»›W as im Namen des Vaters, der Muttermaid und aller Sieben Märtyrer geht hier vor sich?‹
Ich stand im Getauften Schmied, die Hände mit Asche und Blut verkrustet. Bellamy und Rafa saßen zusammengesunken am Feuer. Chloe stand neben Dior, und Saoirse wischte das Blut von Gnade ab. Phoebe war den Elenden gefolgt; ob sie sich daranmachen würde, einen nach dem anderen zu erledigen, oder ob sie nur dafür sorgte, dass sie nicht wiederkamen, wusste ich nicht. Aber ein paar zerlumpte Leichen waren mir gerade herzlich egal.
Stattdessen hatte ich mich, Flammenzunge in der Hand, vor Chloe aufgebaut. Meine alte Freundin mied meinen Blick, während sie die Wunden an Diors Arm und Hals versorgte. Das Hemd und die Krawatte des kleinen Dreckskerls waren blutgetränkt, aber der Junge starrte mich so trotzig an wie eh und je.
›Nun?‹, herrschte ich sie an. ›Spuck’s aus, Chloe. Was habe ich da gerade miterlebt?‹
Du wissest wohl, was wir b-bezeugen konnten, Gabriel.
Ich warf dem Schwert einen bösen Blick zu und biss die scharf zugespitzten Zähne zusammen.
Ungläubig magst du sein, aber dennoch hast du Augen, Augen um zu sehen. Ein Wunder …
Mit einer raschen Bewegung stieß ich die Klinge in die Scheide und brachte ihre Stimme zum Schweigen. Chloe betuttelte Dior noch immer wie eine Glucke und wickelte Verbände um seine Wunden, bis der Junge das Gesicht verzog und ihr mit einer Handbewegung bedeutete, ihn nun in Ruhe zu lassen. ›Mir geht es gut, Schwester Chloe. Das ist die Wahrheit, bei Gott.‹
Chloe trat ein wenig zurück und stemmte die blutigen Hände in die Hüften. Eine abgrundtiefe Angst lag in ihren Augen. ›Gesegnete Muttermaid, das war zu knapp, Dior. Ich hatte dir gesagt, du sollst zur Kathedrale laufen.‹
›Und ich hatte Euch gesagt‹, erwiderte der Junge, ›dass ich meine Freunde nicht im Stich lasse, damit sie meine Schlachten schlagen.‹
›Du kannst dich nicht auf diese Weise aufs Spiel setzen! Du bist zu wichtig !‹
›Wieso?‹, schaltete ich mich ein.
Endlich sah Chloe mich an. Geheimnisse hinter ihrem Mund verschlossen.
›Verdammt nochmal, Chloe Sauvage, sag etwas! Du bist doch diejenige, die mich in diese arschgefickte Abfolge von Scheißerlebnissen hineingezogen hat, und das geheimnisvolle Schweigen geht mir allmählich auf den Sack! Wenn du meine Hilfe willst, dann fang mal lieber an zu singen, sonst überlasse ich deinen ganzen Trupp den verdammten Toten!‹
Die heilige Schwester ließ sich im Schneidersitz auf den Boden sinken und sah sich im Raum um. Saoirse schüttelte den Kopf und starrte schwarzgrimmig vor sich hin. Bellamy leckte sich die blutfleckigen Lippen und nickte einmal kurz. Rafa sagte nichts, sondern sah nur Dior an.
Der Junge hielt seinen Blick auf mich gerichtet und verzog leicht das Gesicht, während er wieder in seinen hübschen Gehrock schlüpfte. Als seine Augen die Klinge an meinem Gürtel streiften, erkannte ich widerwilligen Respekt – er wusste, dass sie alle ohne mich vermutlich tot gewesen wären. Aber dann wanderte sein Blick weiter zu der Pfeife in meinem Mantel und der roten Färbung meiner Augen, und der Respekt wich derselben Verachtung, die er mir bereits in der Kirche gezeigt hatte.
Schlechte Männer begreifen nie, wann sie die Ungeheuer sind.
Dior sah die heilige Schwester an, und dann endlich nickte er zögernd.
