

›Was ist das, Frère?‹, fragte der Priester.

›Metallspäne. Das Faenvolk hinterlässt Fußspuren, die kein kaltes Eisen berühren mag. Sagt mir, Monsieur de Blanchet, ist euch aufgefallen, ob das Farbenspiel Eurer Kaminfeuer rund um Mitternacht einen blauen Schimmer bekam? War vielleicht am Morgen die Milch sauer, oder krähten die Hähne bei Sonnenuntergang?‹

›… nein, Frère.‹

›Sammelten sich vielleicht ungewöhnlich viele schwarze Tiere rund um das Herrenhaus? Schwarze Katzen, Ratten oder dergleichen?‹

›Nein, das haben wir nicht beobachtet.‹

Grauhand schürzte die Lippen. Ich wusste, dass es ihm darum ging, bestimmte Möglichkeiten auszuschließen – ob Hexenkunst am Werk war, das Faenvolk oder die Diener des Gefallenen. ›Ihr müsst entschuldigen, Monsieur. Aber ich muss Eure Frau untersuchen. Ich fürchte, das könnte für Euch ein schwer erträglicher Anblick sein. Daher würde ich es verstehen, wenn Ihr lieber draußen warten möchtet.‹

›Ich werde nichts dergleichen tun‹, gab der Ratsherr zurück und richtete sich auf.

›Wie Ihr wollt. Aber ich warne Euch eindringlich davor, meine Untersuchung zu unterbrechen.‹

Aaron trat neben den Ratsherrn und sprach beruhigend auf ihn ein. Wieder sah ich den raubtierhaften Schimmer in seinen Augen und konnte beobachten, wie de Blanchets Widerstand schwand. Nicht zum ersten Mal beneidete ich die anderen Bleichblüter. Um die Fähigkeiten, die ihnen ihre Väter vererbt hatten. Um die Kunst, die Tiere zu beherrschen. Um die Macht über den Willen anderer. Und hier stand ich und konnte nichts anderes beitragen, als dumm zu gucken.

Grauhand trat zu Madame de Blanchet und löste die Schnürung am Kragen ihres Nachthemds. Der Ratsherr versteifte sich, Père Lafitte runzelte die Stirn, aber keiner der beiden sagte etwas, als Grauhand die Kehle der Frau betastete. Als er dort alles in Ordnung fand, untersuchte er ihre Handgelenke und murmelte leise vor sich hin.

Ich stand an einer der Balkontüren, und sosehr es mich auch verlangte, Grauhand genau zuzusehen, erschien es mir doch unanständig, eine schlafende Frau zu begaffen, die nur ihr Nachtgewand trug. Daher richtete ich den Blick zu Boden. Und dort, zwischen meinen Stiefeln, entdeckte ich einen winzigen dunklen Fleck auf den Dielen.

›Meister Grauhand …‹

Er wandte sich vom Bett ab und sah, wohin ich zeigte.

›Blut.‹

Grauhand nickte und zog sich seine Handschuhe wieder an. Und ohne viel Federlesens packte er das Nachthemd der Frau und riss es vorn auf.

Père Lafitte protestierte laut, und der Ratsherr trat zum Bett. ›Jetzt hört einm…‹

›Ich bin hier auf Befehl von Herrscher Alexandre persönlich‹, fuhr Grauhand ihn an. ›Falls das Leiden Eurer Frau die Ursache hat, die ich befürchte, dann könnte es sein, dass ich ihr Leben retten kann. Aber nur ohne Rücksicht auf den Anstand. Also entscheidet Euch, Monsieur, was Euch mehr bedeutet!‹

De Coste legte dem Ratsherrn die Hand auf den Arm. ›Es ist alles in Ordnung, Monsieur.‹ Und obwohl er vor Wut bebte, gab de Blanchet nach. Es zeugte von Aarons Künsten, dass der Mann noch keinen Zornesausbruch bekommen hatte – wenn jemand meine Frau vor meinen Augen halb ausgezogen hätte, ich hätte ihm den verdammten Schädel gespalten.