›… Erinnerst du dich an die erste Nacht, in der du mich in der Bibliothek im Schwertkampf unterrichtet hast, Gabriel?‹
Chloes Worte ließen ein Meer von Zeit vor mir auferstehen, ein Meer so tief und weit, dass ich das jenseitige Ufer kaum erkennen konnte. Die Strömung war schwarz und gefährlich und drohte mich in die Tiefe zu reißen, als ich mir in Erinnerung rief, wie wir beide im buntglasgefärbten Licht miteinander gekämpft hatten, während Astrid zeichnend am Fenster saß. Es war ein so schlichter, einfacher Moment, so unbefleckt von Blut und Tod und Sinnlosigkeit, dass mir die Brust eng wurde.
Beim heiligen Gott, wir waren noch Kinder …
›Ich erinnere mich.‹
›Wir haben den Kampf geübt. Dann haben wir gelesen. Dann haben wir geredet. Du, ich und Asti.‹
›Was wäre das für eine Welt‹ , sagte ich lächelnd, ›würde sie nicht voll und ganz von sturen alten Männern beherrscht.‹
Sie lächelte ebenfalls, und ich konnte das Mädchen, das sie damals gewesen war, noch in ihren Augen wiederfinden. ›Und dann?‹
›… Dann kam der Stern‹, fiel es mir endlich wieder ein. ›Die Sternschnuppe.‹
Sie nickte mit leuchtenden Augen. ›Damals sagte ich dir schon, dass es ein glückverheißendes Zeichen sein musste. Dass Gott große Pläne mit uns hatte. Und ich hatte recht. Aber abgesehen davon, dass wir drei uns begegnet waren, bezeichnete der Stern noch einen viel größeren Triumph. Einen, dem ich erst nach sechzehn langen Jahren endlich auf die Spur kam. Ein Wunder , Gabriel.‹
Chloe deutete auf den Jungen, der verletzt und blutig an der Feuerstelle stand.
›Und da ist er.‹
›Verdammte Kacke, wovon redest du, Chloe?‹
›Wie beschlagen seid Ihr, was die Testamente angeht, Chevalier?‹, fragte Bellamy.
Ich betrachtete den Wahrsänger, der zusammengesunken am Feuer saß. ›Verdammt viel besser als du, würde ich mal vermuten.‹
›Und was wisst Ihr über die Aavsenct-Irrlehre?‹, fragte Rafa.
Stirnrunzelnd kratzte ich mich am Kinn, an dem das Blut allmählich trocknete. ›Ich glaube … ich erinnere mich da an ein Buch? In der Verbotenen Abteilung von San Michon?‹
›Hier gibt es eine Geschichte zu erzählen, Silberwächter.‹ Rafa nickte dem Sänger zu. ›Das sollten wir unserem Experten überlassen.‹
Ich sah kurz zu Bellamy hinüber. ›Du willst jetzt nicht etwa singen, oder?‹
Der noch sehr erschöpfte Bellamy hob hoffnungsvoll den Kopf. ›Soll ich?‹
Den grimmigem Blick auf Chloe gerichtet, durchstöberte ich meine Satteltaschen, die an der Tür standen. Nachdem ich eine der Wodkaflaschen hervorgeholt hatte, zog ich mir einen Stuhl näher ans Feuer. ›Erzählen reicht.‹
Der Wahrsänger ließ sich von meiner knappen Antwort nicht beirren und strich sich die perfekten Locken zurück. Dann ließ er den Blick durch den Raum schweifen und holte tief Luft, um sich dann mit der Grandeur eines Jungspunds, dem seine Silberzunge schon hundert Kerben in seinem Bettpfosten eingebracht hat, in die Erzählung hineinzustürzen.
›Vor etwa tausend Jahren kam irgendwo im Nordlund ein Junge zur Welt. Sein Name ging im Lauf der Zeit verloren, aber wurde als der Erlöser bekannt. Als er zum Manne reifte, wurde er ein Wanderprediger, der überall die Kunde verbreitete, es gäbe nur einen Gott. Dabei erklärte er nicht nur, die alten Götter seien eine Lüge, er behauptete auch, der Sohn dieses einen wahren Gottes zu sein. Er vollbrachte Wunder. Machte die Toten lebendig. Stellte schließlich auch ein Heer auf. Als es nach Westen marschierte, verbreitete er seinen Einen Glauben mit dem Schwert. Es folgte ein blutiger Konflikt, der viele Jahrzehnte dauerte.‹
›Scheiße, Bouchette, du erzählst mir nichts, was ich nicht …‹
›Still, Gabriel‹, zischte Chloe. ›Hör zu.‹
Bellamy tauchte jetzt ganz in seine Geschichte ein. ›Der Erlöser wurde von seinen Aposteln betrogen, und die Priester der Alten Götter flochten ihn aufs Rad und ermordeten ihn. Aber seine letzte treue Anhängerin, die Jägerin Michon, fing sein Lebensblut in einem silbernen Kelch auf, bevor er starb. Sie führte den Krieg im Namen ihres Erlösers fort, bis sie selbst in einer Schlacht den Märtyrertod fand. Aber die Ideale des Einen Glaubens hatten Bestand. Und Jahrhunderte später vereinten der Kriegsherr Maximille de Augustin und seine famille fünf Königreiche zu einem Großreich, und zwar unter dem Einen wahren Glauben.‹
Mit einem Seufzer setzte ich die Flasche an die Lippen. Das war alles nichts Neues für mich.
›Pass auf, Gabriel‹, drängte Chloe. ›Was du jetzt hören wirst, könnte für dich und alle, die du liebst, den Tod auf dem Rad bedeuten. Das hier ist die finsterste Ketzerei, die man im ganzen Reich begehen kann.‹
Ich nahm einen großen Schluck. ›Dann mal raus damit.‹
Père Rafa beugte sich vor, legte die Fingerspitzen beider Hände zu einem Dach zusammen und führte sie an die Lippen. Dann sah er Dior an, und ich erkannte seine Angst – als ob es schon allein eine Sünde bedeutete, diese Worte auszusprechen.
›Chloe und ich haben diese Geschichte über viele Jahre zusammengefügt, Silberwächter. Aus Bruchstücken an Wissen. Winzig kleinen Wahrheitsbröckchen, die wir aus einem Berg von Lügen und dem Gekritzel Verrückter herausfilterten. Bis heute wissen wir noch nicht einmal die Hälfte. Aber eins ist sicher. Michon zählte nicht nur zu den Aposteln des Erlösers.‹
Der Alte stieß einen Seufzer aus, der aus dem Innern seiner Knochen zu kommen schien.
›Sie war seine Geliebte.‹
Falls der Priester erwartet hatte, mit diesem Schuss einen Treffer gelandet zu haben, dann musste ich ihn enttäuschen. ›Gottes eingeborener Sohn hat sich ebenso gern mal mit Mädchen amüsiert wie wir alle.‹ Ich zuckte die Achseln. ›Na und?‹
›Nun wurden die Testamente ursprünglich in Alt-Talhostisch niedergeschrieben, Silberwächter. Und im Alt-Talhostischen sind die Wörter für Lebenssaft und Lebenssaat sehr ähnlich: Aavsunc. Aavsenct. ‹
›Michon fing nicht den Lebenssaft des Erlösers in irgendeinem Kelch auf, Gabriel.‹ Chloe legte sich die Hand auf den Bauch. ›Sondern seine Saat, seine Essenz in sich selbst. Und neun Monate nach seinem Tod brachte sie sein Kind zur Welt. Eine Tochter. Genannt Esan.‹
Überlegend verengte ich leicht die Augen. ›Das ist auch ein alt-talhostisches Wort. Es heißt gläubig …‹
Chloe nickte und raunte: ›Esani .‹
›Un gläubig‹, flüsterte ich und betrachtete die Ader, die über mein Handgelenk verlief. ›Was zur Hölle …? ‹
›Eine direkte Nachfahrin von Gottes Sohn‹, sagte Rafa leise. ›Aber es verging kein Jahr, da war ihre Mutter tot. Und da man um ihr Leben fürchtete, brachten Esans Beschützer das Mädchen nach Talhost. Im Lauf der Zeit hatte sie selbst Kinder. Die Abkömmlinge des Erlösers ließen oft Zeichen von Göttlichkeit erkennen, hielten aber ihre Abstammung geheim. Sie begründeten eine Dynastie, und irgendwann zettelten sie einen Aufstand gegen den Herrscher des Großreichs an. Und behaupteten, sie hätten ein göttliches Anrecht auf den Fünffachen Thron.‹
›Die Aavsenct-Irrlehre‹, murmelte ich.