›Anwärter de León, hole die Lampe weiter hierher.‹

Nun hielt ich die Lampe über Madame de Blanchet. Grauhand zog das zerrissene Nachthemd auseinander und begann, den schlaffen nackten Körper der Frau einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Aber er hatte kaum die behandschuhte Hand auf die Brust der Kranken gelegt, als der Ratsherr nun doch aus der Haut fuhr.

›Das ist eine Beleidigung!‹

Aaron packte de Blanchet am Arm. ›Beruhigt Euch, Monsieur.‹

Père Lafitte trat vor. ›Bitte, Frère, ich muss darauf bestehen …‹

Ich wandte mich dem Priester zu und bedeutete ihm, still zu sein. Der Ratsherr brüllte nach seinen Dienern, und der Raum drohte im Chaos zu versinken, als Grauhands lauter Ruf die Luft zerriss.

AUFHÖREN !‹

Unser Meister sah de Blanchet an, und Abscheu verdunkelte seine Stimme.

›Kommt, Monsieur, und seht.‹

De Coste lockerte seinen Griff, und nachdem de Blanchet seine Jacke mit ungehaltenem Schnauben glatt gezogen hatte, trat er an das Bett seiner Frau. Grauhand deutete auf etwas, während ich die Laterne höher hob. Und dort, auf der dunklen Haut von Madame de Blanchets rechter Brustwarze, sahen wir zwei kleine Wunden.

›Es gibt noch weitere zwischen ihren Beinen‹, sagte Grauhand. ›Kaum zu erkennen. Aber frisch.‹

›Krankheitsflecken?‹, flüsterte der Priester.

›Bissspuren.‹

›Was im Namen des Allmächtigen …‹, hauchte der Ratsherr.

›Kamen zu der Zeit, als Euer Sohn erkrankte, Besucher nach Himmelsfall?‹

Der Ratsherr starrte noch immer unverwandt auf die winzigen Wunden an der Brust seiner Frau, und das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Grauhand schnippte mit den Fingern, um sich wieder seiner Aufmerksamkeit zu versichern.

›Monsieur? Gab es Besucher?‹

›Wir leben hier … wir leben in einer Bergarbeiterstadt, Frère. Hier kommen ständig Reisende an …‹

›Irgendeine ungewöhnliche Person, mit der Claude eventuell in Kontakt gekommen sein könnte? Wanderer oder fahrende Künstler? Leute, die kommen und gehen, ohne großen Verdacht zu erregen?‹

›Ganz sicher nicht. Einen solchen Umgang hätte ich meinem Sohn niemals gestattet. Ich … ich glaube, dass er Zeit mit dem kleinen Luncóit verbrachte, während dessen Mutter ihre Angelegenheiten außerhalb der Stadt erledigte. Er war etwas älter als Claude, aber ein anständiger Junge aus gutem Hause.‹

›Der kleine Luncóit‹, wiederholte Grauhand.

›Adrien‹, bestätigte der Ratsherr. ›Seine Mutter war nach Himmelsfall gekommen, um eine weiter oben in den Gottesend-Bergen gelegene Mine zu begutachten. Sie stammt aus einer alten Bergbaufamilie in Elidaen. Den größten Teil ihrer Zeit war sie damit beschäftigt, Land vor den Toren der Stadt genauer in Augenschein zu nehmen, und daher leistete Adrien Claude Gesellschaft, während seine Mutter ihren Geschäften nachging. Marianne hieß sie. Eine faszinierende Frau.‹

Der junge Priester verschränkte die Arme, und seine Miene verdunkelte sich.

›Ihr fandet sie weniger faszinierend, Vater?‹, fragte Grauhand.

›Das … das zu behaupten, wäre ihr gegenüber ungerecht‹, sagte Lafitte. ›Zugegebenermaßen bin ich ihr nie begegnet.‹

›Nicht einmal bei Gottesdiensten?‹

›Sie arbeitete, sogar am prièdi ‹, antwortete der Priester missbilligend. ›Obwohl sie jede Menge Zeit für Soireen und dergleichen zu haben schien, nahm sie an keiner Messe teil.‹

Grauhand sah de Blanchet offen ins Gesicht.

›Wo habt Ihr Euren Sohn begraben, Monsieur?‹«