›So wurde sie vom Pontifex des Einen Glaubens genannt‹, sagte Chloe. ›Die Vorstellung, der Erlöser hätte eine sterbliche Geliebte gehabt, wurde zum Sakrileg erklärt und die Nachfahren Esans als Ketzer gebrandmarkt. Und bei den anschließenden Säuberungen wurde ihre Linie so gut wie ausgelöscht – ironischerweise von der Kirche, die ihre Stammmutter Michon einst mitbegründet hatte.‹
›Alle Aufzeichnungen dazu wurden aus den Kirchenarchiven entfernt‹, sagte Rafa. ›Nur hier und da blieb ein Schnipsel übrig. Esans Blutlinie wurde immer schwächer, und ihren Abkömmlingen ging alles Wissen über ihre Herkunft verloren. Das Blut wurde dünner. Bis die Linie beinahe erlosch.‹
›Beinahe.‹
Chloe sah Dior an, dessen Silhouette sich vor den Flammen abhob.
›Aber der Komet, den wir damals sahen? Dieser Komet markierte Diors Geburt. Rafa und ich haben fast ein Jahr gesucht. Sind allen möglichen Geschichten über Magik, Hexenkunst, Zauberey nachgegangen. Wir hatten schon fast die Hoffnung aufgegeben, als wir von einem Jungen hörten, dessen Blut Wunder wirkte. Das sogar die Menschen von der Schwelle des Todes zurückholte.‹
›Beim verfickten Erlöser‹, hauchte ich.
›Nicht lästern‹, sagte Chloe mit einem schwachen Lächeln.
›Du willst mir sagen, dieser dürre kleine Wichsfleck …‹
›Ist der letzte bekannte Spross aus Esans Linie. Dior weiß nicht, wo der Gral ist, Gabriel. Er ist der Gral. Der Kelch mit dem Blut des Erlösers.‹
›Aus heil’gem Kelch scheint heil’ger Glanz‹ , sagte Rafa.
›Durch treue Hand wird die Welt wieder ganz‹ , raunte Bellamy.
›Vor der Sieben Märtyrer Angesicht‹ , flüsterte Chloe.
Dior fing meinen Blick und zuckte die Achseln. ›Ein bloßer Mensch die Nacht vernicht’.‹ Das Knacken der Flammen war der einzige Laut, der nun die Stille durchdrang. Mir hämmerte der Puls an den Schläfen. Das alles klang nach düsterstem, gröbstem Irrsinn. Die Kühle der Luft erfüllte meine Brust, und ich erhob mich, so unvermittelt, dass Saoirse das Kinn hob und nach ihrer Axt griff. Chloe starrte mich mit großen Augen an; Rafa hatte seine Hand in seinen Ärmel geschoben. Aber ich tigerte nur hin und her, fuhr mir durchs Haar und blieb schließlich vor dem Jungen stehen – diesem blassen Streifen Möwenkacke mit seinem geklauten Gehrock und den abgestoßenen Schuhen. Er sah wie alles Mögliche aus, aber nicht wie die Erlösung der ganzen Welt. Und doch hatte ich es mit eigenen Augen gesehen . Wie diese Ungeheuer in Flammen aufgingen, als sein Blut ihre Lippen berührte. Wie seine roten Hände Rafa und Bellamy von der Schwelle des Todes zurück ins Leben gerufen hatten. So tiefe Wunden, wie die zwei sie erlitten hatten, mochten vielleicht geheilt werden, wenn man das Blut eines Altvorderen trank, aber Dior war ein Junge, der lebte und atmete.
Wie kann das sein? , grübelte ich.
Konnte das sein?
Langsam ging ich auf Dior zu, der mich einfach nur beobachtete. Ein paar Zoll vor ihm blieb ich stehen, und er sah, ohne mit der Wimper zu zucken, zu mir auf. Ich fühlte Saoirses Blick in meinem Rücken, und Bellamy fasste jetzt nach seiner Klinge. Aber ich senkte meine Hand nur zu der Flasche, die zwischen mir und dem Jungen stand. Dann trank ich einen Schluck, drei, vier, bis meine Augen von dem beißenden Geschmack zu brennen begannen. Und nachdem ich die leere Pulle ins Feuer geschleudert hatte, sagte ich das Schlauste, was mir zu der Zeit einfallen wollte.
›Ja, leck mich am Arsch …‹«